Noun drug research 3827738

Wie lassen sich Langzeitfolgen oder seltene Nebenwirkungen von zugelassenen Arzneimitteln entdecken?

Präklinische und klinische Versuche erkennen die meisten Nebenwirkungen eines neuen Arzneimittels vor seiner Zulassung. Gewisse Nebenwirkungen, die sehr selten sind oder nur im Praxisalltag zum Vorschein kommen, können aber erst nach Marktzulassung erkannt werden. Aus diesem Grund ist eine Nachuntersuchung («Pharmakovigilanz») neuer Präparate in der Schweiz vorgeschrieben.

Alle Fachleute, die Medikamente abgeben, verschreiben oder verabreichen dürfen, sind dazu verpflichtet, schwerwiegende oder bisher nicht bekannte unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu melden. Je nach Risiko der Meldungen werden Massnahmen durch das Schweizer Heilmittelinstitut Swissmedic eingeleitet, die bis zum vollständigen Marktrückzug eines Medikaments führen können.

Präklinische und klinische Studien können die meisten Nebenwirkungen frühzeitig erkennen. Bei sehr seltenen Nebenwirkungen kann es jedoch vorkommen, dass diese erst nach der Marktzulassung erkannt werden, weil die Zahl der untersuchten Tiere und Menschen in den Versuchen nicht gross genug war. Nebenwirkungen können auch dann übersehen werden, wenn Medikamente in Situationen eingesetzt werden, die vorher weder präklinisch noch klinisch getestet wurden – beispielsweise mit anderen Medikamenten im Alltag zusammen. Aus diesen Gründen wird die Wirkung von Medikamenten auch nach Marktzulassung weiter untersucht [1].

Diese Nachuntersuchung nach Markteinführung ist in der Schweiz vorgeschrieben und wird auch als klinische Phase IV oder «Pharmakovigilanz» bezeichnet. Diese Überwachung wird so lange aufrechterhalten, wie ein Medikament in der Schweiz verkauft wird. Die Aufsichtsrolle übernimmt dabei wie bei der Zulassung von Medikamenten das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic in Zusammenarbeit mit regionalen Pharmakovigilanz-Zentren [2]. Die Meldepflicht gilt für alle Fachleute, die zum Umgang mit Medikamenten berechtigt sind (insbesondere Ärzt*innen und Apotheker*innen) sowie pharmazeutische Firmen, die Arzneimittel herstellen. Sie sind verpflichtet, schwerwiegende oder in klinischen Tests nicht erfasste Nebenwirkungen zu melden. Patient*innen können unerwünschte Arzneimittelwirkungen auch direkt melden [3].

Nach einer Meldung wird diese hinsichtlich neuer Risiken überprüft. Falls solche identifiziert werden und Handlungsbedarf besteht, kann Swissmedic verschiedene Massnahmen einleiten, um die Sicherheit für Patient*innen zu gewährleisten. Diese können von der Anpassung der Verschreibungsempfehlungen bis hin zum Rückzug des Medikaments vom Markt reichen [4].

Ein bekanntes Beispiel für ein Medikament, bei dem eine Nebenwirkung erst nach der Marktzulassung erkannt wurde, ist das Arthritis-Medikament «Rofecoxib» (bekannter unter dem Markennamen «Vioxx»). Dieses erhöhte bei einem kleinen Teil der Patient*innen das Risiko für chronische Herzkrankheiten. Erkannt wurde diese Nebenwirkung jedoch erst, nachdem Millionen von Menschen damit therapiert worden waren, weil die Zahl der Probanden in den klinischen und die Zahl der Tiere in den präklinischen Versuchen zu gering war, um derart seltene Nebenwirkungen zu erkennen. Das Medikament wurde deshalb zurückgezogen [5].

Die grosse Bedeutung der Marktüberwachung von Medikamenten wurde spätestens in den 60er Jahren mit dem Einsatz des Medikaments «Contergan» deutlich. Contergan wurde gegen Schlafstörungen eingesetzt und auch Schwangeren verschrieben. Weil der darin enthaltene Wirkstoff Thalidomid jedoch schädigende Wirkungen auf Unbeborene hatte, sorgte dies für Missbildungen in Zehntausenden von Neugeborenen. Diese Tragödie hat zum einen dafür gesorgt, dass Regulierungsbehörden seither mehr und detailliertere Versuche mit Tieren vorschreiben, bevor ein Medikament bei Menschen zum Einsatz kommen darf [6]. Zum andern hat es auch dafür gesorgt, dass Pharmakovigilanz zum Standard bei zugelassenen Medikamenten geworden ist [7]. Eine sorgsame Marktüberwachung kann nämlich dafür sorgen, dass mögliche Zusammenhänge zwischen Arzneimitteln und gesundheitlichen Beeinträchtigungen schneller erkannt werden, als dies bei Thalidomid der Fall gewesen ist.

Das ist ein Beitrag des Themendossiers «Forschung mit Menschen (FAQ)».

Hier geht es zur Dossierübersicht.

Referenzen

[2]

Swissmedic. Humanarzneimittel. Marktüberwachung. Pharmacovigilance. https://www.swissmedic.ch/swis...

[3]

Swissmedic. Humanarzneimittel. Marktüberwachung. Pharmacovigilance. Patientinnen und Patienten. https://www.swissmedic.ch/swis...

[4]

Swissmedic (2011). Stellungnahme der Swissmedic zu Medienberichten betreffend die französische Heilmittelbehörde Afssaps im Zusammenhang mit dem Arzneimittel Mediator (Mediaxal), https://www.swissmedic.ch/swis...

[5]

Siehe dazu die Anmerkungen zu Behauptung A13 im Faktencheck Tierversuche von Reatch. https://reatch.ch/publikatione...

[6]

Siehe dazu das Themendossier «Tierversuche in der Schweiz (FAQ)»

[7]

Ridings JE. The thalidomide disaster, lessons from the past. Methods Mol Biol. 2013;947:575-86. doi:10.1007/978-1-62703-131-8_36 . PMID: 23138926 .

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Autor*innen

Autor*in

Team Entwicklung & Qualität und Dossierverantwortlicher "Verantwortungsvolle Tierversuche"

Jonas Füglistaler schloss einen Master in Biotechnologie an der ETH Zürich und einen zweiten in Biostatistik an der UZH ab. Seither arbeitet er im pharmazeutischen R&D im IT Bereich. Sein besonderes Interesse gilt neuen Erkenntnissen aus verschiedenen wissenschaftlichen Diziplinen, die zum Fortschritt der Medizin beitragen.

Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.

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