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Faktencheck: «All you need to know in 33 facts» von «Vivisection Information Network»

Eine Sammlung von Behauptungen über Tierversuche aus Grossbritannien, die auch in Debatten in der Schweiz immer wieder bemüht werden.

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Antworten auf häufige Fragen zur Forschung mit Tieren und Menschen finden Sie in den Themendossiers «Tierversuche in der Schweiz (FAQ)» und «Forschung mit Menschen (FAQ)».

Das «Vivisection Information Network» ist eine (nicht mehr aktualisierte) Seite radikaler Tierversuchsgegner. Die Unterseite «All you need to know in 33 facts» wird von den Initianten der Initiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot» verlinkt und dient an verschiedenen Stellen als Grundlage für die Argumentation. Die vom «Vivisection Information Network» gesammelten Informationen sind oft jahrzehntealt und damit unabhängig vom ursprünglichen Evidenzgehalt zumeist veraltet.

Behauptung A1: Weniger als 2% aller menschlichen Krankheiten könne man in Tieren beobachten.

Originaltext

«Less than 2% of human illnesses (1.16%) are ever seen in animals. Over 98% never affect animals.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird auf Seite 6 eines Buch des Tierversuchsgegners Tony Page von 1997 verwiesen (Page 1997) [1].

Was stimmt?

Die Prozentzahl beruht nicht auf einer systematischen Untersuchung, sondern auf der Verrechnung zweier Schätzungen aus unterschiedlichen Quellen. Einerseits wird auf eine Zeitungswerbung der pharmazeutischen Firma «Bayer» von 1994 verwiesen, laut derer 30’000 menschliche Erkrankungen existieren sollen. Andererseits wird auf eine Aussage der britischen «Research Defence Society» verwiesen, laut derer ungefähr 350 menschliche Erkrankungen analog auch in Tieren auftreten würden. Da die beiden Zahlen aber aus unterschiedlichen Quellen stammen und unklar ist, ob die beiden Quellen überhaupt die gleiche Definition von «Krankheit» verwendet haben, ist eine Verrechnung, wie sie der Autor vorgenommen hat, keine verlässliche Schätzung der Häufigkeit, mit der menschliche Erkrankungen in Tieren auftreten.

Eine Vielzahl von Infektionserkrankungen hat ihren Ursprung in Tieren. So schreiben die Weltgesundheitsorganisation WHO und das amerikanische Center for Disease Control and Prevention CDC, dass 60% der menschlichen Infektionskrankheiten von Tieren stammen [2, 3]. Dazu gehören Krankheiten wie Tuberkulose, Malaria, AIDS, Tollwut, Borreliose, Bilharziose oder verschiedene virale Infektionen der Atemwege wie beispielsweise die Grippe, SARS, MERS oder Covid-19. Ebenso können Tiere an Krebs, chronischen Entzündungen oder Atherosklerosen erkranken (Conn 2017) [4].

Hinzu kommt, dass menschliche Erkrankungen und die dazugehörigen Symptome selbst dann in Labortieren induziert werden können, wenn die Erkrankung natürlicherweise nicht in den entsprechenden Tieren auftreten. Die Bandbreite reicht von Erkrankungen der Augen, kardiovaskulären Erkrankungen, Übergewicht und metabolischen Störungen, Hauterkrankungen, Erkrankungen der Nieren, Erkrankungen der Harnwege, Erkrankungen des Darms, neurologischen und genetischen Erkrankungen sowie Entwicklungsstörungen und psychischen Erkrankungen (Conn 2017) [4].

Referenzen

[1] Page, T. (1997). Vivisection unveiled. Jon Carpenter.

[2] WHO Europe (2018). Of all human diseases, 60% originate in animals – “One Health” is the only way to keep antibiotics working (http://www.euro.who.int/en/health-topics/disease-prevention/food-safety/news/news/2018/11/of-all-human-diseases,-60-originate-in-animals-one-health-is-the-only-way-to-keep-antibiotics-working, abgerufen am 12. Januar 2020).

[3] CDC (2021.07.01). One Health. One Health Basics. Zoonotic Diseases (https://www.cdc.gov/onehealth/..., abgerufen am 01. August 2021).

[4] Conn, P. M. (Ed.). (2017). Animal models for the study of human disease. Academic Press.

Behauptung A2: Resultate aus Tierversuchen würden nur in 5 bis 25% mit Resultaten bei Menschen übereinstimmen.

Originaltext

«According to the former scientific executive of Huntingdon Life Sciences, animal tests and human results agree 5%-25% of the time.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird die Zusammenfassung eines Workshops der Ciba-Foundation von 1989 genannt (Lumley and Walker 1990) [1].

Was stimmt?

Die Aussage stammt von Dr. Ralph Heywood vom damaligen Huntingdon Research Centre. Heywood bezog sich aus spezifische toxikologische Tests zum Erkennen von gesundheitlichen Gefahren durch medizinische Substanzen, nicht generell auf die Übertragbarkeit von Resultaten aus Tierversuchen (Heywood 1990) [2].

Tierversuche werden bei Weitem nicht nur für toxikologische Studien eingesetzt, sondern für eine Vielzahl von Forschungsfragen im Bereich der Grundlagenforschung, für das Testen der Wirksamkeit von Medikamenten für Mensch oder Tier sowie für ökologische Fragen. Zudem gibt es eine Vielzahl verschiedener toxikologischer Tests mit unterschiedlichen Erfolgsraten, die beständig weiterentwickelt werden. Eine Aussage über einzelne toxikologische Tests, die bereits über 30 Jahre alt sind, ist kaum stellvertretend für die Situation heute.

Eine systematische Untersuchung aus dem Jahr 2000 betrachtete beispielsweise, wie oft Tierversuche negative gesundheitliche Effekte einer Substanz bei Menschen voraussagen konnten (Olson et al. 2000) [3]: In 71% der untersuchten Fälle konnten Substanzen, die toxisch für den Menschen waren, bereits mit Tierversuchen erkannt werden. Wichtig ist zu erwähnen, dass die Aussagekraft steigt, wenn mehr als ein Tiermodell verwendet wird. Wenn ausschliesslich Nagetiere verwendet wurden, lag die Vorhersagekraft bei 43%, bei Nicht-Nagetieren bei 63%. Betrachtete man aber Resultate aus Nagetieren und Nicht-Nagetieren zusammen, stieg die Aussagekraft auf die erwähnten 71%.

Eine neuere Untersuchung versuchte herauszufinden, wie gut toxikologische Untersuchungen an Tieren etwas über Nebenwirkungen bei Menschen aussagen können (Clark 2015) [4]. Sie kam dabei zum Schluss, dass sich die Wahrscheinlichkeit stark erhöht, dass bei Menschen Nebenwirkungen auftreten, wenn diese Nebenwirkungen auch im Tier beobachtet wurden. Der umgekehrte Schluss ist gegeben den untersuchten Daten jedoch nicht zulässig: Nur weil eine Nebenwirkung nicht beobachtet wurde, heisst das nicht, dass die Wahrscheinlichkeit diese in Menschen zu beobachten kleiner ist.

Diesbezüglich ist zu betonen, dass präklinische Toxizitätstests bei der Medikamentenentwicklung dazu dienen, Informationen über möglicherweise toxische Wirkungen eines Medikaments bei Menschen zu gewinnen. Dazu müssen diese toxischen Wirkungen nicht in ein und demselben Tiermodell beobachtet werden, um erkannt zu werden, sondern können sich auf mehrere Tierarten verteilen. Toxikologische Tests haben auch nicht den Anspruch, absolute Sicherheit zu garantieren, sondern sollen möglichst viele potentielle Nebenwirkungen schon im Tiermodell erkennen.

Referenzen

[1] Lumley, C. E., & Walker, S. R. (Eds.). (1990). Animal Toxicity Studies: Their Relevance for Man: Proceedings of a Workshop Held at the Ciba Foundation, London, UK, 26th September 1989. Quay.

[2] Heywood, R. (1990). Clinical Toxicity--Could it have been predicted? Post-marketing experience. Animal Toxicity Studies: Their Relevance for Man, 57-67.

[3] Olson, H., Betton, G., Robinson, D., Thomas, K., Monro, A., Kolaja, G., ... & Heller, A. (2000). Concordance of the toxicity of pharmaceuticals in humans and in animals. Regulatory Toxicology and Pharmacology, 32(1), 56-67.

[4] Clark, M. (2015). Prediction of clinical risks by analysis of preclinical and clinical adverse events. Journal of biomedical informatics, 54, 167-173.

Behauptung A3: Zellkulturstudien hätten eine Genauigkeit von 80 bis 85%.

Originaltext

«Among the hundreds of techniques available instead of animal experiments, cell culture toxicology methods give accuracy rates of 80-85%»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Es wird keine direkte Quelle für diese Behauptung angegeben, aber die Zahlen stammen vermutlich von den «Multicenter Evaluation of in Vitro Cytotoxicity (MEIC)»-Studien aus den 90er-Jahren (Clemedson and Ekwall 1999; Ekwall 1999) [1, 2]. Diese untersuchten 50 Chemikalien, von denen die toxikologischen Profile beim Menschen gut bekannt waren. Sie verglichen die Resultate von 61 verschiedenen in vitro Tests mit den Resultaten aus sogenannten «LD50-Studien» in Mäusen oder Ratten, die bei Toxizitätstests oft eingesetzt werden.

Was stimmt?

Die Güte der Zellkulturtests wurde mittels des Determinationskoeffizienten R2, also wie stark der lineare Zusammenhang zwischen den Resultaten in toxikologischen Zellkulturtests und toxikologischen Studien an Menschen ist, beurteilt. Zellkulturtests basierend auf Pflanzen- und Bakterienzellen schnitten am schlechtesten (R2 = 0.38) ab, gefolgt von Zellen kleiner aquatischer Organismen (R2 = 0.43), Fischzellen (R2 = 0.57), etablierten Zelllinien aus Säugetieren (R2 = 0.64), Zellen, die direkt aus Säugetieren gewonnen wurden (R2 = 0.65), und menschlichen Zelllinien (R2 = 0.74). Die menschlichen Zelllinien unterschätzten die Toxizität für den Menschen in 44 Fällen und überschätzten sie in 6 Fällen. Die LD50-Tests von Ratten und Mäusen wiesen einen Determinationskoeffizient R2 von 0.65 auf. Bei 26 Chemikalien wurde die Toxizität für den Menschen überschätzt, bei 24 Chemikalien wurde sie unterschätzt.

Die Forschenden versuchten auch zu berechnen, wie stark die einzelnen Zellkulturstudien miteinander übereinstimmen und erhielten dafür Determinationskoeffizienten von 0.81 und 0.85. Die Prozentzahlen in der Behauptung stammen wohl aus einer Fehlinterpretation der Studienergebnisse und beziehen sich auf die Übereinstimmung von Zellkulturstudien untereinander, jedoch nicht auf die Übereinstimmung von Zellkulturstudien und menschlichen Studien.

Zudem lässt sich die Behauptung, dass es hunderte von verfügbaren Alternativen für Tierversuche gäbe, nicht aus der Quelle ableiten. Die oben erwähnte Evaluation untersuchte ausschliesslich Alternativen für toxikologische Studien.

Referenzen

[1] Clemedson, C., & Ekwall, B. (1999). Overview of the final MEIC results: I. The in vitro--in vitro evaluation. Toxicology in vitro, 13(4-5), 657-663.

[2] Ekwall, B. (1999). Overview of the Final MEIC Results: II. The In Vitro--in vivo evaluation, including the selection of a practical battery of cell tests for prediction of acute lethal blood concentrations in Humans. Toxicology in vitro, 13(4-5), 665-673.

Behauptung A4: 92% aller Medikamente, die in Tierversuchen erfolgreich waren scheitern, wenn sie zum ersten Mal im Menschen getestet werden.

Originaltext

«92% of drugs passed by animal tests immediately fail when first tried on humans because they’re useless, dangerous or both.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle angegeben ist ein Kommentar von Krantz (1998) [1], ein Meinungsbeitrag im wissenschaftlichen Magazin «Nature». Der Autor schreibt, dass die Wahrscheinlichkeit, die erste Phase klinischer Versuche zu überstehen, «1 zu 12» betrage. Das entspricht einer Wahrscheinlichkeit von knapp 8%. Jedoch sind keine Quellen für diese Behauptung angegeben. Die Zahl stammt vermutlich aus einem Bericht der amerikanischen «Food and Drug Administration (FDA)», in dem unter anderem steht, dass eine medizinische Substanz, die die Phase I der klinischen Versuche erreiche, mit nur 8% Wahrscheinlichkeit den Markt erreiche (Food and Drug Administration 2004, S. 8) [2]. Doch auch für diese Aussage ist keine direkte Quelle angegeben. Der Bericht verweist aber auf einen Bericht von «Windhover Information Inc.», einer Beratungsfirma im Gesundheitsbereich (Gilbert et al. 2003) [3], der wiederum auf Daten der Beratungsfirma «Bain» von 2003 verweist.

Was stimmt?

Der von Gilbert et al. (2003) [3] verfasste Bericht betrachtet die Erfolgsrate von medizinischen Substanzen in den Zeiträumen 1995 bis 2000 und 2000 bis 2002. Im ersten Zeitraum traten 8 medizinische Substanzen in Phase I ein und eine Substanz erreichte den amerikanischen Markt (kumulative Erfolgsrate von 14%). Im zweiten Zeitraum traten 13 medizinische Substanzen in Phase I ein und eine Substanz erreichte den amerikanischen Markt (kumulative Erfolgsrate von 8%). Diese Zahlen decken sich in der Grössenordnung mit einem jüngeren Bericht von 2012 der amerikanischen Beratungs- und Analysefirma «KMR Group» und einem Bericht von 2019 von «Pharmaprojects», einer Gruppe der britischen «Informa»-Verlagsgesellschaft. KMR Group nennt für das Jahr 2007 eine kumulative Erfolgsrate von 5% für medizinische Substanzen, die in die Phase I der klinischen Versuche eingetreten sind (KMR Group 2012) [4]. Informa nennt für 2018 2127 medizinische Substanzen, die sich in Phase-I-Versuchen befinden und 108 medizinische Substanzen, die auf den Markt kamen. Dies entspricht ungefähr einer kumulativen Erfolgsrate von 5% (Pharmaprojects 2019) [5]. In diesem Fall wurde die kumulative Erfolgsrate folgendermassen berechnet: Anzahl Substanzen in Phase I geteilt durch Anzahl Substanzen, die in einem bestimmten Jahr zugelassen wurden. Diese kumulative Erfolgsrate basierend auf den Angaben von Pharmaprojects ist abhängig von den Fluktuationen innerhalb der Medikamententwicklungpipeline. Wenn in einem bestimmten Jahr beispielsweise die Anzahl möglicher Kandidaten in Phase I abnimmt, die Anzahl der neu zugelassenen Medikamente aber konstant bleibt, dann erhöht sich die kumulative Erfolgsrate. Dies geschieht ohne dass sich an der individuellen Erfolgswahrscheinlichkeit der einzelnen Medikamentenkandidaten etwas geändert hätte. Im Gegensatz dazu stehen die Angaben von Windhover Information Inc. und der KMR Group, die für einen bestimmten Zeitraum analysiert haben, wie viele medizinische Produkte die ganze Pipeline durchlaufen.

Bevor ein möglicher Kandidat für ein Medikament an Menschen getestet wird, durchläuft es neben Tests an Tieren eine Reihe weiterer Untersuchungen, z.B. in Form chemischer Analysen, Computersimulationen, Zellkulturtests etc. Wer aufgrund der hohen Ausfallrate von Medikamenten bei klinischen Studien gegen Tierversuche argumentiert, müsste folglich auch gegen solche Alternativmethoden argumentieren, da diese ebenfalls im präklinischen Bereich zum Einsatz kommen. Die hohe Ausfallrate von Medikamenten bei klinischen Studien der Phase I spricht also weniger gegen Tierversuche, sondern vor allem für die Komplexität der Medikamentenentwicklung.

Die kumulative Erfolgsrate ist eine Schätzung der Wahrscheinlichkeit, dass eine medizinische Substanz, die in Phase I eintritt, auch den Markt erreicht. Sie schätzt nicht die Wahrscheinlichkeit, dass eine Substanz in Phase I scheitert, sondern die Wahrscheinlichkeit, dass sie in Phase I oder in Phase II oder in Phase III scheitert. Alle verlinkten Berichte halten demnach fest, dass das grösste Ausfallrisiko nicht zwischen Phase I und Phase II, sondern zwischen Phase II und Phase III bzw. zwischen Phase III und der Marktzulassung besteht. Wer aufgrund der hohen Ausfallrate von Medikamenten bei klinischen Studien gegen Tierversuche argumentiert, müsste folglich auch Versuche an Menschen nicht als gutes Forschungsmodell sehen. Dies, da die meisten Ausfälle von Medikamentenkandidaten auftreten, nachdem diese bereits am Menschen getestet wurden.

Referenzen

[1] Krantz, A. (1998). Diversification of the drug discovery process. Nature biotechnology, 16(13), 1294-1294.

[2] US Food and Drug Administration. (2004). Challenge and opportunity on the critical path to new medical products (https://www.who.int/intellectu..., abgerufen am 4. Januar 2020).

[3] Gilbert, J., Henske, P., & Singh, A. (2003). Rebuilding big pharma's business model. IN VIVO-NEW YORK THEN NORWALK-, 21(10), 73-80.

[4] KMR Group. (2011). Annual R&D General Metrics Study Highlights New Success Rate and Cycle Time Data (https://www.biospace.com/artic..., https://web.archive.org/web/20..., abgerufen am 4. Januar 2020).

[5] Pharmaprojects. (2019). Pharma R&D Review 2019 Whitepaper. Informa UK Ltd (https://pharmaintelligence.inf..., abgerufen am 4. Januar 2020)

Behauptung A5: Weder Lungenkrebs noch Herzkrankheiten könne man in Labortieren beobachten.

Originaltext

«The two most common illnesses in the Western world are lung cancer from smoking and heart disease. Neither can be reproduced in lab animals.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle für die Behauptung, dass Lungenkrebs nicht in Tieren nachgewiesen werden könne, wird ein Artikel der New York Times vom 6. Dezember 1993 angeführt [1]. Der Artikel sagt aber nichts darüber aus, ob Lungenkrebs in Tieren nachgewiesen werden kann, sondern beinhaltet ein Interview mit dem damaligen CEO des Zigarettenherstellers Philipp Morris über die gesundheitlichen Folgen des Rauchens. Im oben erwähnten Artikel der New York Times behauptet der damalige CEO von Philipp Morris mit Verweis auf Tierversuche, dass es noch keinen kausalen Zusammenhang zwischen Zigarettenrauch und Lungenkrebs gäbe. Dieser Kausalzusammenhang war zu dem Zeitpunkt aber längst nachgewiesen worden (Proctor 2012) [2], die Aussage des CEO ist damit als bewusste Irreführung zu beurteilen. In der Tat konnte nachgewiesen werden, dass die Zigarettenindustrie jahrzehntelang bewusst Zweifel an Studien an Tieren sowie Menschen schürte, welche einen Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs aufzeigten.

Als Quelle für die fehlende Nachweisbarkeit von Herz-Kreislauferkrankungen in Tiermodellen wird die erste Version des Sachbuches «Animal Models in Cardiovascular Research» angegeben (Gross 2009) [3]. Das Sachbuch zeigt aber das Gegenteil dessen auf, was behauptet wird.

Was stimmt?

Nichts davon. Beide Aussagen sind nachweislich falsch. Sowohl Lungenkrebs (Malkinson 1998; Palmarini and Fan 2001; Schmitt et al. 2004; Schuiler et al. 1988; Yang et al. 2009) [4, 5, 6, 7] wie auch Herz-Kreislauferkrankungen (Gross 2009) [3] wurden in Labortieren nachgewiesen und können bei Labortieren induziert werden. Siehe beispielsweise Conn (2017) [8] für eine Übersicht solcher Tiermodelle.

Referenzen

[1] Janofsky (1993), On Cigarettes, Health and Lawyers (https://www.nytimes.com/1993/1..., abgerufen am 21. Januar 2020)

[2] Proctor, R. N. (2012). The history of the discovery of the cigarette–lung cancer link: evidentiary traditions, corporate denial, global toll. Tobacco control, 21(2), 87-91.

[3] Gross, D. (2009). Animal models in cardiovascular research. Springer Science & Business Media.

[4] Malkinson, A. M. (1998). Molecular comparison of human and mouse pulmonary adenocarcinomas. Experimental lung research, 24(4), 541-555.

[5] Palmarini, M., & Fan, H. (2001). Retrovirus-induced ovine pulmonary adenocarcinoma, an animal model for lung cancer. Journal of the National Cancer Institute, 93(21), 1603-1614.

[6] Schmitt, A., Bernhardt, P., Nilsson, O., Ahlman, H., Kölby, L., Maecke, H. R., & Forssell-Aronsson, E. (2004). Radiation therapy of small cell lung cancer with 177Lu-DOTA-Tyr3-octreotate in an animal model. Journal of Nuclear Medicine, 45(9), 1542-1548.

[7] Schuiler, H. M., Becker, K. L., & Witschi, H. P. (1988). An animal model for neuroendocrine lung cancer. Carcinogenesis, 9(2), 293-296.

[8] Yang, C. J., Wang, C. S., Hung, J. Y., Huang, H. W., Chia, Y. C., Wang, P. H., ... & Huang, M. S. (2009). Pyrogallol induces G2-M arrest in human lung cancer cells and inhibits tumor growth in an animal model. Lung Cancer, 66(2), 162-168.

[9] Conn, P. M. (Ed.). (2017). Animal models for the study of human disease. Academic Press.

Behauptung A6: Die überwiegende Mehrheit der Ärzte habe kein geringeres Vertrauen in Tiermodelle als in alternative Methoden.

Originaltext

«A 2004 survey of doctors in the UK showed that 83% wanted an independent scientific evaluation of whether animal experiments had relevance to human patients. Less than 1 in 4 (21%) had more confidence in animal tests than in non-animal methods.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird eine Umfrage der Organisation «Europeans For Medical Advancement» unter 500 Allgemeinmediziner*innen angeführt [1]. Nur die zusammengefassten Resultate, nicht aber die Fragen und einzelnen Antworten, lassen sich eruieren.

Was stimmt?

Die Aussage, dass weniger als 21% der befragten Allgemeinmediziner mehr Vertrauen in Tierversuche als in Alternativmethoden haben, lässt sich mit dieser Quelle nicht belegen. In der Tat scheinen aber 83% der 500 befragten Allgemeinmediziner*innen eine unabhängige wissenschaftliche Untersuchung der Relevanz von Tierversuchen zu befürworten.

Zahlreiche andere Umfragen zeigen, dass Allgemeinmediziner*innen Tierversuche grundsätzlich als relevant für die Medikamentenentwicklung einstufen. Festing and Wilkinson (2007) [2] stellen mit Verweis auf eine Umfrage unter britischen Allgemeinmediziner*innen durch «GP Net» folgende zwei Punkte fest: 96% der befragten Allgemeinmediziner*innen glauben, dass Tierversuche einen wichtigen Beitrag zur Medizin geleistet haben. 88% der Befragten sind der Meinung, dass neue medizinische Substanzen zuerst an Tieren getestet werden sollten. Ebenso hält der Weltärztebund in einer 1989 verabschiedeten und 2006 sowie 2016 revidierten Erklärung fest, dass «korrekt durchgeführte Forschung an Tieren für die Verbesserung der medizinischen Versorgung aller Menschen notwendig ist» (World Medical Association 1989/2006/2016) [3].

Referenzen

[1] Press Release Network (2004), New Survey Among Doctors Suggests Shift in Attitude Regarding Scientific Worth of Animal Testing (https://www.pressreleasenetwor..., abgerufen am 21. Januar 2020).

[2] Festing, S., & Wilkinson, R. (2007). The ethics of animal research: talking point on the use of animals in scientific research. EMBO reports, 8(6), 526-530.

[3] World Medical Association (1989/2006/2016). WMA Statement on Animal Use in Biomedical Research (https://www.wma.net/policies-p..., abgerufen am 05. Januar 2020).

Behauptung A7: Versuche mit Ratten würden nur in 37% der Fälle erklären können, was Krebs im Menschen auslöst - das sei schlechter als Raten.

Originaltext

«Rats are 37% effective in identifying what causes cancer to humans – less use than guessing. The experimenters said: «we would have been better off to have tossed a coin.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle ist eine Fachpublikation von Di Carlo (1984) [1] angegeben, worin jedoch keine solche Aussage zu finden ist.

Was stimmt?

Die Quelle enthält keine Angaben, welche die Zahlen oder die behauptete Aussage der Forschenden stützen. Es ist davon auszugehen, dass die Aussage entweder erfunden oder derart aus dem Zusammenhang gerissen ist, dass die ursprüngliche Bedeutung nicht nachvollziehbar ist.

Unabhängig davon ist die Aussage, dass 37 % schlechter sei als Raten, falsch. Krebs hat eine Vielzahl verschiedener Ursachen - von der genetischen Zusammensetzung über Umwelteinflüsse bis zum persönlichen Verhalten und zufälligen Mutationen. Angesichts dieser Vielfalt von Ursachen wäre eine Trefferrate von 37% ein sehr gutes Ergebnis. Ein Beispiel: Man nehme an, dass eine bestimmte Krebsart 1000 potentielle Ursachen hat, von denen aber nur 100 tatsächlich den Krebs auslösen können. Würde man bei jeder der 1000 Ursachen einfach raten, so würden durchschnittlich 500 der potentiellen Ursachen zu tatsächlichen Ursachen erklärt. Tatsächlich Krebs auslösen von diesen 500 würden aber nur 10%. Ganz grundsätzlich gilt: Die generelle Aussagekraft eines diversen Tiermodells wie der Ratte für eine vielfältige Erkrankung wie Krebs lässt sich nicht auf eine einzige Prozentzahl reduzieren - sie muss im Einzelfall, d.h. bezogen auf das tatsächlich verwendete Rattenmodelle und die untersuchte Krebserkrankung eruiert werden.

Referenzen

[1] Di Carlo, F. J. (1984). Carcinogenesis bioassay data: correlation by species and sex. Drug metabolism reviews, 15(3), 409-413.

Behauptung A8: Nagetiere würden keine Krebs-Karzinome bekommen, die bei Menschen verbreitet sind, sondern sogenannte Sarkome.»

Originaltext

«Rodents are the animals almost always used in cancer research. They never get carcinomas, the human form of cancer, which affects membranes (e.g. lung cancer). Their sarcomas affect bone and connective tissue: the two are completely different.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle ist eine nicht näher spezifizierte Publikation «R Peto, World Medicine Vol 79, 1979» genannt. Vermutlich ist damit eine Publikation in den «Proceedings of the Royal Society B» gemeint (Peto and Bridges 1979) [1], die jedoch lediglich die klinisch relevanten Unterschiede zwischen Sarkomen und Karzinomen untersucht und keine Aussage über die Vergleichbarkeit von tierischen Krebsmodellen mit menschlichen Krebserkrankungen macht.

Was stimmt?

Die Aussage ist falsch: Auch Nagetiere entwickeln Karzinome. Siehe z.B. Rogers and Fox (2004) [2] oder Walesky et al. (2013) [3] und die Verweise zu Behauptung A5 oben. Es stimmt jedoch, dass Mäuse eine höhere Anfälligkeit für spontan auftretende Sarkome haben als Menschen und dass Menschen einen höhere Anfälligkeit für spontan auftretende Karzinome haben als Mäuse. In jedem Fall ist der genetische Hintergrund der Tiere entscheidend dafür, für welche Krebsarten sie besonders anfällig sind bzw. welche Tumore sie entwickeln (Anisimov et al. 2005) [4].

Referenzen

[1] Peto, R. (1979). Detection of risk of cancer to man. Proceedings of the Royal Society of London. Series B. Biological Sciences, 205(1158), 111-120.

[2] Rogers, A. B., & Fox, J. G. (2004). Inflammation and Cancer I. Rodent models of infectious gastrointestinal and liver cancer. American Journal of Physiology-Gastrointestinal and Liver Physiology, 286(3), G361-G366.

[3] Walesky, C., Edwards, G., Borude, P., Gunewardena, S., O'Neil, M., Yoo, B., & Apte, U. (2013). Hepatocyte nuclear factor 4 alpha deletion promotes diethylnitrosamine‐induced hepatocellular carcinoma in rodents. Hepatology, 57(6), 2480-2490.

[4] Anisimov, V. N., Ukraintseva, S. V., & Yashin, A. I. (2005). Cancer in rodents: does it tell us about cancer in humans?. Nature Reviews Cancer, 5(10), 807-819.

Behauptung A9: Die Resultate von Tierversuchen würden stark beeinflusst von Ernährung, Licht-, Temperatur- und Lärmverhältnissen, der Einrichtung und Ausstattung der Tierkäfige, sowie von den Laborangestellten.

Originaltext

«The results from animal tests are routinely altered radically by diet, light, noise, temperature, lab staff and bedding. Bedding differences caused cancer rates of over 90% and almost zero in the same strain of mice at different labs.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird eine wissenschaftliche Publikation von 2003 angegeben, die jedoch die Herzrate, das motorische Verhalten und die Körpertemperatur von männlichen Mäusen in Einzelhaltung mit den gleichen Parametern von männlichen Mäusen, die zusammen mit einem Weibchen gehalten wurden, verglichen (Späni et al. 2003) [1].

Was stimmt?

Nahrungsaufnahme, Licht, Lärm, Temperatur und Einstreu können experimentelle Resultate in der Tat beeinflussen (Richter et al. 2009) [2]. Für die Aussage, dass Unterschiede im Einstreu zu derart massiven Unterschieden in der Krebsrate führen sollen, konnten keine Nachweise gefunden werden. Garner et al. (2017) [3] berichtet jedoch, dass bestimmte Formen von Einstreu das Wachstum von Prostatakrebs in Ratten erhöhen, zu höherer Aggressivität führen und die Reproduktion verringern.

Ein weiterer relevanter Aspekt der Haltung, insbesondere bei sozial lebenden Tieren, ist die Haltung in Gruppen gegenüber Einzelhaltung. Garner et al. (2017) [3] berichtet von einer massiv erhöhten Krebsbelastung bei Ratten und Mäusen, die einzeln gehalten wurden, verglichen mit Tieren, die in sozialen Verbänden gehalten wurden. Das Schweizer Gesetz erlaubt Einzelhaltung nur in begründeten Ausnahmefällen.

Gerade weil bekannt ist, dass die oben genannten Faktoren einen Einfluss auf die experimentellen Resultate haben, ist es entscheidend, diese Faktoren bei der experimentellen Planung und Durchführung zu berücksichtigen. Richtlinien wie «ARRIVE» und «PREPARE» tragen relevante Empfehlungen zur Verbesserung des Studiendesigns zusammen und aktualisieren diese in regelmässigen Abständen, um auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse eingehen zu können (Percie du Sert et al. 2019; Smith et al. 2018) [4,5]. In der Schweiz werden diese Richtlinien sowie die richtige Haltung von Labortieren auch in den für alle Forschenden obligatorischen Labortierkursen vermittelt und es werden weiterführende Kurse zum korrekten experimentellen Design angeboten.

Referenzen

[1] Späni, D., Arras, M., König, B., & Rülicke, T. (2003). Higher heart rate of laboratory mice housed individually vs in pairs. Laboratory Animals, 37(1), 54-62.

[2] Richter, S. H., Garner, J. P., & Würbel, H. (2009). Environmental standardization: cure or cause of poor reproducibility in animal experiments?. Nature methods, 6(4), 257-261.

[3] Garner, J. P., Gaskill, B. N., Weber, E. M., Ahloy-Dallaire, J., & Pritchett-Corning, K. R. (2017). Introducing Therioepistemology: the study of how knowledge is gained from animal research. Lab Animal, 46(4), 103-113.

[4] Percie du Sert, N., Hurst, V., Ahluwalia, A., Alam, S., Avey, M. T., Baker, M., ... & Würbel, H. (2020). The ARRIVE guidelines 2.0: Updated guidelines for reporting animal research. Journal of Cerebral Blood Flow & Metabolism, 40(9), 1769-1777.

[5] Smith, A. J., Clutton, R. E., Lilley, E., Hansen, K. E. A., & Brattelid, T. (2018). PREPARE: guidelines for planning animal research and testing. Laboratory animals, 52(2), 135-141.

Behauptung A10: Geschlechterunterschiede bei Labortieren würden zu widersprüchlichen Resultaten führen, was bei Menschen nicht der Fall sei.

Originaltext

«Sex differences among lab animals can cause contradictory results. This does not correspond with humans.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird ein Sachbuch von 1985 angegeben, das online nicht erhältlich ist (Calabrese 1985) [1]. Eine Fachpublikation des Autors zum gleichen Thema aus dem darauffolgenden Jahr, indem die wichtigsten Resultate des Buchs zusammengefasst sind, ist jedoch erhältlich (Calabrese 1986) [2]. Diese Quelle stützt die Behauptung nicht.

Was stimmt?

Die Behauptung ist falsch, denn sowohl bei Menschen wie auch bei Tieren können Geschlechterunterschiede zu verschiedenen biomedizinischen Resultaten führen. So bestehen beispielsweise bei Labortieren teilweise grosse geschlechterspezifische Unterschiede in der Anfälligkeit auf bestimmte toxische Substanzen. Solche Unterschiede existieren auch beim Menschen. So berichtet Calabrese (1986) [2], dass Männer ein höheres Risiko haben, durch Rauchen Lungenkrebs zu bekommen oder durch Aflatoxin (ein Gift eines Schimmelpilzes) an Leberkrebs zu erkranken.

Gerade weil medizinisch relevante Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Labortieren bzw. zwischen Männern und Frauen bestehen, ist es entscheidend, Labortiere beiden Geschlechts in der Forschung einzusetzen (Gochfeld 2017; Lee 2018) [3,4]. Männliche Labortiere sind in der präklinischen Forschung aber immer noch stark übervertreten, weshalb der Druck wächst, für ausgeglichenere Verhältnisse zu sorgen (Beery 2018; Shansky 2019) [5,6].

Referenzen

[1] Calabrese, E. J. (1985).Toxic Susceptibility: Male/Female Differences. John Wiley & Sons.

[2] Calabrese, E. J. (1986). Sex differences in susceptibility to toxic industrial chemicals. British journal of industrial medicine, 43(9), 577.

[3] Gochfeld, M. (2017). Sex differences in human and animal toxicology: toxicokinetics. Toxicologic pathology, 45(1), 172-189.

[4] Lee, S. K. (2018). Sex as an important biological variable in biomedical research. BMB reports, 51(4), 167.

[5] Beery, A. K. (2018). Inclusion of females does not increase variability in rodent research studies. Current opinion in behavioral sciences, 23, 143-149.

[6] Shansky, R. M. (2019). Are hormones a “female problem” for animal research?. Science, 364(6443), 825-826.

Behauptung A11: 75% der Nebenwirkungen, die in Tieren auftreten, kämen bei Menschen nicht vor.

Originaltext

«75% of side effects identified in animals never occur».

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird eine Fachpublikation von 1978 angegeben (Fletcher 1978) [1]. Die Behauptung lässt sich darin nicht finden und stammt vermutlich von einer Fehlinterpretation der Resultate der Publikation.

Was stimmt?

Die zitierte Publikation untersuchte 45 neue Medikamente, die 1977/1978 in England vom «Committee on Safety of Medicines» in Grossbritannien nach dem Kriterium, ob sie eine Gefahr für Patienten darstellen oder nicht, evaluiert wurden. Die Untersuchung zeigte, dass einige Symptome vermehrt bei Tieren, andere Symptome vermehrt bei Menschen auftraten. Die Autoren halten fest, dass als grobe (!) Schätzung davon auszugehen ist, dass bis zu 25% der bei einer einzelnen medizinischen Substanz beobachteten toxischen Effekte auch beim Menschen zu erwarten sind. Das bedeutet aber nicht, dass 75% der Nebenwirkungen im Menschen nie auftauchen, sondern dass sie bei den Konzentrationen der Substanzen, die in klinischen Versuchen zum Einsatz kommen, nicht auftauchen.

Die Untersuchung zeigte auch, dass häufig in Tieren auftretende toxische Effekte ebenfalls häufig bei Menschen zu beobachten waren. Von den untersuchten 45 medizinischen Substanzen zeigten 32 Substanzen (d.h. 71%) mindestens einen toxischen Effekt, der auch in Menschen zu beobachten war. Bei den verbliebenen 13 Substanzen gehen die Autoren davon aus, dass die fehlende Übereinstimmung mit unzureichenden oder qualitativ schlechten Daten zu erklären ist.

Andere Untersuchungen zur Übertragbarkeit von Toxizitätstests kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Die oben bereits zitiert Studie von Ekwall (1999) [2] nennt einen Determinationskoeffizient R2 von 0.65 für die lineare Regression zwischen LD50-Studien an Ratten und Mäusen und Toxizität in Menschen (siehe auch die Anmerkungen zu Behauptung A3).

Eine Studie von 2000 analysierte 221 toxische Nebenwirkungen beim Menschen von insgesamt 150 medizinischen Substanzen und berichtete, dass die Nebenwirkungen in 71% der Fälle auch in Tierversuchen aufgetreten sind. Entscheidend ist hierbei, dass die Übereinstimmung bei Nagetieren alleine 43% betrug und bei Nicht-Nagetieren 63% (Olson et al. 2000) [3]. Weil Untersuchungen an einer einzelnen Tierart weniger oft Nebenwirkungen erkennen als Resultate von mehreren Tierarten, bestehen Zulassungsbehörden wie Swissmedic vor einer Zulassung für Versuche an Menschen auf Tests von Nagetieren und Nicht-Nagetieren, um das Risiko zu verringern, dass Nebenwirkungen übersehen werden.

Eine jüngere Studie aus den Niederlanden untersuchte 93 Meldungen von schweren Nebenwirkungen zu 43 bereits zugelassenen Medikamenten zwischen 1999 und 2010 (basierend auf den Daten der Europäischen Arzneimittelagentur und der Niederländischen Arzneimittelbehörde). 27% der gemeldeten Nebenwirkungen wurden im Tierversuch erkannt und 19% der Nebenwirkungen waren auf den gleichen Wirkungsmechanismus in Tier und Mensch zurückzuführen (van Meer et al. 2012). Hierbei ist jedoch zu erwähnen, dass dies nicht die Rate an erfolgreichen Voraussagen toxischer Effekte darstellt, sondern ausschliesslich die Voraussagerate von toxischen Effekte von jenen Substanzen, die bereits eine Marktzulassung erhalten haben (und damit auch klinische Versuche am Menschen sowie ein regulatorisches Zulassungsverfahren durchlaufen haben). In dieser Auswertung fehlen deshalb jene Substanzen, die im Tierversuch als derart toxisch erkannt worden sind, dass sie gar nicht erst in die klinische Phase gekommen sind. Auch jene Substanzen, die sich im Laufe der klinischen Versuche an Menschen als toxisch herausgestellt haben, fehlen.

Es ist festzuhalten, dass Tierversuche nur dann sinnvolle Voraussagen für toxische Effekte bei Menschen zulassen, wenn sie methodisch sauber und ohne systematische Verzerrungen durchgeführt werden (dasselbe gilt für klinische Versuche an Menschen). Ebenso ist entscheidend, dass die «Erfolgsrate» bei der Übertragbarkeit zu einem nicht unwesentlichen Teil von deren Definition abhängig ist. Einige Autor*innen werten einen Toxizitätstest an Tieren bereits dann als erfolgreich, wenn dieser aufzeigt, dass eine für Menschen toxische Substanz auch im Tier toxisch ist. Andere Autor*innen werten solche Tests nur dann als erfolgreich, wenn sie die Toxizität im Tier mit dem gleichen Wirkungsmechanismus wie in Menschen nachweisen.

Zudem ist zu berücksichtigen, dass Toxizitätstest an Tieren dazu dienen, die Unbedenklichkeit einer Substanz für den Menschen zu testen. Dabei kommen routinemässig Dosierungen zum Einsatz, die um ein Vielfaches höher sind als jene, die bei Menschen zum Einsatz kommen. Dies soll verhindern, dass potentielle Risiken für Menschen übersehen werden. Da alle toxischen Effekte erst ab einer bestimmten Konzentration auftreten, ist deshalb damit zu rechnen, dass viele der in Tieren erkannten toxischen Effekte nicht in Menschen auftreten, da Letztere in klinischen Versuchen selten bis nie den gleichen Konzentrationen ausgesetzt sind wie die Tiere.

Ausserdem ergibt eine Auswertung mittels des Determinationskoeffizient einer Regression andere Resultate als eine Auswertung, die auf dem Zählen von richtig bzw. falsch vorausgesagten toxischen Nebenwirkungen beruht. Grundsätzlich gilt: Zum Vergleich verschiedener Operationalisierungen von «Übertragbarkeit» ist entscheidend zu überprüfen, auf welchen Annahmen diese Operationalisierungen beruhen und ob sie miteinander vergleichbar sind.

Schliesslich ist zu erwähnen, dass die Bewertung der erfolgreichen Voraussage von toxischen Nebenwirkungen durch Tierversuche immer mit der Voraussagerate solcher Nebenwirkung anhand von klinischen Versuchen verglichen werden muss. Wenn weder präklinische Versuche an Tieren oder in Zellkulturen noch klinische Versuche an Menschen die toxischen Nebenwirkungen erkennen und diese somit erst nach Marktzulassung erfasst werden, dann lässt sich daraus nicht schliessen, dass das Tiermodell unnütz ist. Jedoch waren die der Marktzulassung vorangehenden Tests in Zellkulturen, Tieren und Menschen nicht sensitiv genug, um die toxischen Nebenwirkungen zu erkennen, oder methodische Fehler enthielten, welche dies verunmöglichten (Li 2004).

Referenzen

[1] Fletcher, A. P. (1978). Drug safety tests and subsequent clinical experience.

[2] Ekwall, B. (1999). Overview of the Final MEIC Results: II. The In Vitro--in vivo evaluation, including the selection of a practical battery of cell tests for prediction of acute lethal blood concentrations in Humans. Toxicology in vitro, 13(4-5), 665-673.

[3] Olson, H., Betton, G., Robinson, D., Thomas, K., Monro, A., Kolaja, G., ... & Heller, A. (2000). Concordance of the toxicity of pharmaceuticals in humans and in animals. Regulatory Toxicology and Pharmacology, 32(1), 56-67.

[4] van Meer, P. J., Kooijman, M., Gispen-de Wied, C. C., Moors, E. H., & Schellekens, H. (2012). The ability of animal studies to detect serious post marketing adverse events is limited. Regulatory Toxicology and Pharmacology, 64(3), 345-349.

[5] Li, A. P. (2004). Accurate prediction of human drug toxicity: a major challenge in drug development. Chemico-biological interactions, 150(1), 3-7.

Behauptung A12: Über die Hälfte aller Nebenwirkungen könnten in Labortieren nicht entdeckt werden.

Originaltext

«Over half of side effects cannot be detected in lab animals».

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird eine Fachpublikation von 1962 angegeben (Litchfield 1962). Die darin gezeigten Resultate bekräftigen die Behauptung nicht.

Was stimmt?

Der Autor untersuchte bei 6 medizinischen Substanzen, die ausreichend in Ratten, Hunden und Menschen getestet worden waren, inwiefern sich die Nebenwirkungen, die im Menschen auftraten, aus den tierischen Daten ableiten liessen. Von 78 Nebenwirkungen, die im Menschen auftauchten, wurden 36 (46%) bei den Tieren entdeckt. 26 dieser Nebenwirkungen wurden bei Hunden und Ratten festgestellt; 9 Nebenwirkungen wurden nur bei Hunden festgestellt, aber nicht bei Ratten; 1 Nebenwirkung wurde nur bei Ratten, aber nicht bei Hunden festgestellt. Bei den verbleibenden 42 Nebenwirkungen, die nur beim Menschen auftraten, aber weder bei Hunden noch bei Ratten festgestellt wurden, handelte es sich mehrheitlich um Symptome, die nur beim Menschen sicher erfasst werden konnten (z.B. Albträume, Verlust der Libido, Tinnitus) oder die bei den Tieren nicht untersucht wurden (z.B. Verlust der Libido).

Aufgrund der massiven regulatorischen aber auch technologischen und wissenschaftlichen Veränderungen in den letzten 50 Jahren ist fraglich, inwiefern die Erkenntnisse der Publikation für den heutigen Kontext noch relevant sind. Zudem ist es grundsätzlich fragwürdig von den wissenschaftlichen Studien zu sechs medizinischen Substanzen auf die Aussagekraft von Tierversuchen bei allen anderen Substanzen zu schliessen.

Referenzen

[1] Litchfield Jr, J. T. (1962). Part XVI. Evaluation of the safety of new drugs by means of tests in animals. Clinical Pharmacology & Therapeutics, 3(5), 665-672.

Behauptung A13: Das Medikament Vioxx stehe mit Herzinfarkten und Schlaganfällen in Menschen in Verbindung, obwohl es das Herz von Mäusen, Hunden, Affen und anderen Labortieren schützt.

Originaltext

«Vioxx was shown to protect the hearts of mice, dogs, monkeys and other lab animals. It was linked to heart attacks and strokes in up to 139,000 humans».

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird ein Kommentar von 2005 im Fachmagazin «British Medical Journal» genannt (Mayor 2005) [1], der wiederum auf eine Studie im Fachmagazin «Lancet» verweist (Graham et al. 2005) [2]. Keiner der beiden Artikel geht auf die Resultate von Tierversuchen ein.

Was stimmt?

Die oben erwähnte Studie in «Lancet» untersuchte, ob das Arthritis-Medikament «Rofecoxib» (vertrieben unter dem Namen «Vioxx») ein höheres Risiko für koronare Herzkrankheiten mit sich bringt. Die Autoren kommen basierend auf der Auswertung aller verfügbaren Informationen und unter Verwendung eines mathematischen Modells zum Schluss, dass tatsächlich ein erhöhtes Risiko für koronare Herzerkrankungen bestehe (verglichen mit der Standardbehandlung für Arthritis) und dass dadurch in den USA ca. 88’000 bis 140’000 zusätzliche Fälle von koronaren Herzerkrankungen zwischen 1999 bis 2004 aufgetreten sind (Graham et al. 2005) [2]. Aufgrund der damaligen durchschnittlichen Todesrate durch akuten Herzinfarkt von 44% ist von ca. 39’000 bis 62’000 zusätzlichen Todesfällen aufgrund des Medikaments auszugehen. Demgegenüber stehen bis zu 20 Millionen amerikanische Patienten, welche das Medikament eingenommen haben [3,4,5]. Das entspricht einer erhöhten Erkrankungsrate von 0.5% bis 0.7% bzw. einer erhöhten Todesrate von ca. 0.2% bis 0.3%.

Für die Behauptung, dass Rofecoxib bei Tieren eine schützende Wirkung für Herzerkrankungen gezeigt habe, konnten keine Belege gefunden werden. Es ist davon auszugehen, dass diese Behauptung erfunden wurde.

Da das erhöhte Risiko für koronare Herzkrankheiten nur bei einem kleinen Teil der Patienten auftritt, ist das Erkennen dieser Nebenwirkung in präklinischen und klinischen Studien ausgesprochen schwierig, da sehr grosse Zahlen von Versuchstieren bzw. menschlichen Probanden dafür notwendig wären. Ausserdem ist das leicht erhöhte Risiko für koronare Herzkrankheiten durch Rofecoxib lange fälschlicherweise als verringertes Risiko für Herzkrankheiten durch das Medikament «Naproxen» interpretiert worden. Naproxen gehört wie Rofecoxib in die Kategorie der «nicht-steroidalen Entzündungshemmer» und diente als Vergleichsmedikament bei klinischen Studien zur Wirksamkeit von Rofecoxib. des Weiteren trat das erhöhte Risiko für koronare Herzerkrankungen erst ab einer mittleren bis höheren Dosierung des Medikaments auf, was die Entdeckung in präklinischen und klinischen Studien ebenfalls erschwert (Jüni et al. 2004) [6].

Rofecoxib ist damit ein gutes Beispiel für Medikamente, die schwere, aber derart seltene Nebenwirkungen aufweisen, dass diese erst dann erkannt werden, wenn mehrere Millionen Patientinnen und Patienten das Medikament einnehmen. Das bedeutet umgekehrt aber auch, dass die überwiegende Mehrheit der Patientinnen und Patienten ohne Nebenwirkungen bleibt.

Referenzen

[1] Mayor, S. (2005). Rofecoxib caused excess heart disease.

[2] Graham, D. J., Campen, D., Hui, R., Spence, M., Cheetham, C., Levy, G., ... & Ray, W. A. (2005). Risk of acute myocardial infarction and sudden cardiac death in patients treated with cyclo-oxygenase 2 selective and non-selective non-steroidal anti-inflammatory drugs: nested case-control study. The Lancet, 365(9458), 475-481.

[3] Berenson, Alex (2006). Merck admits a data error on Vioxx. The New York Times (https://www.nytimes.com/2006/0..., abgerufen am 31. Januar 2020).

[4] Martinez, Barbara (2004). Merck & Co. Offers Rationale, Context For Vioxx Memos. The Wall Street Journal (https://www.wsj.com/articles/S..., abgerufen am 31. Januar 2020).

[5] National Public Radio (2007). Vioxx: The Downfall of a Drug (https://www.npr.org/series/503..., abgerufen am 31. Januar 2020).

[6] Jüni, P., Nartey, L., Reichenbach, S., Sterchi, R., Dieppe, P. A., & Egger, M. (2004). Risk of cardiovascular events and rofecoxib: cumulative meta-analysis. The lancet, 364(9450), 2021-2029.

Behauptung A14: Die mdx-Maus soll Muskeldystrophie in Menschen modellieren, doch ihre Muskeln regenerieren sich ohne Behandlung.

Originaltext

«Genetically modified animals are not like humans. The mdx mouse is supposed to have muscular dystrophy, but the muscles regenerate with no treatment.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle ist eine Fachpublikation von 1976 angegeben, die jedoch
nichts mit muskulärer Dystrophie oder Tierversuchen zu tun hat, sondern einen klinischen Versuch zur Behandlung von Hirnschlägen beschreibt (Fletcher et al. 1976) [1].

Was stimmt?

Die Behauptung ist falsch. Die mdx-Mauslinie ist genetisch vergleichbar mit der menschlichen Muskeldystrophie des Typs «Duchenne». Weder bei der Mauslinie noch beim Menschen findet ohne Behandlung eine Regeneration der Muskeln statt (Manning and O’Malley 2015) [2].

Referenzen

[1] Fletcher, A. P., Alkjaersig, N. O. R. M. A., Lewis, M. A. R. T. I. N., Tulevski, V. A. S. I. L., Davies, A., Brooks, J. E., ... & Raichle, M. E. (1976). A pilot study of urokinase therapy in cerebral infarction. Stroke, 7(2), 135-142.

[2] Manning, J., & O’Malley, D. (2015). What has the mdx mouse model of Duchenne muscular dystrophy contributed to our understanding of this disease?. Journal of muscle research and cell motility, 36(2), 155-167.

Behauptung A15: Das Mausmodell, das zum erforschen der Cystischen Fibrose verwendet wird, bilde keine Infektion der Lunge aus, was aber bei Menschen mit dieser Krankheit die Haupttodesursache ist.

Originaltext

«GM animal the CF-mouse never gets fluid infections in the lungs – the cause of death for 95% of human cystic fibrosis patients.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quellen werden drei Fachpublikationen angegeben (Barinaga 1992; Collins and Wilson 1992; Snouwaert et al. 1992) [1,2,3]. Von diesen Publikationen besprechen nur zwei ein spezifisches Mausmodell für cystische Fibrose (Collins and Wilson 1992; Snouwaert et al. 1992) [2,3], die dritte Publikation beschreibt das Gen, das für die Erkrankung beim Menschen verantwortlich ist (Barinaga 1992) [1].

Was stimmt?

Das in den oben zitierten Studien beschriebene Mausmodell entsteht, wenn das Gen, das beim Menschen für die Erkrankung verantwortlich ist, in der Maus ausgeschaltet wird. Dadurch werden wie beim Menschen bestimmte Chlorid-Ionenkanäle deaktiviert (u.a. im Lungengewebe). Im Gegensatz zum Menschen sterben die Mäuse aber nicht primär an Infektionen der Lunge, sondern an gastrointestinalen Obstruktionen.

Das in den oben zitierten Publikationen beschriebene Tiermodell war das erste genetisch veränderte Modell für die cystische Fibrose, das gezielt das im Menschen für das Auftreten der Krankheit verantwortliche Gen ausschaltete. Es leistete damit wichtige Pionierarbeit für die heute existierenden Tiermodelle, die auch die in Menschen zum Tod führenden Infektionen der Lunge nachbilden (Guilbault et al. 2007; Sutton et al. 2017) [4,5].

Referenzen

[1] Barinaga, M. (1992). Novel function discovered for the cystic fibrosis gene. Science, 256(5056), 444-446.

[2] Collins, F. S., & Wilson, J. M. (1992). A welcome animal model. Nature, 358(6389), 708-709.

[3] Snouwaert, J. N., Brigman, K. K., Latour, A. M., Malouf, N. N., Boucher, R. C., Smithies, O., & Koller, B. H. (1992). An animal model for cystic fibrosis made by gene targeting. Science, 257(5073), 1083-1088.

[4] Guilbault, C., Saeed, Z., Downey, G. P., & Radzioch, D. (2007). Cystic fibrosis mouse models. American journal of respiratory cell and molecular biology, 36(1), 1-7.

[5] Sutton, M. T., Fletcher, D., Episalla, N., Auster, L., Kaur, S., Gwin, M. C., ... & Bonfield, T. L. (2017). Mesenchymal stem cell soluble mediators and cystic fibrosis. Journal of stem cell research & therapy, 7(9).

Behauptung A16: In Amerika seien über hunderttausend Todesfälle pro Jahr auf Nebenwirkungen von Medikamenten zurückzuführen.

Originaltext

«In America, 106,000 deaths a year are attributed to reactions to medical drugs.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird eine Ausgabe des «Journal of the American Medical Association» vom 14. April 1998 angegeben. An diesem Datum wurde aber keine Ausgabe dieses Magazins publiziert. Das nächstgelegene Publikationsdatum ist der 15. April 1998 [1]. Diese Ausgabe enthält einen Artikel über Nebenwirkungen von Medikamenten, der thematisch zur Behauptung passt (Lazarou et al. 1998) [2].

Was stimmt?

Der oben erwähnte Artikel schätzt, dass 1994 ca. 106’000 hospitalisierte Patientinnen und Patienten an Nebenwirkungen von Medikamenten gestorben sind, was einer Todesrate von ca. 0.3% entspricht. Die Schätzungen von Lazarou et al. (1998) [2] wurden jedoch u.a. deshalb kritisiert, weil die Autoren die Anzahl der Todesfälle aufgrund von Nebenwirkungen schätzten, indem sie Hospitalisierungszahlen aus dem Jahr 1994 mit Zahlen zu Nebenwirkungen verrechneten, die vor 1981 erhoben wurden (Pirmohamed et al. 2004) [3].

Die Untersuchung umfasste zudem nur Patientinnen und Patienten, die hospitalisiert waren. Da eine Hospitalisierung primär bei Menschen mit schweren Erkrankungen und/oder schlechtem allgemeinen Gesundheitszustand erfolgt, ist davon auszugehen, dass die Todesrate aufgrund von Nebenwirkungen bei allen Patientinnen und Patienten geringer war.

Unabhängig davon lässt die Todesrate durch Nebenwirkungen keine Rückschlüsse bezüglich der Verlässlichkeit von Tiermodellen zu. Denn die Medikamente, welche zu Nebenwirkungen führten, wurden vor der Zulassung neben Tieren auch in Zellkulturen und an Menschen getestet.

Referenzen

[1] Journal of the American Medical Association, April 15, 1998, Vol 279, No. 15, Pages 1145-1231 (https://jamanetwork.com/journa..., abgerufen am 22.01.2020)

[2] Lazarou, J., Pomeranz, B. H., & Corey, P. N. (1998). Incidence of adverse drug reactions in hospitalized patients: a meta-analysis of prospective studies. Jama, 279(15), 1200-1205.

[3] Pirmohamed, M., James, S., Meakin, S., Green, C., Scott, A. K., Walley, T. J., ... & Breckenridge, A. M. (2004). Adverse drug reactions as cause of admission to hospital: prospective analysis of 18 820 patients. Bmj, 329(7456), 15-19.

Behauptung A17: Jedes Jahr würden 2.1 Millionen Amerikaner hospitalisiert wegen Nebenwirkungen.

Originaltext

«Each year 2.1 million Americans are hospitalised by medical treatment.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Für diese Behauptung wird die gleiche Quelle wie bei Behauptung A16 angegeben (Lazarou et al. 1998) [1].

Was stimmt?

Die Behauptung ist falsch. Die oben verlinkte Publikation schätzt, dass 2.2. Millionen hospitalisierte Patientinnen und Patienten (6.7% aller hospitalisierten Patienten) aufgrund von Medikamenten Nebenwirkungen erfahren. Das heisst jedoch nicht, dass die Nebenwirkung der Grund für die Hospitalisierung ist, sondern dass während der Hospitalisierung Nebenwirkungen auftraten. Siehe auch die Anmerkungen zu Behauptung A16.

Referenzen

[1] Lazarou, J., Pomeranz, B. H., & Corey, P. N. (1998).
Incidence of adverse drug reactions in hospitalized patients: a
meta-analysis of prospective studies. Jama, 279(15), 1200-1205.

Behauptung A18: In Grossbritannien würden 70’000 Menschen durch unerwartete Nebenwirkungen von Medikamenten eine schwere Behinderung erfahren oder sterben.

Originaltext

«In the UK an estimated 70,000 people are killed or severely disabled every year by unexpected reactions to drugs. All these drugs have passed animal tests.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird eine nicht näher spezifizierte Ausgabe des Fachmagazins «Nature Medicine» aus dem Jahr 2000 angeführt.

Was stimmt?

Die Herkunft der in der Behauptung genannten Zahl konnte nicht eruiert werden. Eine Untersuchung von 2000 schätzte, dass pro Jahr 850’000 Fälle von Nebenwirkungen (inkl. leichten Nebenwirkungen) bei hospitalisierten Patienten in UK auftraten (Department of Health 2000) [1]. Eine andere Untersuchung bezifferte die Zahl der Hospitalisierungen aufgrund von medikamentösen Nebenwirkungen auf gut 42’000 für das Jahr 1999, wobei gut 1800 Personen davon verstarben (Wu et al. 2010) [2]. Pirmohamed et al. (2004) [3] schätzten, dass 2002 über 10’000 hospitalisierte Personen an Nebenwirkungen verstorben sind. Es gilt zu beachten, dass die drei Studien nicht dasselbe untersuchen. Im ersten Fall wurde versucht, die Anzahl Nebenwirkungen bei hospitalisierten Patienten zu schätzen. Im zweiten Fall wurde versucht, die Zahl der Hospitalisierungen aufgrund von Nebenwirkungen zu beziffern. Im dritten Fall bezieht sich die Schätzung auf die Anzahl der an Nebenwirkungen verstorbenen hospitalisierten Personen. Die Europäische Kommission ging in einem Bericht von 2008 für die gesamte Europäische Union von ca. 100’800 bis 197’000 Toten aufgrund von Nebenwirkungen von Medikamenten aus, die bei hospitalisierten Patienten auftraten (0.12%-0.22% aller hospitalisierten Patienten) (Commission of the European Communities 2008) [4].

Nebenwirkungen und deren Schwere sind schwierig genau zu schätzen, weil ausserhalb des Spital-Sektors oft die Datengrundlage ungenügend ist (Elliott et al. 2018) [5]. Das heisst, dass meist nur zu Nebenwirkungen in Spitälern gute Daten vorhanden sind und die Häufigkeit von Nebenwirkungen bei Menschen zu Hause oder in Alters- und Pflegeheimen kaum zu bestimmen ist. Da aber Menschen in Spitälern in der Tendenz schwerer krank sind als die durchschnittlichen Bewohnenden eines Altersheims oder eines Patienten, der zu Hause behandelt wird, verzerren Schätzungen basierend auf Spitaldaten die Häufigkeit von Nebenwirkungen tendenziell nach oben.

Alle zugelassenen Medikamente haben auch klinische Versuche am Menschen überstanden. Nebenwirkungen von bereits zugelassenen Medikamenten sind deshalb kein Argument gegen Tierversuche, sondern zeigen die Schwierigkeit auf, sämtliche Nebenwirkungen in präklinischen und klinischen Versuchen zu erkennen. Siehe auch die Anmerkungen zu Behauptung A13 und Behauptung A16.

Referenzen

[1] Department of Health (Ed.). (2000). An organisation with a memory: Report of an expert group on learning from adverse events in the NHS. The Stationery Office.

[2] Wu, T. Y., Jen, M. H., Bottle, A., Molokhia, M., Aylin, P., Bell, D., & Majeed, A. (2010). Ten-year trends in hospital admissions for adverse drug reactions in England 1999–2009. Journal of the Royal Society of Medicine, 103(6), 239-250.

[3] Pirmohamed, M., James, S., Meakin, S., Green, C., Scott, A. K., Walley, T. J., ... & Breckenridge, A. M. (2004). Adverse drug reactions as cause of admission to hospital: prospective analysis of 18 820 patients. Bmj, 329(7456), 15-19.

[4] Commission of the European Communities. (2008). Proposal for a regulation amending, as regards pharmacovigilance of medicinal products for human use. Regulation (EC) No 726/2004. Impact Assessment. European Commission.

[5] Elliott, R., Camacho, E., Campbell, F., Jankovic, D., St James, M. M., Kaltenthaler, E., ... & Faria, R. (2018). Prevalence and economic burden of medication errors in the NHS in England. Rapid evidence synthesis and economic analysis of the prevalence and burden of medication error in the UK.

Behauptung A19: Nebenwirkungen von Medikamenten würden mehr Menschen töten als Krebs.

Originaltext

«In the UK's House Of Lords questions have been asked regarding why unexpected reactions to drugs (which passed animal tests) kill more people than cancer.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird eine nicht weiter spezifizierte Rede des Earl Baldwin of Bewdley vom 2. Dezember 1998 angegeben. Damit ist wahrscheinlich eine Rede im britischen Oberhaus von diesem Datum gemeint [1]. Die Rede von Earl Baldwin of Bewdley enthält keinen Vergleich der Todesopfer durch Krebs mit den Todesopfern durch Nebenwirkungen von Medikamenten in UK. Der Earl nennt lediglich Zahlen zu Nebenwirkungen aus den USA, um damit gegen den Einsatz von medizinisch wirksamen Substanzen zu argumentieren. Stattdessen sollen alternativmedizinische Methoden zur Behandlung schwerer Krankheiten wie AIDS zum Einsatz kommen.

Was stimmt?

Die Aussage ist falsch. 1998 lag die Krebssterblichkeit in Grossbritannien bei 321 Todesfällen pro 100’000 Personen [2]. Bei einer damaligen Einwohnerzahl von gut 58 Millionen Personen ergibt das über 180’000 Krebstote im Jahr, in dem der Earl seine Aussage gemacht hat. Selbst wenn man die in Behauptung A18 genannten Zahlen von 70’000 Todesfällen und schweren Behinderungen aufgrund von Nebenwirkungen als korrekt annehmen würde, wären das immer noch mehr als doppelt so viele Tote durch Krebs als durch Nebenwirkungen von Medikamenten.

Der Vergleich von Todesfällen in absoluten Zahlen durch Krebs (oder anderen Krankheiten) mit den Todesfällen durch Nebenwirkungen von Medikamenten ist irreführend, da in absoluten Zahlen viel mehr Menschen Medikamente einnehmen, als Menschen an Krebs erkranken. Eine unvoreingenommene Einschätzung der Letalitätsrate durch Nebenwirkungen von Medikamenten müsste deshalb die Letalitätsrate durch Nebenwirkungen mit der Letalitätsrate, welche ohne die eingesetzten Medikamente bestehen würde, vergleichen. Bei vielen schweren Krankheiten wie AIDS, Hepatitis, Krebs, Diabetes oder Herz-Kreislauferkrankungen würde der Verzicht auf Medikamente eine massive Erhöhung der Letalitätsrate nach sich ziehen. Allein für Krebs wird geschätzt, dass Krebsmedikamente in den UK im Jahr 2016 gut 830’000 Todesfälle verhindert haben [3].

Siehe zudem die Anmerkungen zu Behauptung A13, Behauptung A16 und Behauptung A18.

Referenzen

[1] Address in Reply to Her Majesty's Most Gracious Speech, HL Deb 02 December 1998 vol 595 cc528-92, Earl Baldwin of Bewdley (
https://api.parliament.uk/hist..., abgerufen am 20. Januar 2020)

[2] Cancer Research UK (2020), Cancer Mortality Statistics (https://www.cancerresearchuk.o..., abgerufen am 24. April 2020)

[3] Cancer Research UK (2020), Cancer Mortality Statistics (https://www.cancerresearchuk.o..., abgerufen am 19. Januar 2020).

Behauptung A20: Ein deutscher Ärztekongress sei zum Schluss gekommen, dass 6% aller tödlichen Krankheiten und 25% aller organischen Krankheiten auf Medikamente zurückzuführen seien.

Originaltext

«A German doctors' congress concluded that 6% of fatal illnesses and 25% of organic illnesses are caused by medicines. All have been animal tested.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird ein nicht weiter spezifiziertes Dokument eines Professor Hoff vom «Congress of Clinical Medicine» in Wiesbaden von 1976 genannt. Es konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, welche Publikation damit gemeint ist.

Was stimmt?

Es konnte nicht überprüft werden, ob ein deutscher Ärztekongress in der Tat die oben aufgeführten Behauptungen aufgestellt hat. Jedoch ist die Aussage, dass 6% aller tödlichen Krankheiten und 25% aller organischen Krankheiten auf Nebenwirkungen von Medikamenten zurückzuführen seien, nachweislich falsch. Wie in den Anmerkungen zu Behauptung A18 angegeben, geht die Europäische Union bei hospitalisierten Patienten von einer Todesrate von 0.12%-0.22% aus. Im Hinblick auf die Gesamtbevölkerung dürfte die Todesrate durch Nebenwirkungen von Medikamenten noch geringer sein.

Siehe Anmerkungen zu Behauptung A13 und Behauptung A16.

Referenzen

Behauptung A21: 88% aller Totgeburten seien auf Medikamente zurückzuführen.

Originaltext

«According to a thorough study, 88% of stillbirths are caused by drugs which passed animal tests.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird eine Ausgabe der Münchner Medizinischen Wochenschrift von 1969 (Ausgabe 34) genannt. Es konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, welcher Artikel damit gemeint war.

Was stimmt?

Aufgrund der ungenauen Quellenangaben konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, welche der in der Behauptung erwähnte Studie gemeint war. Die in der Behauptung genannten Zahlen werden von anderen wissenschaftlichen Untersuchungen jedoch nicht gestützt. Eine Fall-Kontroll-Studie zu den möglichen Ursachen von Totgeburten kam zum Schluss, dass über zwei Drittel aller beobachteten Totgeburten auf Erkrankungen der Plazenta zurückzuführen waren. Medikamente wurden als Ursachen gar nicht genannt (Helgadóttir et al. 2013) [1]. Eine Untersuchung, welche spezifisch den möglichen Einfluss von Medikamenten auf Totgeburten untersuchte, zeigte leicht höhere Raten von Totgeburten bei Frauen, die verschreibungspflichtige Schmerz- und Migränemittel konsumierten, aber auch bei jenen Frauen, die mehr Ultraschalluntersuchungen absolvierten. Da Ultraschalluntersuchungen nachweislich keine Gefahr für das ungeborene Kind darstellen, sprechen die Ergebnisse laut den Autoren dafür, dass zumindest ein Teil des erhöhten Risikos durch Störfaktoren erklärt werden kann, z.B. dass der Gesundheitszustand der betroffenen Frauen allgemein schlechter war, was den höheren Konsum von Schmerz- oder Migränemedikamenten, wie auch die vermehrten Ultraschall-Untersuchungen erklären könnte (Pastore et al. 1999) [2]. Eine Untersuchung, die spezifisch den Einfluss von Psychopharmaka auf Stillgeburten untersucht, kommt ebenfalls zum Schluss, dass die höhere Rate von Stillgeburten bei Frauen, die diese Art von Medikamenten konsumieren, auf Störfaktoren und nicht auf den Konsum der Medikamente zurückzuführen ist (Sørensen et al. 2015) [3].

Aus ethischen sowie auch praktischen Gründen werden schwangere Frauen grundsätzlich nicht zu klinischen Versuchen zugelassen. Das heisst, dass die fruchtschädigende Wirkung eines Medikaments in der Regel nicht am Menschen getestet wird, bevor es auf den Markt kommt. Umso wichtiger sind sorgfältige Abklärungen von möglichen Nebenwirkungen bei Tieren.

Siehe zudem Anmerkungen zu Behauptung A13, Behauptung A16 und Behauptung A18.

Referenzen

[1] Helgadóttir, L. B., Turowski, G., Skjeldestad, F. E., Jacobsen, A. F., Sandset, P. M., Roald, B., & Jacobsen, E. M. (2013). Classification of stillbirths and risk factors by cause of death–a case‐control study. Acta obstetricia et gynecologica Scandinavica, 92(3), 325-333.

[2] Pastore, L. M., Hertz-Picciotto, I., & Beaumont, J. J. (1999). Risk of stillbirth from medications, illnesses and medical procedures. Paediatric and perinatal epidemiology, 13(4), 421-430.

[3] Sørensen, M. J., Kjaersgaard, M. I. S., Pedersen, H. S., Vestergaard, M., Christensen, J., Olsen, J., ... & Bech, B. H. (2015). Risk of fetal death after treatment with antipsychotic medications during pregnancy. PLoS One, 10(7), e0132280.

Behauptung A22: 61% aller Geburtsdefekte hätten die gleiche Ursache.

Originaltext

«61% of birth defects were found to have the same cause.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird dieselbe Ausgabe der Münchner Wochenschrift wie in Behauptung A21 angegeben. Es konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, welcher Artikel damit gemeint war.

Was stimmt?

Die Aussage ist falsch. Das amerikanische Center for Disease Control and Prevention (CDC) schätzt, dass 1 von 33 Babies mit einem Geburtsfehler auf die Welt kommt [1]. Am häufigsten tritt Trisomie 21 als Geburtsdefekt auf, gefolgt von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten (Parker et al. 2010) [2]. Die Ursachen für solche Geburtsfehler sind vielfältig: Von rein genetischen Defekten wie bei Trisomie 21 über Vorerkrankungen wie Masern, schweres Übergewicht, Diabetes bis Nährstoff- und Vitamindefiziten (z.B. Mangel an Folsäure oder Vitamin B). Ebenso kann der Konsum von Alkohol, Zigaretten und anderen legalen oder illegalen Rauschmitteln während der Schwangerschaft zu Geburtsdefekten führen [3]. Auch einige Medikamente können Geburtsfehler hervorrufen, weshalb die Verschreibung von Medikamenten an schwangere Frauen immer eine Abwägung zwischen dem Risiko für das ungeborene Kind und dem für die werdende Mutter beinhaltet [4].

Siehe zudem die Anmerkungen zu Behauptung A13, Behauptung A16, Behauptung A18 und Behauptung A21.

Referenzen

[1] Center for Disease Control and Prevention (2019), Birth Defects: What are Birth Defects? (https://www.cdc.gov/ncbddd/birthdefects/facts.html, abgerufen am 22. Januar 2020).

[2] Parker, S. E., Mai, C. T., Canfield, M. A., Rickard, R., Wang, Y., Meyer, R. E., ... & National Birth Defects Prevention Network. (2010). Updated national birth prevalence estimates for selected birth defects in the United States, 2004–2006. Birth Defects Research Part A: Clinical and Molecular Teratology, 88(12), 1008-1016.

[3] Center for Disease Control and Prevention (2019), Birth Defects: Research & Tracking (https://www.cdc.gov/ncbddd/bir..., abgerufen am 22. Januar 2020).

[4] Center for Disease Control and Prevention (2020), Treating for Two: Medicine and Pregnancy, Key Findings (https://www.cdc.gov/pregnancy/..., abgerufen am 22. Januar 2020).

Behauptung A23: 70% der Medikamente, die menschliche Geburtsdefekte verursachen, seien bei schwangeren Affen als sicher eingestuft geworden.

Originaltext

«70% of drugs which cause human birth defects are safe in pregnant monkeys.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird ein Sachbuch von 1987 angegeben, das jedoch online nicht erhältlich ist (McLachlan et al. 1987) [1].

Was stimmt?

Die Aussage ist falsch. In einer ebenfalls aus den 80er-Jahren stammende Publikation wurde die Aussagekraft von Versuchen an Primaten für die Vorhersage der fruchtschädigenden Wirkung von 11 Substanzen untersucht. Von den 11 Substanzen waren 6 Substanzen fruchtschädigend und 2 Substanzen variabel fruchtschädigend. 3 Substanzen waren bei Menschen (27.3 %) fruchtschädigend, hatten aber keine negative Wirkungen auf nicht-menschliche Primaten (Schardein et al. 1985) [2]. Ein etwas jüngeres Review bezifferte die Sensitivität von Versuchen an Primaten bzgl. der fruchtschädigenden Wirkung von medizinischen Substanzen auf 82% (Schardein et al. 1989) [3]. Eine Fachmonographie von 2000 bezifferte die Sensitivität von Primatenversuchen zur Voraussage fruchtschädigender Effekte beim Menschen auf ca. 50% (Schardein 2000, S. 29) [4]. Eine jüngere Monographie gab hingegen an, dass von 13 Substanzen, die zwischen 2003 und 2014 an Primaten getestet wurden, 5 zu mehr Totgeburten oder Missbildungen führten, 4 pharmakologische Auswirkungen auf die Föten aufwiesen und 4 keine Auswirkungen auf die Embryos hatten. Nicht alle dieser Substanzen wurden bereits auf ihre potentiell fruchtschädigende Wirkung am Menschen untersucht. Unter der schlimmstmöglichen Annahme (alle Substanzen sind fruchtschädigend im Menschen), würde die Rate der fälschlicherweise als nicht-fruchtschädigend taxierten Substanzen bei 31% liegen. 38% würden als fruchtschädigend bei Primaten und Menschen taxiert und in weiteren 31% der Fälle würden Auswirkungen auf die Föten der Primaten festgestellt werden, ohne klaren Befund, ob diese als fruchtschädigend anzusehen sind (Weinbauer et al. 2015) [5].

Aus praktischen Gründen werden nicht alle für die Abklärung von fruchtschädigenden Wirkungen notwendigen Tests an Primaten durchgeführt (Faqi 2012) [6]. Weil die fruchtschädigende Wirkung und andere potentielle Nebenwirkungen von Medikamenten nicht in jedem Tier entdeckt werden, müssen medizinische Substanzen vor der Übertragung auf den Menschen an verschiedenen Spezies getestet werden. So können die vielen Nebenwirkungen erkannt werden, was auch die oben zitierten Publikationen zeigen.

Siehe zudem die Anmerkungen zu Behauptung A11, Behauptung A13, Behauptung A16, Behauptung A18 und Behauptung A21.

Referenzen

[1] McLachlan, J. A., Pratt, R. M., & Markert, C. L. (1987). Developmental Toxicology: Mechanisms and Risks. Cold Spring Harbor Laboratory Press.

[2] Schardein, J. L., Schwetz, B. A., & Kenel, M. F. (1985). Species sensitivities and prediction of teratogenic potential. Environmental health perspectives, 61, 55-67.

[3] Schardein, J. L., Keller, K. A., & Schwetz, B. A. (1989). Potential human developmental toxicants and the role of animal testing in their identification and characterization. CRC critical reviews in toxicology, 19(3), 251-339.

[4] Schardein, J. (2000). Chemically induced birth defects. CRC Press.

[5] Weinbauer, G. F., Bowman, C. J., Halpern, W. G., & Chellman, G. J. (2015). Developmental and reproductive toxicity testing. In The Nonhuman Primate in Nonclinical Drug Development and Safety Assessment (pp. 471-499). Academic Press.

[6] Faqi, A. S. (2012). A critical evaluation of developmental and reproductive toxicology in nonhuman primates. Systems biology in reproductive medicine, 58(1), 23-32.

Behauptung A24: 78% der Substanzen, die menschliche Föten schädigen, könnten mit einem einzigen tierversuchsfreien Test entdeckt werden.

Originaltext

«78% of foetus-damaging chemicals can be detected by one non-animal test.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird eine Publikation von 2005 genannt, welche das Potential von in-vitro Tests für Voraussagen fruchtschädigender Wirkungen bespricht (Knight et al. 2005) [1].

Was stimmt?

Die Publikation evaluierte drei Zellkulturmethoden, von denen der Test mit embryonalen Stammzellen von Mäusen am aussagekräftigsten war. Leicht fruchtschädigende Substanzen wurden in 84% der Fälle richtig erkannt, stark fruchtschädigende Substanzen in 83% der Fälle. Untersucht wurden insgesamt 20 Substanzen, 6 davon stark fruchtschädigend, 7 leicht fruchtschädigend, 7 gar nicht fruchtschädigend im Menschen.

Die obige Publikation zeigt auch, dass bei der Verwendung von lebenden Mäusen (anstelle von embryonalen Stammzellen von Mäusen), alle Substanzen mit schwer oder leicht fruchtschädigender Wirkung erkannt wurden. Andere Untersuchungen zeigen ebenfalls, dass Tests an lebenden Mäusen und Ratten die fruchtschädigende Wirkung von medizinischen Substanzen in 91% (Mäuse) bzw. 98% (Ratten) der Fälle entdecken konnten (Schardein 2000; Schardein et al. 1989).

Siehe zudem die Anmerkungen zu Behauptung A13, Behauptung A16, Behauptung A18 und Behauptung A21.

Referenzen

[1] Knight, A., Balcombe, J., & Bailey, J. (2005). The future of teratology research is in vitro. Biogenic Amines, 19(2), 97–145. https://doi.org/10.1163/156939...

[2] Schardein, J. L., Keller, K. A., & Schwetz, B. A. (1989). Potential human developmental toxicants and the role of animal testing in their identification and characterization. CRC critical reviews in toxicology, 19(3), 251-339.

[3] Schardein, J. (2000). Chemically induced birth defects. CRC Press.

Behauptung A25: Tausende von sicheren Substanzen würden Geburtsdefekte in Labortieren verursachen - inklusive Wasser, Sauerstoff, Vitamine oder Pflanzenöle. Von mehr als 1000 Substanzen, die für Labortiere gefährlich seien, seien 97% sicher für Menschen.

Originaltext

«Thousands of safe products cause birth defects in lab animals – including water, several vitamins, vegetable oils, oxygen and drinking waters. Of more than 1000 substances dangerous in lab animals, over 97% are safe in humans.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle werden mehrere Fachpublikationen angegeben, welche die Behauptung aber nicht stützen (Barlow 1978; Beall and Klein 1977; Dennis Slone et al. 1976; Klein et al. 1981; Lewis and Sax 2004; Turbow et al. 1971; Werler et al. 1989) [1, 2, 3, 4, 5, 6, 7]. Mit Ausnahme von zwei Publikationen (Barlow 1978; Lewis and Sax 2004) [1, 5] gehen die Texte ausschliesslich auf die Frage der fruchtschädigenden Wirkung von Aspirin ein.

Was stimmt?

Die Behauptung, dass tausende von Substanzen Geburtsfehler in Tieren verursachen, aber sicher für Menschen seien, ist ebenso falsch wie die Behauptung, dass Wasser, Vitamine, pflanzliche Öle oder Sauerstoff Geburtsfehler in Tieren verursachen. Nährstoff- und Vitamin-Defizite können zwar eine fruchtschädigende Wirkung haben (siehe Anmerkungen zu Behauptung A22), doch dafür dass Vitamine Geburtsfehler auslösen, konnten keine Nachweise gefunden werden. Auch für die Behauptung, dass 97% der in Tieren als gefährlich erachteten Substanzen sicher für den Menschen seien, konnten keine Belege gefunden werden. Es ist davon auszugehen, dass die Aussagen erfunden sind.

Siehe Anmerkungen zu Behauptung A13, Behauptung A16, Behauptung A18 undBehauptung A21.

Referenzen

[1] Barlow, S. (1978). Handbook of Teratology, Volume 1: General Principles and Etiology. Biochemical Society Transactions, 6(2), 473–474. https://doi.org/10.1042/bst006...

[2] Beall, J. R., & Klein, M. F. (1977). Enhancement of Aspirin-Induced Teratoginicity by Food Restriction in Rats. Toxicology and Applied Pharmacology, 39.

[3] Slone, D., Heinonen, O., Kaufman, D., Siskind, V., Monson, R., & Shapiro, S. (1976). Aspirin and congenital malformations. The Lancet, 307(7974), 1373-1375.

[4] Klein, K. L., Scott, W. J., & Wilson, J. G. (1981). Aspirin-induced teratogenesis: A unique pattern of cell death and subsequent polydactyly in the rat. Journal of Experimental Zoology, 216(1), 107–112. https://doi.org/10.1002/jez.14...

[5] Lewis, R. J., & Sax, N. I. (2004). Sax’s dangerous properties of industrial materials (11th ed). J. Wiley & Sons.

[6] Turbow, M. M., Clark, W. H., & Dipaolo, J. A. (1971). Embryonic abnormalities in hamsters following intrauterine injection of 6-aminonicotinamide. Teratology, 4(4), 427–431. https://doi.org/10.1002/tera.1...

[7] Werler, M. M., Mitchell, A. A., & Shapiro, S. (1989). The relation of aspirin use during the first trimester of pregnancy to congenital cardiac defects. New England Journal of Medicine, 321(24).

Behauptung A26: Eine der häufigsten lebensrettenden Operationen für ektopische Schwangerschaften sei aufgrund von Tierversuchen um 40 Jahre verzögert worden.

Originaltext

«One of the most common lifesaving operation (for ectopic pregnancies) was delayed 40 years by vivisection.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird eine Ausgabe der Birmingham Post vom 10. April 1892 genannt. Es konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, welcher Artikel damit gemeint war.

Was stimmt?

Die Behauptung ist falsch. Bei ektopischen Schwangerschaften hat sich der Embryo ausserhalb der Gebärmutterhöhle eingenistet, was eine grosse Gefahr für das Leben der Mutter sowie des ungeborenen Kindes darstellt. Die Behandlung besteht in der chirurgischen Entfernung des Embryos. Eine Literaturrecherche zu ektopischen Schwangerschaften in Tier und Mensch ergab, dass die chirurgische Entfernung als Behandlungsmethode bei Labortieren erst beschrieben wurde, als sie bereits für den Mensch entwickelt war. Tierversuche konnten diese Behandlung also nicht verhindert haben (Corpa 2006) [1].

Referenzen

[1] Corpa, J. M. (2006). Ectopic pregnancy in animals and humans. Reproduction, 131(4), 631–640. https://doi.org/10.1530/rep.1....

Behauptung A27: Hätte man sich auf Tierversuche verlassen, würden wir heute keine Anästhesie haben.

Originaltext

«The great Dr Hadwen noted "had animal experiments been relied upon...humanity would have been robbed of this great blessing of anaesthesia."»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird das Buch «The Difficulties of Dr. Deguerre» des Tierversuchsgegners Walter Hawden aus dem Jahre 1926 angegeben (Hawden 1926) [1].

Was stimmt?

Das oben zitierte Werk wurde in zeitgenössischen Fachkreisen dafür kritisiert, dass es die vorhandenen Daten unvollständig oder aus dem Zusammenhang gerissen präsentiere (JAMA 1926) [2]. Alle Anästhetika, die beim Menschen zum Einsatz kommen, werden auch an Tieren getestet. Auch wenn artspezifische Unterschiede bestehen, werden viele Anästhetika sowohl bei Tieren, wie auch beim Menschen eingesetzt (Carter and Story 2013) [3]. Ausserdem ist die Entdeckung der Anästhesie eng verknüpft mit Experimenten an Tieren (Robinson and Toledo 2012) [4].

Referenzen

[1] Hawden, W. R. (1926). The Difficulties of Dr. Deguerre.

[2] JAMA (1926). Review: The Difficulties of Dr. Deguerre. JAMA. 1926;87(16):1325. doi:10.1001/jama.1926.02680160073035

[3] Carter, J., & Story, D. A. (2013). Veterinary and Human Anaesthesia: An Overview of Some Parallels and Contrasts. Anaesthesia and Intensive Care, 41(6), 710–718. https://doi.org/10.1177/031005...

[4] Robinson, D. H., & Toledo, A. H. (2012). Historical Development of Modern Anesthesia. Journal of Investigative Surgery, 25(3), 141–149. https://doi.org/10.3109/089419...

Behauptung A28: Aspirin, Krebsmedikamente, Insulin, Penicillin und andere sichere Medikamente seien gefährlich für Tiere und in Tierversuchen gescheitert.

Originaltext

«Aspirin fails animal tests, as do digitalis (heart drug), cancer drugs, insulin (which causes animal birth defects), penicillin and other safe medicines. They would be banned if vivisection were believed.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird das Buch «Slaughter of the Innocents» des Schweizer Rennfahrers und Tierversuchsgegners Hans Ruesch genannt (Ruesch 1978) [1].

Was stimmt?

Die Behauptungen sind falsch.

Aspirin führt - falsch angewendet - auch bei Menschen zu Nebenwirkungen [2] und ist in der Dosierung, die beispielsweise in Katzen oder Ratten zu Vergiftungen führen, auch für Menschen toxisch [3] oder sogar tödlich [4].

Digitalis wurde vor Versuchen an Tieren zur Behandlung von Krankheiten verwendet, gegen die es keine Wirksamkeit besitzt (z.B. gegen Malaria). Dank Resultaten aus Tierversuchen wurde der Einsatz von Digitalis auf die Behandlung von Herzkrankheiten fokussiert [5]. Hinzu kommt, dass Digitalis auch bei Tieren wie Katzen, Hunden, Frettchen und Pferden zur Behandlung verschiedener Herzerkrankungen eingesetzt wird [6].

Insulin führt weder bei Menschen noch bei Tieren zu Geburtsdefekten - schliesslich ist es ein derart fundamentales Stoffwechselmolekül, dass es es selbst in Einzellern vorkommt [7, 8]. Eine Hypoglykamie ausgelöst durch Insulin kann jedoch durchaus Geburstdefekte auslösen - sowohl in Menschen wie auch in Tieren [9].

Der Wirkungsnachweis von Penicillin als Behandlung gegen bakterielle Infekte wurde unter Verwendung von Tierversuchen erbracht [10].

Alle Krebsmedikamente, die bei Patienten eingesetzt werden, werden zuvor an Tieren getestet - andernfalls gibt es keine Zulassung für Versuche an Menschen.

Das oben genannte Buch muss wie die Publikation von Walter Hawden (siehe Behauptung A27) kritisch betrachtet werden, da zwar auf wissenschaftliche Publikationen verwiesen wird, diese jedoch ohne den dazugehörigen Kontext und verzerrt wiedergegeben werden.

Referenzen

[1] Ruesch, H. (1978). Slaughter of the innocent.

[2] Magee, Chris (2015). More Myths Busted, Understanding Animal Research (http://www.understandinganimal..., abgerufen am 20. Januar 2020).

[3] Temple, A. R. (1981). Acute and chronic effects of aspirin toxicity and their treatment. Archives of internal medicine, 141(3), 364-369.

[4] Kato, H., Yoshimoto, K., & Ikegaya, H. (2010). Two cases of oral aspirin overdose. Journal of forensic and legal medicine, 17(5), 280-282.

[5] Speaking of Research. Animal Rights Pseudoscience.
(https://speakingofresearch.com..., abgerufen am 20. Januar 2020).

[6] Rania Gollakner. VCA Veterinary Hospitals. Digoxin (https://vcahospitals.com/know-..., abgerufen, 02. August 2021).

[7] Ebberink, R. H. M., Smit, A. B., & Van Minnen, J. (1989). The insulin family: evolution of structure and function in vertebrates and invertebrates. The Biological Bulletin, 177(2), 176-182.

[8] Souza, A. M. F. D., & López, J. A. (2004). Insulin or insulin-like studies on unicellular organisms: a review. Brazilian archives of biology and technology, 47(6), 973-981.

[9] Schwartz, R., & Teramo, K. A. (2000,). Effects of diabetic pregnancy on the fetus and newborn. In Seminars in perinatology (Vol. 24, No. 2, pp. 120-135). WB Saunders.

[10] Hare, R. (1982). New light on the history of penicillin. Medical History, 26(1), 1–24. https://doi.org/10.1017/S00257...

Behauptung A29: Bluttransfusionen seien durch Tierversuche um 200 Jahre verzögert worden.

Originaltext

«Blood transfusions were delayed 200 years by animal studies.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quellen werden drei ältere wissenschaftliche Monographien angegeben (Castiglioni 1947; McGrew 1985; Walker 1954) [1, 2, 3], welche die Behauptung jedoch nicht stützen können.

Was stimmt?

Es liess sich nicht eruieren, worauf die Behauptung gründet, dass Bluttransfusionen wegen Tierversuchen 200 Jahre verzögert worden seien. Eine der ersten erfolgreichen Bluttransfusionen wurde bereits im 17. Jahrhundert an Hunden durchgeführt [4] und die Entdeckung der verschiedenen Blutgruppen wie auch des sog. «Rhesus-Faktors» - zwei entscheidende Informationen, um sichere Transfusionen gewährleisten zu können - sind auf Versuche an Tieren zurückzuführen [5]. Der «Rhesus-Faktor» ist deswegen auch benannt nach Rhesusmakaken, die als eine der bei der Entdeckung involvierten Tierarten dienten.

Referenzen

[1] Castiglioni, A. (1947). A history of medicine. Knopf.

[2] McGrew, R. E. (1985). Encyclopedia of Medical History.

[3] Walker, K. (1954). The story of medicine. Oxford University Press.

[4] Garcia, Kristin (2016), A brief history of blood transfusion through the years, Stanford Blood Center (https://stanfordbloodcenter.or..., abgerufen am 20. Januar 2020).

[5] Speaking of Research. Animal Rights Pseudoscience.
(https://speakingofresearch.com..., abgerufen am 20. Januar 2020).

Behauptung A30: Die Polio-Impfung sei wegen Versuchen an Affen 40 Jahre verzögert worden.

Originaltext

«The polio vaccine was delayed 40 years by monkey tests.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird eine Monographie von 1971 angegeben, die aber keine solche Behauptung stützt (Paul 1971).

Was stimmt?

Bei der Entwicklung der Polio-Impfung spielten Versuche an Tieren, insbesondere an Makaken, eine wesentliche Rolle, was auch von Albert Sabin, dem Mitentwickler des Impfstoffs, betont wird [2].

Referenzen

[1] Paul, J. R. (1971). A history of poliomyelitis. A History of Poliomyelitis.

[2] Speaking of Research. Animal Rights Pseudoscience.
(https://speakingofresearch.com..., abgerufen am 20. Januar 2020).

Behauptung A31: 30 HIV-Impfungen, 33 Medikamenten gegen Verletzungen des Rückenmarks sowie über 700 Behandlungen für Schlaganfälle seien in Tieren entwickelt worden, aber bei Versuchen an Menschen gescheitert.

Originaltext

«30 HIV vaccines, 33 spinal cord damage drugs, and over 700 treatments for stroke have been developed in animals. None work in humans.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quellen werden angegeben:

  • Spinal cord injury: (Maiman 1988) [1]
  • Stroke: (Birmingham 2002) [2]
  • HIV: (Berman et al. 1990; Connor et al. 1998; Morgan et al. 2008; Poignard et al. 1999) [3,4,5,6]

Was stimmt?

Für HIV existieren keine Impfungen, jedoch haben Tierversuche zur Entwicklung verschiedener Medikamente geführt, welche HIV von einer tödlichen zu einer chronischen Krankheit gemacht haben [7].

Die einzige zitierte Publikation, welche die Erfolgsrate von Behandlungen von Rückenmarksschäden thematisiert, stammt aus dem Jahr 1988. Heute existieren Behandlungsmethoden, die in Tieren entwickelt wurden und auch beim Menschen anschlagen (z.B. Formento et al. 2018; Kjell and Olson 2016) [7, 8], die Behauptung ist damit zumindest veraltet.

Die Erfolgsrate von in Tieren entwickelten Behandlungen gegen Schlaganfälle ist in der Tat sehr gering (aber nicht gleich null, wie behauptet - siehe dazu auch Behauptung B5) und ein wichtiger Treiber auf der Suche nach verlässlichen Tiermodellen zur besseren Erforschung solcher Erkrankungen.

Referenzen

[1] Maiman, D. (1988). Symposium on Spinal Cord Injury Models: Introduction. The Journal of The American Paraplegia Society, 11(2), 22–25. https://doi.org/10.1080/019523...

[2] Birmingham, K. (2002). Further concern over rules that impede research. Nature Medicine, 8, 5.

[3] Berman, P. W., Gregory, T. J., Riddle, L., Nakamura, G. R., Champe, M. A., Porter, J. P., Wurm, F. M., Hershberg, R. D., Cobb, E. K., & Eichberg, J. W. (1990). Protection of chimpanzees from infection by HIV-1 after vaccination with recombinant glycoprotein gp120 but not gp160. Nature, 345(6276), 622–625.

[4] Connor, R. I., Korber, B. T. M., Graham, B. S., Hahn, B. H., Ho, D. D., Walker, B. D., Neumann, A. U., Vermund, S. H., Mestecky, J., Jackson, S., Fenamore, E., Cao, Y., Gao, F., Kalams, S., Kunstman, K. J., McDonald, D., McWilliams, N., Trkola, A., Moore, J. P., & Wolinsky, S. M. (1998). Immunological and Virological Analyses of Persons Infected by Human Immunodeficiency Virus Type 1 while Participating in Trials of Recombinant gp120 Subunit Vaccines. Journal of Virology, 72(2), 1552–1576. https://doi.org/10.1128/JVI.72...

[5] Morgan, C., Marthas, M., Miller, C., Duerr, A., Cheng-Mayer, C., Desrosiers, R., Flores, J., Haigwood, N., Hu, S.-L., Johnson, R. P., Lifson, J., Montefiori, D., Moore, J., Robert-Guroff, M., Robinson, H., Self, S., & Corey, L. (2008). The Use of Nonhuman Primate Models in HIV Vaccine Development. PLoS Medicine, 5(8), e173. https://doi.org/10.1371/journa...

[6] Poignard, P., Sabbe, R., Picchio, G. R., Wang, M., Gulizia, R. J., Katinger, H., Parren, P. W. H. I., Mosier, D. E., & Burton, D. R. (1999). Neutralizing Antibodies Have Limited Effects on the Control of Established HIV-1 Infection In Vivo. Immunity, 10(4), 431–438. https://doi.org/10.1016/S1074-...

[7] Formento, E., Minassian, K., Wagner, F., Mignardot, J. B., Le Goff-Mignardot, C. G., Rowald, A., Bloch, J., Micera, S., Capogrosso, M., & Courtine, G. (2018). Electrical spinal cord stimulation must preserve proprioception to enable locomotion in humans with spinal cord injury. Nature Neuroscience, 21(12), 1728–1741. https://doi.org/10.1038/s41593...

[8] Kjell, J., & Olson, L. (2016). Rat models of spinal cord injury: From pathology to potential therapies. Disease Models & Mechanisms, 9(10), 1125–1137. https://doi.org/10.1242/dmm.02...

[9] Centers for Disease Control and Prevention (2011). Morbidity and Mortality Weekly Report. Vol 60. No. 21 (https://www.cdc.gov/mmwr/PDF/w..., abgerufen am 12. Februar 2020)

Behauptung A32: Obwohl viele Nobelpreise an Forschende, die mit Tierversuchen arbeiten, gingen, würden nur 45% der Ausgezeichneten zustimmen, dass Tierversuche wichtig seien.

Originaltext

«Despite many Nobel prizes going to vivisectors, only 45% agree that animal experiments are crucial.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird ein nicht weiter spezifizierter Beitrag von 1998 auf der nicht mehr existierende Webseite der britischen «Research Defence Society» angegeben.

Was stimmt?

Die Behauptung ist falsch. Die Zahlen scheinen aus einer Umfrage unter 71 Forschenden zu stammen, die den Nobelpreis in Physiologie und Medizin erhalten haben. Die Umfrage wurde von 39 Forschenden beantwortet, wobei 32 aussagten, dass Tierversuche entscheidend für ihre eigene Arbeit waren. 39 von 39 Forschenden stimmten zudem der Aussage zu, dass Tierversuche entscheidend waren für die Entdeckung und Weiterentwicklung vieler physiologischer und medizinischer Durchbrüche und dass Tierversuche immer noch notwendig für die Untersuchung und Weiterentwicklung medizinischer Behandlungen sind. Die Aussage, dass nur 45% der Nobelpreisträger*innen zustimmen würden, dass Tierversuche entscheidend sind für die Forschung, stammt aus einer falschen Darstellung der Zahlen durch Tierversuchsgegner*innen: Diese hatten jene Forschenden, die gar nicht erst auf die Umfrage geantwortet hatten, kurzerhand und irreführenderweise als Kritiker*innen von Tierversuchen gewertet [1].

Referenzen

[1] Speaking of Research. Animal Rights Pseudoscience.
(https://speakingofresearch.com..., abgerufen am 20. Januar 2020).

Behauptung A33: Der Direktor der britischen «Research Defence Society» sagte, dass medizinischer Fortschritt auch ohne Tierversuche möglich sei.

Originaltext

«The Director of Research Defence Society, (which serves only to defend vivisection) was asked if medical progress could have been achieved without animal use. His written reply was «I am sure it could be.»

Worauf stützt sich die Behauptung?

Als Quelle wird auf ein Buch des Tierversuchsgegners Tony Page von 1997 verwiesen (Page 1997) [1].

Was stimmt?

Die Frage wurde Mark Matfield, dem damaligen Direktor der Research Defence Society gestellt. Seine vollständige Antwort lautete: «I am sure it could be, but it would not be very much progress and it would not happen very quickly» [2].

Referenzen

[1] Page, T. (1997). Vivisection unveiled. Jon Carpenter

[2] Speaking of Research. Animal Rights Pseudoscience.
(https://speakingofresearch.com..., abgerufen am 20. Januar 2020).


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Servan Grüninger ist Mitgründer und Präsident von Reatch. Er hat sein Studium mit Politikwissenschaften und Recht begonnen und mit Biostatistik und Computational Science abgeschlossen. Zurzeit doktoriert er am Institut für Mathematik der Universität Zürich in Biostatistik. Weitere Informationen: www.servangrueninger.ch.

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Jonas Füglistaler schloss einen Master in Biotechnologie an der ETH Zürich und einen zweiten in Biostatistik an der UZH ab. Seither arbeitet er im pharmazeutischen R&D im IT Bereich. Sein besonderes Interesse gilt neuen Erkenntnissen aus verschiedenen wissenschaftlichen Diziplinen, die zum Fortschritt der Medizin beitragen.

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Fabio Hasler hat einen Master in Biologie von der ETH Zürich. Die letzten drei Jahre arbeitete er in der immunologischen Grundlagenforschung am Universitätsspital Zürich.

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Pascal Broggi studiert im Master Molecular Bioenginnering an der ETH Zürich. Momentan arbeitet er als Praktikant im Pharmakologie Department von Roche, wo er an der Entwicklung von 3D-Zellmodellen forscht, die für die Validierung der Medikamentenwirkung verwendet werden können. Sein besonderes Interesse gilt sogenannten Organ-on-a-chip Systeme, die funktionelle Organeinheiten nachahmen und zum Fortschritt der Medizin beitragen sollen.

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