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Positionspapier zur Initiative «Ja zur Tierversuchsfreien Zukunft»

Die Arbeitsgruppe "Verantwortungsvolle Tierversuche” von Reatch lehnt die Initiative «Ja zur tierversuchsfreien Zukunft» ab. In den Faktenblättern unseres Themendossiers erklären wir, warum der Einsatz von Tieren für den Fortschritt der biomedizinischen Forschung weiterhin notwendig ist.

Die Volksinitiative «Ja zur tierversuchsfreien Zukunft» (formell eingereicht am 11. November 2024) fordert erneut ein vollständiges Verbot der Forschung an Tieren. Die erste Initiative derselben Initianten stand am 13. Februar 2022 zur Abstimmung und wurde im Parlament von keiner Fraktion unterstützt und vom Bundesrat sowie dem Nationalrat ohne Gegenvorschlag abgelehnt. Auch das Stimmvolk wies die Initiative deutlich zurück. Für die Legislative, Exekutive und die ablehnenden Stimmen galten Tierversuche sowie Forschung am Menschen als notwendig, um den Forschungsstandort Schweiz zu sichern und die medizinische Versorgung zu gewährleisten [1]. Im Gegensatz zur ersten Initiative beinhaltet der zweite Anlauf der Initianten weder ein Verbot der Forschung an Menschen noch des Imports von Forschungsprodukten mehr. Allerdings soll neben Tierversuchen neu auch das Halten, Handeln und Züchten von Versuchstieren untersagt werden. Die Forderungen im Zusammenhang mit Tierversuchen wurden also weiter verschärft, was den biomedizinischen Forschungsplatz sowie die medizinische Sicherheit in der Schweiz erneut infrage stellt. Die Arbeitsgruppe "Verantwortungsvolle Tierversuche” von Reatch lehnt die Initiative daher ab mit den hier folgenden Argumentationspunkten. Für weiterführende Informationen verweisen wir auf unsere Erklärungsdokumente, wie dem FAQ: Tierversuche in der Schweiz und dem Faktencheck Tierversuche.

Den medizinischen Fortschritt sicherstellen

Tiermodelle spielen eine massgebliche Rolle in der biomedizinischen Forschung [2] und tragen zur Entwicklung von innovativen Therapien für bisher schwer oder nicht behandelbare Krankheiten bei [3]. Dazu gehören u.a. Zell- und Gentherapien sowie neuartige (Krebs-)Impfstoffe. Einige Forschungsfragen können mittlerweile ohne den Einsatz von Tieren beantwortet werden, was vor einiger Zeit noch nicht möglich war. Allerdings basiert die Entwicklung solcher Alternativmethoden oft auf Erkenntnissen, die aus Tierversuchen stammen. Zudem bleiben Tierversuche nach aktuellem Stand der Forschung ein entscheidendes Instrument für den medizinischen Fortschritt, da tierversuchsfreie Methoden bislang nicht in der Lage sind, das komplexe Zusammenspiel von Organ-, Kreislauf- und Nervensystemen vollständig abzubilden. Dieses Verständnis ist jedoch notwendig, um die systemische Wirkung von Therapien und potenzielle Nebenwirkungen neuer Medikamente besser zu erforschen. Zudem wäre es unethisch und gesetzlich verboten, neue Therapien direkt am Menschen zu testen, ohne vorherige umfassende Prüfungen durchzuführen.

Forschungsplatz Schweiz bewahren

Ein bedingungsloses Verbot von Tierversuchen hätte weitreichende Auswirkungen, die über die Biomedizin hinausgehen. Es würde alle Industrien und Forschungsbereiche betreffen, in denen Tiere für Produktentwicklung, Qualitätssicherung, Ausbildung oder Grundlagenforschung eingesetzt werden. Ein solches Totalverbot der Forschung mit und an Tieren hätte erhebliche Konsequenzen für den Forschungsstandort Schweiz. Unternehmen und Universitäten wären gezwungen, zentrale Forschungsaktivitäten ins Ausland zu verlagern, was die Position der Schweiz in der globalen Forschung beeinträchtigen würde, ohne global gesehen zu einer Reduktion von Tierversuchen beizutragen.

Patient*innen, Tiere und Umwelt schützen

Die Initiative gefährdet die inländische Patientensicherheit und medizinische Versorgung, da ein Verbot von Tierversuchen zu erheblichen Verzögerungen bei der Markteinführung neuer Medikamente in der Schweiz führen kann, wenn diese im Ausland entwickelt wurden. Darüber hinaus würde die Abwanderung von Forschungstätigkeiten der Pharmaunternehmen die Anzahl und Qualität inländischer klinischer Studien verringern, wodurch Schweizer Patienten weniger guten Zugang zu den neuesten Therapien hätten. Durch die Verunmöglichung der Qualitätssicherung mit Tieren muss ferner mit Versorgungsengpässen in vielen Lebensbereichen – nicht nur im medizinischen – gerechnet werden (z.B. Lebensmittelzusatzstoffe oder Agrochemikalien [4]). Denn wenn die Qualitätskontrolle im Ausland durchgeführt werden muss, wird zusätzliche Zeit für Transport, Abstimmung und Überprüfung erforderlich. Die Initiative macht ausserdem keine Unterscheidungen zwischen den Schweregraden der Versuche. Schwerbelastende Versuche wären (nach 7 Jahren) damit genauso verboten wie komplett schmerzfreie Beobachtungsstudien. Gerade für den Umweltschutz und die Verhaltensbiologie wäre das fatal, weil damit keine Möglichkeiten mehr bestünde, ökologische Forschung mit Tieren oder Forschung im Bereich der Tiermedizin durchzuführen. So könnten beispielsweise die Auswirkungen des Klimawandels auf die inländischen Tiere genauso wenig untersucht werden wie das Verhalten von Schweizer Wild- und Haustieren. Darüber hinaus können Tiere auch Patienten sein. Ein Verbot von Tierversuchen würde auch die Entwicklung von Medikamenten und Therapien, die im Interesse von Nutz- und Haustieren entwickelt werden, verunmöglichen.

Die 3R-Prinzipien und Schweizer Forschung fördern

Die Schweizer Tierversuchsgesetzgebung ist eine der strengsten der Welt und die aktuellen Rahmenbedingungen ermöglichen ethisch verantwortliche Forschung. Jeder Tierversuch erfordert einen formellen Antrag sowie eine behördliche Prüfung inklusive Evaluierung durch die kantonale Ethikkomission. Notwendige Voraussetzung für eine Tierversuchsbewilligung ist die Einhaltung der formalen rechtlichen Bestimmungen sowie die Planung der Experimente gemäss den aktuellen tiermedizinischen und wissenschaftlichen Standards. Das «3R-Prinzip» («Replace, Reduce, Refine») verpflichtet Forschende ausserdem zu überprüfen, ob das Versuchsziel auch ohne Tiere («Replace»), mit weniger Tieren («Reduce») oder mit weniger belastenden Massnahmen («Refine») erreicht werden kann. Darüber hinaus wird bei jedem Tierversuchsgesuch eine Güterabwägung vorgenommen: Ein begründetes Urteil darüber, ob die Belastung des Tieres (Leiden, Schmerzen, Angst und Schäden) mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, dem medizinischen Nutzen für Mensch oder Tier oder dem Schutz der Umwelt gerechtfertigt werden kann. Die 3R-Prinzipien sind ein fester Bestandteil der Schweizer Forschungslandschaft und konnten die Anzahl der Tierversuche in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten bereits stark reduzieren (von 2 Millionen in 1983 auf 600’00, stand 2023) - obwohl die biomedizinische Forschungsförderung stetig zunimmt - und deren Durchführung verbessert werden [5],[6],[7]. Ein inländisches Totalverbot von Tierversuchen würde dazu führen, dass Tierversuche in Länder ausgelagert werden, die gegebenenfalls weniger strenge Tierschutzbestimmungen kennen. Das würde insgesamt zu mehr statt weniger Tierleid führen. Besser wäre es, die Weiterentwicklung der 3R-Prinzipien im Inland zu fördern.

Übertragbarkeit auf den Menschen sicherstellen

Die biomedizinische Forschung ist komplex und die Verwendung von mehreren Modellen erhöht die Voraussagekraft über die Wirksamkeit und Sicherheit von neuen Therapien im Menschen. Es werden also immer auch tierversuchsfreie Methoden bei der Entwicklung eingesetzt. Ferner hängt der Translationserfolg nicht nur von der Übereinstimmung zwischen Tiermodellen und menschlichen Patienten ab. Weitere Faktoren, die zum Abbruch oder Scheitern von klinischen Studien führen können, beinhalten wirtschaftliche Überlegungen sowie Datenintegritätsprobleme - beispielsweise Publikationsbias in der wissenschaftlichen Literatur, die auch die Forschung mit tierversuchsfreien Methoden und mit Menschen betreffen.

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Das ist ein Beitrag des Themendossiers «Verantwortungsvolle Tierversuche».

Hier geht es zur Dossierübersicht.

Referenzen

[1]

VOX-Analyse Februar 2022 "Nachbefragung und Analyse zur eidgenössischen Volksabstimmung vom 13. Februar 2022"
https://vox.gfsbern.ch/wp-content/uploads/2022/04/d_vox_schlussbericht_feb_2022_v2_def.pdf

[2]

Mukherjee, P., et al. "Role of animal models in biomedical research: a review." Laboratory Animal Research 38.1 (2022): 18. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC9247923/

[3]

How Animals Have Helped Improve Public Health, National Institute of Health
How Animals Have Helped Improve Public Health | grants.nih.gov

[4]

Fachinformation Tierversuche: Sicherheitsprüfungen 4.01, Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und
Veterinärwesen (BLV)
https://www.blv.admin.ch/dam/blv/de/dokumente/tiere/tierversuche/toxizitaetsrichtlinie.pdf.download.pdf/fachinformation-4-01-sicherheitsheitspruefung-stoffe-erzeugnisse.pdf

[5]

Medienmitteilung vom BAG am 22.06.2022 "Biomedizinische Forschung und Technologie: Bundesrat genehmigt Masterplan für 2022–2026"
https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/das-bag/aktuell/medienmitteilungen.msg-id-89375.html

[6]

Tierversuchsstatistik 2023 (BLV)
https://www.tv-statistik.ch/de/statistik/index.php

[7]

Swissuniversities "FORSCHUNG UND TIERVERSUCHE IN DER SCHWEIZ: DAS 3R-PRINZIP"
https://www.swissuniversities.ch/fileadmin/swissuniversities/Dokumente/Forschung/Tierversuche/de_3R.PDF

Autor*innen

Autor*in

Team Entwicklung & Qualität und Dossierverantwortlicher "Verantwortungsvolle Tierversuche"

Jonas Füglistaler schloss einen Master in Biotechnologie an der ETH Zürich und einen zweiten in Biostatistik an der UZH ab. Seither arbeitet er im pharmazeutischen R&D im IT Bereich. Sein besonderes Interesse gilt neuen Erkenntnissen aus verschiedenen wissenschaftlichen Diziplinen, die zum Fortschritt der Medizin beitragen.

Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.

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