Dieser Artikel erschien ursprünglich am 24. November 2024 bei Perspective Daily. Das konstruktive Onlinemagazin veröffentlicht täglich einen gut recherchierten, lösungsorientierten Artikel gegen die tägliche Weltuntergangsstimmung. Interessierte können 2 Wochen lang kostenfrei probelesen oder auch -hören. Im Rahmen unserer Kooperation veröffentlichen wir gegenseitig Artikel und freuen uns über den inspirierenden Austausch und die Zusammenarbeit.
Geben wir es zu: Geier sind nicht gerade die Lieblingsvögel vieler Menschen. Mit ihren geknickten Hälsen und grimmig dreinschauenden Gesichtern gelten sie eher als hässlich. Die Ernährung vieler Geierarten von Aas und Knochen ist auch nicht gerade appetitlich. Die Assoziation mit Tod tut ihr Übriges.
Doch nach dieser Meldung siehst auch du die Vögel in einem besseren Licht – versprochen. Geier besetzen als Lebewesen, die organische Substanzen zerlegen und damit quasi die Natur aufräumen, eine ganz besondere ökologische Nische. Man könnte sagen, sie sind die Gesundheitspolizei der Natur. Und genau das machen sich Wissenschaftler:innen der GAIA-Initiative gerade zunutze. GAIA steht dabei für »Guardian of the Wild using Artificial Intelligence Applications« (auf Deutsch: Naturwächter, die KI-Anwendungen nutzen). Sie soll eine Möglichkeit entwickeln, frühzeitig vor ökologischen Veränderungen und kritischen Ereignissen in der Umwelt zu warnen, damit Menschen darauf reagieren können. In Zeiten der Erderhitzung und des Klimawandels ist das logischerweise wichtiger denn je.
Das Projekt hat 2022 als Zusammenschluss aus Forschungsinstituten, Naturschutzorganisationen und Unternehmen begonnen. Kooperationspartner sind unter anderem das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung, das Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen IIS aus Erlangen und der Zoo und Tierpark Berlin. Unterstützt wird es von der Bundesregierung und dem Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt (DLR).
Sie wissen genau, wie kritisch die Lage der Natur gerade ist: »41.000 Arten gelten derzeit als vom Aussterben bedroht«, schreibt die GAIA-Initiative und warnt vor einem »Massenaussterben«. Sie wollen etwas dagegen tun und dabei helfen, »maßgeschneiderte technische Lösungen zu entwickeln, um die globalen Umweltschutzbemühungen zu verbessern.« Ein Teil des Projektes dreht sich um ein tieferes Verständnis der »Biologie und Ökologie ausgewählter Tierarten und die Funktionsweise von Ökosystemen, in denen sie leben«, erklärt die Initiative. Denn nur mit ausreichend Daten können wir nachvollziehen, wie sich die derzeitigen Umwälzungen auswirken.
Einer, der beim Datensammeln helfen kann, ist Bruno. Er ist einer der Weißrückengeier im Tierpark Berlin, die den Wissenschaftler:innen bei ihrer Forschung helfen. Dafür statteten sie die Tiere seit 2022 mit einer weltweit neuartigen Sendergeneration aus, die eine Kombination aus GPS und Videoaufnahmen ermöglicht. Eine auf der Brust des Geiers befestigte kleine Kamera soll dazu in entscheidenden Momenten Fotos schießen. Wozu das dient, erklärt Wanja Rast, KI-Spezialist am Leibniz-IZW: "Wir können sekundengenau identifizieren, wann der Vogel welches typische Verhalten zeigt und können diese Stellen somit als Muster in den Bewegungsdaten erkennen. Diese Trainingsdaten sind die Grundlage der Künstlichen Intelligenz, welche erstmals direkt auf dem Sender bestimmte Verhaltensmuster erkennt und bewertet."
Die KI-Anwendung lernt also, Verhaltensabweichungen der Geier zu erkennen. Da Geier auf Aas reagieren, könnte die KI also anhand des Fressverhaltens der Tiere erkennen, ob ungewöhnlich viele Tiere in einer Region sterben – sei es durch Wildtierkrankheit, Umweltgifte oder die illegale Tötung durch Menschenhand. Jan Zwilling von der GAIA-Initiative erklärt, warum sich gerade Geier dafür eignen: "Geier sind evolutionär perfekt darauf angepasst, zuverlässig und schnell Kadaver aufzuspüren. Sie verfügen über einen herausragenden Sehsinn und eine ausgefeilte Kommunikation, sodass sie im Verbund vieler Individuen sehr große Landstriche ›überwachen‹ können."
In Deutschland wird dafür die Technik erst mal an Zootieren wie Bruno weiterentwickelt, die dann im natürlichen Lebensraum der Tiere im südlichen Afrika zum Einsatz kommt. 130 Tiere wurden bis heute bereits mit GAIA-Sendern versehen, die meisten in Namibia.
Die Zukunftsvision: Ein Netz des Lebens
Das GAIA-Projekt denkt aber voraus. Denn die Sender ließen sich auch auf andere Tierarten anpassen, so die Idee. Und die Forscher:innen arbeiten an einer Möglichkeit, sie untereinander zu vernetzen. Damit würden freilebende Tiere zu einer Heerschar von Augen und Ohren der Wissenschaft in der Umwelt. Die Forscher:innen hoffen, »die Grenzen des technisch Machbaren zu erweitern und ein globales Netzwerk aus tierischer, menschlicher und künstlicher Intelligenz zu erschaffen« – sie nennen es das »Internet des Lebens«.
Wie weit sich das verwirklichen lässt, bleibt abzuwarten. Doch auch die bisher ausgestatteten Tiere leisten bereits Forschungsarbeit – und verleihen Geiern ganz nebenbei ein positiveres Image als fliegende Wächter der Natur.
Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.
Comments (0)