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Mensch ist nicht gleich Tier. Wie lassen sich Erkenntnisse von Tierversuchen dennoch auf den Menschen übertragen?

Tiere und Menschen sind evolutionär miteinander verwandt, weshalb viele biologische Strukturen und Prozesse miteinander vergleichbar sind. Es gibt jedoch auch wesentliche Unterschiede zwischen biologischen Arten, weshalb für jede Forschungsfrage die Wahl des geeigneten Tiermodells entscheidend ist. Dabei können Forschende auf eine Vielzahl verschiedener Methoden und Ansätze zurückgreifen, um Tiermodelle gezielt an die menschliche Biologie anzupassen.

Der Mensch ist mit allen Tieren auf dieser Welt evolutionär verwandt. Das heisst, dass Menschen und Tiere gemeinsame Vorfahren besitzen und damit verschiedene biologische Gemeinsamkeiten besitzen. Der Verwandtschaftsgrad ist freilich nicht bei allen Tieren und in jeder Hinsicht gleich stark ausgeprägt. Bei Menschenaffen wie Schimpansen oder Gorillas ist er durchschnittlich grösser als bei wirbellosen Tieren wie Fadenwürmern oder Fruchtfliegen. Doch bei allen Tieren finden sich biologische Strukturen und physiologische Prozesse, die auch beim Menschen erhalten sind. So wurde beispielweise der Prozess des «programmierten Zelltods», der u.a. bei der Entstehung von Krebs eine wesentliche Rolle spielt, bei millimeterkleinen Fadenwürmern entdeckt - 2002 gab es dafür sogar einen Nobelpreis [1].

Trotzdem kann der gleiche Versuch bei unterschiedlichen Tierarten zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, da gewisse Stoffwechselprozesse anders ablaufen. Ein Beispiel dafür ist die unterschiedliche Wirkung von verschiedenen Antibiotika in Kleintierarten wie Mäusen, Ratten, Meerschweinchen, Kaninchen oder Hamstern. So ist «Penicillin» in vergleichsweise geringen Mengen toxisch für Meerschweinchen und Hamster, jedoch nicht für Mäuse und Ratten [2]. Die richtige Wahl des Modellorganismus ist also essentiell und hängt von verschiedenen Kriterien ab. Ein gutes Tiermodell für die medizinische Forschung ist dem Menschen sowohl hinsichtlich der untersuchten biologischen Funktionen wie auch in genetischer Hinsicht möglichst ähnlich [3]. Beeinflusst wird die Wahl eines Tiermodells auch vom vorhandenen Hintergrundwissen über die Tierart, den vorhandenen methodischen Möglichkeiten, Fragen der Kosten- und Haltungseffizienz oder ethischen Überlegungen.

So kommen gut etablierte und vergleichsweise einfach zu haltende Tiermodelle wie Nagetiere, Zebrafische oder Fruchtfliegen häufiger zum Einsatz als eher exotische oder schwierig zu haltende Organismen wie Eidechsen, Tauben oder Heuschrecken [4]. Mäuse sind aus verschiedenen Gründen die mit Abstand am häufigsten eingesetzten Labortiere in der Schweiz [5]: Sie sind dem Menschen sowohl genetisch wie auch physiologisch in vielerlei Hinsicht ähnlich; es gibt bereits eine Vielzahl gut etablierter Krankheitsmodelle mit Mäusen; sie lassen sich platz- und kosteneffizient halten; sie haben eine relativ kurze Generationszeit; und sie werden gesetzlich evolutionär tiefer eingestuft als beispielsweise Primaten [6]. Das bedeutet, dass sich viele Erkenntnisse auf den Menschen übertragen lassen («genetische und physiologische Ähnlichkeit»); dass es für viele Krankheiten, an denen geforscht wird, spezifische Züchtungen von Mäusen gibt, an denen sich diese Krankheiten erforschen lassen («gut etablierte Krankheitsmodelle»); dass die Kosten für die Forschung sind als für die Forschung am Menschen (platz- und kosteneffiziente Haltung); dass sich auch Erbkrankheiten und entwicklungsbiologische Fragen in kurzer Zeit über mehrere Generationen hinweg erforschen lassen («kurze Generationszeit»); und dass die rechtlichen Hürden für die Forschung weniger hoch sind als beispielsweise bei Primaten («evolutionäre Stellung»). Hinzu kommt, dass Mausmodelle laufend auf neue Erkenntnisse angepasst werden. So hat sich beispielsweise das «Internationale Konsortium zur Maus Phänotypisierung» zum Ziel gesetzt, die Funktion jedes Gens zu katalogisieren und pro Gen eine neue Mauslinie zu züchten [7]. Künftig soll es also möglich sein, die Funktion jedes einzelnen Gens mit einer bestimmten Mauszüchtung erforschen zu können.

Bevor eine Tierart für die Modellierung einer menschlichen Krankheit oder eines biologischen Prozesses im Menschen verwendet wird, werden oft standardisierte Versuche an verschiedenen Versuchstieren durchgeführt, um ein gut übertragbares Tiermodell zu identifizieren. Ein Tiermodell kann dabei auf verschiedene Arten entstehen. Wenn menschliche Krankheiten natürlicherweise bei Tieren auftreten, können diese direkt als Tiermodell verwendet werden. Ein Beispiel dafür sind Mauslinien, welche besonders anfällig auf Diabetes sind [8]. In anderen Fällen werden Tiere genetisch so verändert, dass sie ähnliche Krankheiten entwickeln wie Menschen oder sie werden mit Erregern infiziert, die eine bestimmte Krankheit auslösen, die auch beim Menschen auftritt. Von besonderem Interesse sind Tiermodelle, die gegen bestimmte menschliche Krankheiten immun sind, da diese wichtige Aufschlüsse über mögliche Therapieansätze geben können [9]. So können Mäuse natürlicherweise nicht mit dem Erreger von COVID-19 (SARS-CoV-2) infiziert werden, da ihnen ein spezifisches Zelloberflächenprotein fehlt [10]. Sie können jedoch genetisch verändert werden, um die Gemeinsamkeiten zum Menschen zu erhöhen. Auch für COVID-19 wurden so Mausmodelle erstellt, bei denen das Oberflächenprotein des Menschen eingesetzt wurde, um eine Infektion zu ermöglichen und den Krankheitsverlauf besser zu simulieren [11].

Mehr zur Übertragbarkeit von Tierversuchen findet sich auf dem Themenportal «Tierversuche erklärt» der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz [12].

Das ist ein Beitrag des Themendossiers «Tierversuche in der Schweiz».

Hier geht es zur Dossierübersicht.

Referenzen

[2]

Morris, T. H. (1995). Antibiotic therapeutics in laboratory animals. Laboratory Animals, 29(1), 16-36.

[3]

Swearengen, J. R. (2018). Choosing the right animal model for infectious disease research. Animal models and experimental medicine, 1(2), 100-108.

[4]

O’Rourke DP, Cox JD, Baumann DP. Nontraditional Species. In: Weichbrod RH, Thompson GAH, Norton JN, editors. Management of Animal Care and Use Programs in Research, Education, and Testing. 2nd edition. Boca Raton (FL): CRC Press/Taylor & Francis; 2018. Chapter 25.

[5]

Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen, Statistik, Tierversuche 2019 in der Schweiz, https://www.tv-statistik.ch/de...

[7]

Cacheiro, P., Haendel, M. A., & Smedley, D. (2019). New models for human disease from the International Mouse Phenotyping Consortium. Mammalian Genome.

[8]

Swearengen, J. R. (2018). Choosing the right animal model for infectious disease research. Animal models and experimental medicine, 1(2), 100-108.

[9]

Swearengen, J. R. (2018). Choosing the right animal model for infectious disease research. Animal models and experimental medicine, 1(2), 100-108.

[10]

Dinnon, K. H., Leist, S. R., Schäfer, A., Edwards, C. E., Martinez, D. R., Montgomery, S. A., ... & Baric, R. S. (2020). A mouse-adapted model of SARS-CoV-2 to test COVID-19 countermeasures. Nature, 586(7830), 560-566.

[11]

Winkler, E. S., Bailey, A. L., Kafai, N. M., Nair, S., McCune, B. T., Yu, J., ... & Diamond, M. S. (2020). SARS-CoV-2 infection of human ACE2-transgenic mice causes severe lung inflammation and impaired function. Nature immunology, 21(11), 1327-1335.

[12]

Akademie der Naturwissenschaften, Tierversuche erklärt, Aussagekraft, Übertragbarkeit, https://naturwissenschaften.ch...

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Autor*innen

Autor*in

Team Entwicklung & Qualität und Dossierverantwortlicher "Verantwortungsvolle Tierversuche"

Jonas Füglistaler schloss einen Master in Biotechnologie an der ETH Zürich und einen zweiten in Biostatistik an der UZH ab. Seither arbeitet er im pharmazeutischen R&D im IT Bereich. Sein besonderes Interesse gilt neuen Erkenntnissen aus verschiedenen wissenschaftlichen Diziplinen, die zum Fortschritt der Medizin beitragen.

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Pascal Broggi studiert im Master Molecular Bioenginnering an der ETH Zürich. Momentan arbeitet er als Praktikant im Pharmakologie Department von Roche, wo er an der Entwicklung von 3D-Zellmodellen forscht, die für die Validierung der Medikamentenwirkung verwendet werden können. Sein besonderes Interesse gilt sogenannten Organ-on-a-chip Systeme, die funktionelle Organeinheiten nachahmen und zum Fortschritt der Medizin beitragen sollen.

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Servan Grüninger ist Mitgründer und Präsident von Reatch. Er hat sein Studium mit Politikwissenschaften und Recht begonnen und mit Biostatistik und Computational Science abgeschlossen. Zurzeit doktoriert er am Institut für Mathematik der Universität Zürich in Biostatistik. Weitere Informationen: www.servangrueninger.ch.

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