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Zu viel des Objektiven - Eine Kulturkritik

Der Objektivitätsanspruch der Wissenschaft bringt Fortschritt und Einsicht. Doch ihr Anspruch und ihre Methoden dürfen nicht auf alle Bereiche der Gesellschaft ausgeweitet werden.

“Dank mir ist die neugebaute Abwasserreinigungsanlage der Region Bern homöopathisch informiert”. Das sagt der Schweizer Künstler Georg Steinmann vor 200 ETH-Studierenden. Schweigen im Saal. Steinmann wendet sich wieder seiner Powerpoint-Präsentation zu. Zeigt Fotos von kleinen Flaschen mit Quellwasser aus Nairs, Scuol und Tarasp, die er Beton, Gips, Farbanstrichen und dergleichen beim Anrühren beimischt. So informiert er seine Gebäude homöopathisch. Er sagt: "Das Gebäude strahlt eine besondere Energie aus, atmet aus jeder Pore Wasser."

Die Naturwissenschaften freilich sehen das anders. Für den Beton macht es schlicht und einfach keinen Unterschied, wenn ein paar Tropfen Wasser aus dem Engadin kommen.

Steinmann aber sieht über diesen Einwand hinweg. Er sagt: "Die Besucher der Abwasserreinigungsanlage spüren die überwältigende Energie des Hauses". Und: "Wer die Anlage nicht selbst betreten hat, kann nicht wissen, wie es sich anfühlt." Die Studierenden sind skeptisch, ein Raunen geht durch den Saal. Doch Steinmann hat recht.

Denn das Wissen, das wir durch das Erleben von Kunst erlangen, unterscheidet sich von dem Wissen, das die Wissenschaft erzeugt. Wissen über die Temperatur in einem Raum zum Beispiel ist objektives Wissen. Erlebe ich Kunst, erlange ich hingegen subjektives Wissen. Ich kann niemanden ins Museum schicken, um Kunstwerke stellvertretend für mich zu betrachten. Die Frage nach der Raumtemperatur hat nur eine objektive, richtige Antwort. Aber es gibt nicht das eine richtige Erleben von Kunst, sondern mindestens so viele richtige Antworten, wie es Betrachter gibt.

Die Tatsache, dass es in Fragen des subjektiven Wissens keine richtige Antwort gibt, macht es in einer von ökonomischen Mechanismen dominierten Gesellschaft wertlos. Wertlos, weil es für subjektives Wissen selbst keinen Markt und keinen Preis geben kann. Wir können es nicht für andere produzieren, nicht verkaufen, nicht handeln, nicht teilen. Nun mag man einwenden, dass es sehr wohl einen Markt für Erlebnisse, also für subjektives Wissen gibt: Wir zahlen Eintritt für den Besuch im Vergnügungspark oder der Kunstgalerie. Wir kaufen Bücher und hören uns Konzerte an. Wird hier nicht mit subjektivem Wissen gehandelt? Nein, der Einwand greift zu kurz. Denn hier wird nicht das Erlebnis selbst gehandelt (wie auch?), sondern nur die Gelegenheit, zu erleben. Niemand weiss, was ich während einem Konzert oder in einer Kunstgalerie empfinde. Auch eine Schriftstellerin, die ihr subjektives Wissen niederschreibt, löst im Leser etwas Neues und Anderes aus. Subjektives Wissen ist dem Wesen nach unteilbar. Jeder erlangt es für sich selbst, und wenn man stirbt, geht es wieder verloren. Diese Unteilbarkeit macht es preislos. Den Eindruck, den eine farbenfrohe, duftende Frühlingswiese in mir hinterlässt, kann ich nicht verkaufen.

Es heisst: “was nichts kostet, ist auch nichts wert” – und das scheint auch für subjektives Wissen zu gelten. Kaum vorstellbar, dass wir ähnlich viele Kunst-Betrachter wie Forschende bezahlen, um mehr Wissen zu erlangen. Das ist schade. Denn wenn Objektivität sämtliche Bereiche des Lebens durchdringt, dann dringt sie auch in Gebiete vor, in denen Objektivität unmöglich oder schlicht nicht wünschenswert ist. Wir haben es mit einem Objektivitätsfetisch zu tun. Er lässt sich ganz leicht anhand folgender Kriterien prüfen:

Werden in Ihrem Umfeld vielschichtige Ideen auf eindimensionale Zahlen, also vermeintlich objektive Grössen, reduziert? Zum Beispiel die Qualität einer Wissenschaftlerin als Zahl der Publikationen, Intelligenz als IQ, menschliche Attraktivität als Zahl der Tinder oder Facebook-Likes, gesellschaftliches Wohlergehen als BIP oder Wertschätzung als Höhe des Gehalts? Fühlen sich Menschen in Ihrem Umfeld unwohl, wenn sie kein Ziel verfolgen, also nichts Greifbares, nicht Objektives anstreben? Trainieren sie auf einen Halbmarathon statt einfach durch den Wald zu laufen, haken im Urlaub Sehenswürdigkeiten ab, anstatt ein unbekanntes Dorf zu entdecken, ziehen leicht verächtlich die Augenbrauen hoch, wenn jemand einen Neubau homöopathisch informiert, beantworten eher unwichtige Mails, als sich auch nur einen Moment zu langweilen, und haben jeden Abend “etwas vor”? Verspüren Menschen in Ihrem Umfeld den Drang, ihr Leben zu dokumentieren, also objektiv festzuhalten? Fotografieren sie vielleicht ihr Essen im Restaurant, belegen Tanz-Spass auf Feiern mit Selfies, schicken alle paar Monate einen “Bericht” an den Freundeskreis, dokumentieren ihre Urlaube akribisch auf Facebook?

Auf individueller Ebene führt das exzessive Objektivitätsdenken zu Selbstverleugnung und Minderwertigkeitsgefühlen. Warum? Zu Selbstverleugnung kommt es, weil der Einzelne unsensibel für die eigenen Antworten, den eigenen Weg wird. Stattdessen läuft er Gefahr, sich an vermeintlich objektiven Antworten zu orientieren. Doch nicht für jeden haben schnelle Autos mit Spass, Palmstrände mit Traumurlaub, Schwäne am See mit Romantik und 50kg-Models mit Schönheit zu tun. Wer sich an fremden Idealvorstellungen orientiert, lebt sein Leben wie einen schlecht sitzenden Anzug.

Zu Minderwertigkeitsgefühlen kommt es, weil objektive Massstäbe Menschen vergleichbar und austauschbar machen. Wer seinen Selbstwert an der Leistung im Job oder Sport, der Funktion in einem Verein oder der Familie oder dem Erfolg als Lover definiert, kann ersetzt werden. Und wird ersetzt. Es gibt immer jemand Besseren. Spätestens mit dem Alter schwinden unsere Fähigkeiten. Nur die Subjektivität, nur das subjektive Wissen eines jeden Einzelnen ist ureigen, unvergleichlich und nicht austauschbar. Nur darin ankert das Selbstwertgefühl und der Wert anderer Menschen bedingungslos und über die Zeit hinweg.

Auf gesellschaftlicher Ebene schwächt das uneingeschränkte Objektivitätsdenken die Demokratie. Denn das Fundament des demokratischen Diskurses ist die Anerkennung einer simplen Tatsache: Menschen haben verschiedene Werte. Aus denselben Fakten leiten wir darum unterschiedliche Politik ab. Gäbe es wie in der Wissenschaft den Anspruch einer objektiven Wahrheit in der Politik, dann bräuchten wir keine Demokratie mehr, sondern nur noch eine Technokratie. Dann gäbe es keinen Diskurs, sondern nur das Suchen und Ausführen eines alternativlosen, politischen Programms. Wie hängt dies mit dem subjektiven Wissen zusammen? Die Betrachtung von Kunst erinnert uns daran, dass ein jeder die Welt anders sieht. Von dieser Erkenntnis ist es nur noch ein kurzer Sprung zum Bewusstsein, dass auch jeder eigene, nicht austauschbare Werte vertritt. Erst dieser Umstand macht uns zu politischen Subjekten. Deshalb muss sich eine Kultur der Demokratie entschieden gegen den Objektivitätsfetisch wenden.

Der Objektivitätsanspruch der Wissenschaft bringt Fortschritt und Einsicht. Doch ihr Anspruch und ihre Methoden dürfen nicht auf alle Bereiche der Gesellschaft ausgeweitet werden. Objektives Wissen ist nicht das einzige Wissen. Wenn das kollektive Bewusstsein für den Wert der Subjektivität verloren geht, dann werden wir eine unpolitische Gesellschaft aus Nachläufern ohne fundamentales Selbstwertgefühl sein. Deshalb brauchen wir die Kunst, das subjektive Wissen und die homöopathisch informierte Abwasserreinigungsanlage. Denn sie erinnern uns daran, dass Wissen, das sich messen lässt, unsere Wahrnehmung begrenzt.

Autor*innen

Jannes Jegminat

Autor*in

Projektleiter A.I. - Connecting the Dots

Jannes Jegminat hat Physik studiert und doktoriert gegenwärtig am Institut für Neuroinformatik. Er denkt, dass es die Verantwortung der Wissenschaft ist, die Fakten hinter einer neuen Technologie zu erklären; und die Verantwortung der Bürger, sich auf Grundlage dieser Fakten eine eigene Meinung zu bilden. Bei reatch betreut er das AI-Projekt.

Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.

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