Der Streit darüber, wie aktivistisch Forschende sein dürfen, klingt nicht ab. Im Gegenteil: Mit den Protesten rund um den Gaza-Krieg hat er eine neue Dimension erreicht. Es könnte ein produktiver Streit sein, der das komplexe, bisweilen problematische, aber durchaus fruchtbare Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik beleuchtet. Leider bleibt die Debatte über weite Strecken beschränkt auf ein rhetorisches Schattenboxen, das die Gegenpositionen zu Pappkameraden umdeutet, um sich daran abarbeiten zu können.
So setzte der Geograf Paul Messerli im «Bund» zu einer Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit an und warnte angesichts der Kritik an Aktivismus in den Wissenschaften vor den Folgen von Selbstzensur und einem Rückzug in den Elfenbeinturm. Zwar erteilt er politischer Agitation eine Abfuhr, hält aber zugleich fest, dass Vertreter:innen der Akademien «geradezu aufgerufen» seien, politischen Aktivismus zu betreiben. Einen Aktivismus, den Messerli bloss als «persönlichen Transfer wissenschaftlicher Expertise in Politik, Verwaltung und Gesellschaft» verstanden haben will. Das ist rhetorisch geschickt, denn wer hat schon etwas gegen Wissenstransfer?
Eine ähnliche Strategie wählten die Geografinnen Hanna Hilbrandt, Carolin Schurr und Claske Dijkema, indem sie in der «NZZ» die Kritik an Aktivismus in den Wissenschaften zu einer Kritik an transzdisziplinärer Forschung umdeuteten. Freilich steht Transdisziplinarität genauso wenig im Zentrum der Debatte wie der Wissenstransfer aus der Forschung in Politik, Verwaltung und Gesellschaft. Stattdessen geht es um die Frage, ob und in welcher Hinsicht die aktive Parteinahme für ein politisches Anliegen vereinbar ist mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Die Kritik an politischem Aktivismus als Angriff auf Wissenstransfer oder Transdisziplinarität darzustellen, unterstellt den Kritikern eine Position, die sie nicht vertreten.
Nun sind auch jene, welche Universitäten und Forschende für ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Aktivismus rügen, gut darin, rhetorische Pappkameraden aufzustellen. Wenn der Soziologe Martin Schröder in der «ZEIT» für Werturteilsfreiheit in den Wissenschaften plädiert und schreibt, es tue der Wissenschaft nicht gut, sie auf politische Ziele festzulegen, kann er sicher sein, dass er damit in weiten Teilen des wissenschaftlichen und politischen Spektrums Zustimmung ernten wird. Nur folgt aus dieser Zustimmung zur Werturteilsfreiheit in den Wissenschaften nicht, dass Wissenschaftler keine politische Rolle einnehmen dürfen. Ebenso wenig ist das wissenschaftliche Interesse an einem politisierten Thema Grund genug, um den involvierten Forschenden Voreingenommenheit zu unterstellen, wie das beispielsweise bei Angriffen auf die Geschlechter- oder die Rassismusforschung immer wieder impliziert wird. Und wenn Sabine Döring, Philosophin und deutsche Staatssekretärin für Bildung und Forschung, nur den «entpolitisierte[n] Raum der Wahrheitssuche» von der Wissenschaftsfreiheit geschützt sieht, nicht aber Forschung, die «für soziale, politische, ideologische [...] Ziele instrumentalisieren wird», fragt man sich unwillkürlich, was dann noch übrig bleibt von Wissenschaft.
Wissenschaftsfreiheit als Pappkamerad
Eine Folge des rhetorischen Schattenboxens zeigt sich darin, dass sich die «lautesten Verteidiger der Wissenschaftsfreiheit gegenseitig zu ihren Feinden» erklären, wie es der Historiker Caspar Hirschi treffend beschrieben hat. Die einen stellen den politischen Aktivismus, die anderen die Kritik daran als Gefahr für die Forschungsfreiheit dar, jedoch stets so, dass man sich dem Kern dessen, was die Gegenposition ausmacht, entzieht: Die Vertreter einer unpolitischen Wissenschaft verschliessen die Augen vor der offensichtlichen Verzahnung von Wissenschaft und Politik, während die Verteidiger des politischen Aktivismus alles daran setzen, die vorhandenen Unterschiede zwischen wissenschaftlicher und politischer Tätigkeit begrifflich zu verwischen.
Bei der anhaltenden Kontroverse zum Gaza-Krieg zeigen sich die Reflexe, Wissenschaft und wissenschaftliche Institutionen für politische Forderungen zu vereinnahmen, besonders gut. So verteidigen die Lausanner Wissenschaftlerinnen Julia Steinberger und Eléonore Lépinard im «Tages-Anzeiger» die Boykott-Aufrufe gegen israelische Forschende und Forschungseinrichtungen unter anderen damit, es sei «Aufgabe [der Universitäten], unsere gemeinsamen Werte wie die Achtung der Grundfreiheiten und Menschenrechte zu fördern und zu gewährleisten». Darin verstecken sich gleich zwei problematische Voraussetzungen: Erstens, dass Universitäten tatsächlich eine derartige Verantwortung tragen, die weit über die Gewährleistung von freier Forschung und Lehre hinausgeht. Zweitens, dass ein Forschungsboykott der Förderung von «Grundfreiheiten und Menschenrechten» diene, was wiederum jenen, die einen solchen Boykott mit Verweis auf die Wissenschaftsfreiheit ablehnen, implizit unterstellt, gegen «Grundfreiheiten und Menschenrechte» zu sein.
Umgekehrt werden Studierende und Forschende, die an den Universitäten aus humanitären Gründen gegen den Gaza-Krieg protestieren, von vielen Kritikern konsequent in Sippenhaft genommen für jene, die mit antisemitischen Motiven gegen Israel hetzen. Im besten Fall kommen solchen Debatten nicht vom Fleck, im schlimmsten Fall eskalieren sie derart wie aktuell in Deutschland, wo den Wissenschaftler*innen, die sich für das Recht zum politischen Protest einsetzen, von der deutschen Bildungs- und Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger vorgeworfen wird, nicht mehr «auf dem Boden des Grundgesetzes» zu stehen, während andere Politiker sogar die Überwachung durch den Verfassungsschutz fordern. So wird eine Polarisierungsspirale in Gang gesetzt, in der nicht mehr das zählt, was tatsächlich gesagt wird, sondern nur noch das, was die eigene Seite im bestmöglichen und die Gegenseite im schlimmstmöglichen Licht erscheinen lässt. Einen Ausweg bietet, das Schattenboxen zu beenden und sich ernsthaft den Argumenten zuzuwenden, die jeweils vorgebracht werden.
Wissenschaft ist politisch und wird zugleich über die Politik gestellt
Die Beobachtung, dass Wissenschaft und Aktivismus nicht sauber zu trennen sind, steht nicht im Widerspruch dazu, dass Wissenschaft und Aktivismus als Tätigkeiten unterscheidbar sind. Wissenschaft ist insofern politisch, als sie eingebettet ist in einen gesellschaftspolitischen Kontext und ihre Erkenntnisse eine Grundlage für politisches Handeln sind. Daraus ergibt sich aber weder die Notwendigkeit noch die Pflicht, dass Wissenschaft Politik machen muss. Dennoch hat Wissenschaft eine besondere Form politischer Autorität erlangt, die historisch gewachsen ist. Sie lässt sich mit dem Anspruch begründen, dass Wissenschaft verlässliches und vielfältiges Wissen schafft, um die Welt, die politisch gestaltet werden soll, zu verstehen und zu erklären. Es ist eine Form der Autorität, welche Wissenschaft politisch macht, sie aber gleichzeitig über die Politik stellt und so vor politischen Angriffen schützt, was es wiederum so attraktiv macht, sie für politische Forderungen zu vereinnahmen.
Deshalb geht es in der Debatte um Wissenschaft und Aktivismus um zwei miteinander verwandte Fragen: Welche Formen einer politischen Wissenschaft sind möglich, ohne dass dabei Prinzipien der Wissenschaftlichkeit verletzt und die Legitimation für die politische Sonderrolle der Wissenschaften untergraben wird? Und wie viel politische Abstinenz verträgt es, ohne auf den wissenschaftlichen Beitrag zum Gemeinwohl verzichten zu müssen?
Zurzeit scheinen beide Seiten noch auf zwei Hochzeiten tanzen zu wollen. Jene, die auf eine saubere Trennung zwischen Wissenschaft und Politik pochen, sind selten bereit, die Konsequenzen dieser Forderung anzuerkennen: Eine Politik, die losgelöst von wissenschaftlichen Erkenntnissen handelt, und eine Wissenschaft, die gesellschaftspolitisch irrelevant ist. Wer hingegen die Verzahnung von Wissenschaft und Politik betont und daraus schliesst, dass politischer Aktivismus nicht im Widerspruch zu Wissenschaftlichkeit steht, bleibt oft die Erklärung schuldig, wie sich die gegenüber der Politik eingeforderten Freiheiten und Sonderrechte der Forschung begründen lassen. Wenn man mit der Autorität der Wissenschaft aktivistische Politik machen darf, verdient Wissenschaft dann noch jene autoritative Sonderrolle, die ihr in Gesellschaft und Politik zuteil wird? Wieso darf man sie politisch nicht gleich hart angehen wie andere Akteure? Es scheint, als wollten einige nicht nur das Recht, frei zu forschen, sondern auch das Recht, widerspruchslos zu politisieren.
Wer eine Wissenschaft will, die zugleich gesellschaftlich relevant und vor politischen Angriffen geschützt sein soll, kommt nicht umhin, ihre politischen Seiten anzuerkennen, ohne daraus einen generellen Weisungsanspruch abzuleiten oder sie zu einem beliebigen politischen Akteur unter vielen zu machen. Das heisst im Hinblick auf die anhaltenden Debatten rund um den Gaza-Krieg auch, dass diese, sofern sie an einer Universität oder einer anderen der Wissenschaft verpflichteten Institution geführt werden sollen, mehr bieten müssen als Protest. Denn wer sich auf akademische Werte beruft, wie das zurzeit viele Protestierende tun, um die Besetzung von Universitäten zu rechtfertigen, muss diese Werte auch selbst ehren. Dazu gehört die Bereitschaft, sich mit anderslautenden Argumenten auseinanderzusetzen und einen Raum zu schaffen, in dem diese in einem breiteren Kontext geäussert werden können. Protest kann ein Katalysator sein, um eine akademische Auseinandersetzung anzustossen, aber kann diese nicht ersetzen.
Ebenso beinhaltet das Recht auf freie Meinungsäusserung an einer Universität nicht das Recht, die Universität für die eigenen politischen Forderungen zu vereinnahmen. Ute Clement und Sonja Buckel, Präsidentin und Vizepräsidentin der Universität Kassel, weisen richtigerweise darauf hin, dass Universitäten «keine Mandatsträgerinnen [sind], deren Funktion es ist, sich realpolitisch zu positionieren». Universitäten und andere Einrichtungen, an denen Wissenschaft betrieben wird, tun deshalb gut daran, sich dem Druck, in gesellschaftspolitischen Kontroversen institutionell Partei zu ergreifen, zu widersetzen und stattdessen den Raum für jene differenzierten Debatten zu schaffen, die in den öffentlich befeuerten Empörungsspiralen nicht möglich sind. Dabei sollte man den entsprechenden Einrichtungen auch die Autonomie zugestehen, eigenständige Lösungen im Umgang mit Aktivismus ihrer Studierenden und Forschenden zu finden, solange dabei weder wissenschaftliche Prinzipien noch Grundrechte auf unverhältnismässige Weise eingeschränkt werden.
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