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Wirtschaft und Gesellschaft im Strudel geopolitischer Turbulenzen: mehr strategisches Know-how gefragt

Geopolitische Risiken haben in den vergangenen Jahren laufend zugenommen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine oder die Spannungen zwischen China und den westlichen Ländern stellen unsere Gesellschaft und viele Unternehmen vor grosse Herausforderungen. Wie können wir damit umgehen?

Auf Initiative von Guido Baldi organisierte Reatch am 8. März 2023 zusammen mit Studierenden des Masterprogramms in International and Monetary Economics ein Referat zum Thema "Eine Welt voller geopolitischer Turbulenzen: Was bedeutet das für die Wirtschaft?". Nach einer kurzen Einführung der Studentin Saira Karlen sprach der Staatswissenschaftler Dr. Beat Habegger über die geopolitischen Herausforderungen, die sich der Wirtschaft und Gesellschaft stellen, aber auch über mögliche Lösungsansätze.

Abschied von den Hoffnungen auf ein Ende der Geschichte

Beat Habegger zeigte eindrücklich auf, wie sich die Welt seit den goldenen 1990er Jahren, einer Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung, verändert hat. Nach mehreren Wendepunkten, wie 9/11, der Finanzkrise und deren Folgen befinden wir uns heute in einem Zeitalter der Polykrise in der sich mehrere Krisen überlagern. Die Auswirkungen des Klimawandels, der Aufstieg populistischer Parteien und extremer politischer Positionen, der russische Angriffskrieg in der Ukraine, die Spannungen zwischen den USA und China, steigende Preise und ein grosser Migrationsdruck haben die Welt unberechenbarer gemacht. Geopolitische Risiko-Indizes zeigen zum Beispiel die stärksten geopolitischen Spannungen seit 20 Jahren an.

Dreigeteilte Risikolandschaft

Beat Habegger unterscheidet drei Kategorien von geopolitischen Risiken:

  • Einzelereignisse wie die Covid-19-Pandemie
  • Strukturelle Veränderungen wie steigender Protektionismus, die Krise der Energieversorgung, die Disruption der Lieferketten, schärfere Regulierungen.
  • Die globale Ordnung und Machtverteilung, wo beispielsweise die Rivalität zwischen den USA und China zu Verwerfungen führt. Hier zeigt sich, dass China seit den 1990er Jahren stark aufgeholt hat. Während 1996 die USA noch 19 Mal soviel fürs Militär ausgegeben haben wie China, waren es 2020 nur noch 3 Mal mehr. Bei den kritischen Technologien kann China mittlerweile in mehreren Bereichen die Technologieführerschaft für sich beanspruchen. Auch beim BIP hat China stark zugelegt. 2022 geht man von einem chinesischen BIP von 20’250 Milliarden Dollar aus – dasjenige der USA wird auf 25'000 Milliarden Dollar geschätzt.

Raus aus Russland und China?

Politische Spannungen und Technologiekonkurrenz führen vermehrt zu einem Decoupling, zu einer Entkoppelung der Wirtschaftsräume. Firmen ziehen sich aus Ländern wie China oder Russland zurück, manchmal auch unfreiwillig. Im Extremfall müssen sich Unternehmen dereinst entscheiden, mit welcher Seite sie Geschäfte machen.

Durch die Covid-19-Pandemie ist das Bewusstsein um die Fragilität der globalisierten Lieferketten auch bei den Konsumenten angekommen. Firmen reagieren darauf mit Re- bzw. Nearshoring, d.h. die Produktion wird geografisch näher an die Märkte gerückt, um die Risiken zu senken.

Geopolitische Risiken – einige Beispiele

Was bedeuten diese geopolitischen Entwicklungen für Unternehmen? Beat Habegger zeigte dies an einigen Beispielen auf.

Zerstörung von Produktionsstandorten durch Krieg: Die ukrainische Produktionsstätte der Schweizer Verpackungsfirma Vetropack wurde durch den Krieg zerstört. Zwar organisierte die Firma Unterstützung für die Mitarbeitenden vor Ort, gleichzeitig musste sie aber rund 400 Angestellte entlassen. Die Zerstörung der Infrastruktur führte zu einer Wertberichtigung von 46 Millionen Franken.

Reputationsrisiken: Der Deutsche Schokoladeproduzent Rittersport wurde von der Öffentlichkeit unter Druck gesetzt, sich aus Russland zurückzuziehen. Die Migros geriet in die Kritik, weil sie Migrolino-Shops an Tankstellen des aserbeidschanischen Erdölkonzerns Socar betreibt. Aserbeidschan befindet sich im Konflikt mit Armenien.

Divestment- und Enteignungsrisiken: Holcim hat sein Russland-Geschäft verkauft. Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges hat Russland die Regeln für Firmenverkäufe ständig verschärft und damit Verkäufe sowie den Transfer von Erlösen ins Ausland fast verunmöglicht.

In Ungarn beispielsweise müssen ausländische Firmen mit willkürlichen Steuern und bürokratischen Schikanen rechnen. Unternehmen sehen sich genötigt, Anteile an regierungsnahe Einheimische zu verkaufen.

Eine neue Dimension strategischer Herausforderungen

Die geopolitischen Turbulenzen machen strategische Analysen für international tätige Firmen anspruchsvoller. Strategieberater Habegger sieht denn auch einen starken Nachholbedarf bei Schweizer Firmen. Für ihn fliessen geopolitische Risiken noch viel zu wenig in Gesamtrisikoanalysen von Unternehmen ein.

Um erfolgreich durch diese Zeit der Unsicherheit zu steuern, empfiehlt Beat Habegger den Unternehmen, Verwundbarkeiten zu identifizieren, Risikoexpositionen systematisch durchzudenken und daraus möglichst fundierte Schlüsse zu ziehen. Strategische Lageanalysen, Zukunftsszenarien und konkrete Aktionspläne tragen dazu bei, Firmen resilienter zu machen. Weiter rät Beat Habegger den Firmen, politischen Risikoanalysen systematisch in ihre Strukturen und operativen Entscheidungen einzuspeisen.

Dabei geht es allerdings nicht nur um eine defensive Haltung gegenüber den Risiken, sondern auch darum, aus den Verwerfungen entstehende Chancen frühzeitig zu erkennen und unternehmerisch zu nutzen.

Unterstützung für KMU aus der Wissenschaft?

Dies ist bereits für Grossunternehmen eine Herausforderung. Doch für KMU stellt sich zusätzlich das Problem, wo dieses Know-how bzw. die Ressourcen für vertiefte strategische Analysen herkommen sollen.

Mit der Schweizerischen Exportrisikoversicherung (SERV) oder Switzerland Global Enterprise, gibt es bereits Organisationen, die international tätigen Unternehmen zur Seite stehen. Auch Versicherungen und Beratungsfirmen bieten Risikoanalysen an. Doch die Herausforderungen haben eine neue Dimension erreicht.

Soll der Staat die KMU dabei unterstützen? Das Centre for Global Competitiveness (CGC) der ZHAW School of Management and Law, bei dem Beat Habegger mitarbeitet, plant die Entwicklung einer digitale Plattform, die Instrumente zur Verfügung stellt, die KMU befähigen sollen, geopolitische Entwicklungen selbständig zu analysieren und systematisch in ihre Gesamtstrategie einzubeziehen. Die Finanzierung des Projektes ist allerdings noch nicht gesichert. Es wäre ein schönes Beispiel für den Transfer von Forschungswissen in die Wirtschaftspraxis.

Der Referent

Dr. Beat Habegger studierte und doktorierte an der Universität St. Gallen. Nach Tätigkeiten in Think Tanks sowie in der Unternehmens- und Politikberatung übte er während mehr als zehn Jahren Fach- und Führungsfunktionen bei der Swiss Re aus, zuletzt als Head of Political Risk Management. Er lehrt an der Universität St. Gallen sowie an der ZHAW School of Management & Law. Seit 2022 bietet er mit seiner Firma Habegger Strategy Beratungen in den Bereichen Risikomanagement, strategische Vorausschau und Nachhaltigkeit an. Er politisiert für die FDP im Zürcher Kantonsrat. Beat Habegger ist verheiratet, Vater von zwei Kindern und lebt mit seiner Familie in der Stadt Zürich.

Autor*innen

Autor*in

Monica Jeggli ist Historikerin, Geschichtsvermittlerin und Kommunikationsprofi. Sie ist überzeugt, dass ein tiefes, unvoreingenommenes Verständnis der Geschichte wichtig ist, um kluge Lösungen für die Zukunft zu entwickeln.

Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.

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