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Wieso gefährdet die Initiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot» die medizinische Versorgungssicherheit?

Eine Annahme der Initiative würde es verbieten, neue Medikamente, Impfungen oder andere medizinische Produkte in der Schweiz einzusetzen, wenn diese direkt oder indirekt auf Forschung an Mensch oder Tier zurückgehen. Da dies schon allein wegen den internationalen Zulassungsregeln auf sämtliche neu entwickelten medizinischen Produkte zutrifft, wäre die Schweiz künftig komplett von modernen Therapien abgeschnitten - mit gravierenden Folgen für die Gesundheit von Patient*innen. Auch die pharmazeutische Forschung in der Schweiz hätte damit keine Zukunft mehr.

Die Initiative sieht vor, nebst dem Verbot jeglicher Versuche an Tieren und Menschen [1] auch die Einfuhr von allen neu entwickelten Medikamenten, Impfungen oder Implantaten, die direkt oder indirekt dank Forschung an Tieren und Menschen entwickelt worden sind [2]. Da heute jedes zugelassene Arzneimittel und medizinische Produkt auf Grundlagenforschung und angewandter Forschung an Tier und Menschen zurückgeht, würde das ein Totalverbot neuer medizinischer Therapien in der Schweiz bedeuten - nur bereits zugelassene Therapien wären noch erlaubt. Dieses Verbot würde dabei nicht nur Arzneimittel für Menschen, sondern auch für Tiere treffen.

Wenn also eine Forschungsgruppe in Deutschland eine neue Therapie gegen Lungenkrebs entwickelt, wären die Patient*innen in der Schweiz genauso davon ausgeschlossen, wie wenn Forschende in Japan einen Wirkstoff gegen Alzheimer entwickeln. Denn in beiden Fällen müssten die Behandlungen an Tieren und Menschen getestet werden, um Wirksamkeit und Sicherheit zu überprüfen. Auch bereits bestehende Impfstoffe, die jährlich an neue Virenvariationen angepasst werden müssen, dürften in der Schweiz nicht mehr verwendet werden, weil sie auf der Forschung an Mensch und Tier basieren.

Angesichts der grossen Gefahren, die von neu auftretenden Infektionskrankheiten wie Covid-19, dem Zika-Virus oder AIDS ausgehen, wäre es fahrlässig zu glauben, dass die bestehenden medizinischen Therapien ausreichen würden, um die Gesundheit der Bevölkerung langfristig zu gewährleisten. Auf der anderen Seite werden in Zukunft auch gewisse Medikamente für momentan behandelbare Krankheiten ihre Wirkung verlieren, durch zunehmende Antibiotikaresistenzen [3]. Ebenso gibt es weiterhin eine Vielzahl von seltenen und häufigen Krankheiten, die noch nicht oder kaum geheilt werden können (zum Beispiel Alzheimer, verschiedene Krebsarten und seltene Erbkrankheiten). Mit der Annahme der Initiative wären Patient*innen mit solchen Erkrankungen von möglichen neuen Therapien ausgeschlossen.

Hinzu kommt, dass die Regeln für die Zulassung von Arzneimitteln und anderen medizinischen Produkten auch international stark reguliert sind. Selbst wenn Schweizer Forschende dazu in der Lage wären, völlig ohne Forschung an Mensch und Tier ein neues Medikament zu entwickeln, dürfte diese im Ausland nur nach Tests an Tieren und Menschen zugelassen werden - was wiederum ein Verbot dieses Medikaments in der Schweiz zur Folge hätte. Die pharmazeutische Forschung und Entwicklung in der Schweiz - immerhin einer der wichtigsten Schweizer Wirtschaftszweige - hätte keine Zukunft mehr in der Schweiz. Das damit verbundene medizinische und industrielle Know-How würde ebenso verloren gehen wie die vielfältige biomedizinische Forschungslandschaft in der Schweiz. Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen würden den Anschluss an die neuesten medizinischen Entwicklungen verlieren, womit die Schweiz ihre weltweit führende Stellung im Bereich der medizinischen Forschung und Behandlung verlöre. Da damit auch der essentielle Wissenstransfer zwischen Forschung, Entwicklung und Anwendung auf einen Schlag wegfiele, würde das die Sicherheit von Patient*innen gefährden, weil diese nicht mehr mit aktuellen Therapien und nach neuesten Behandlungsstandards betreut werden könnten.

Abschliessend ist zu betonen, dass auch bereits zugelassene und seit Jahrzehnten bewährte Medikamente von einem Verbot betroffen sind, wenn sie weiterhin in Versuchen an Mensch oder Tier zum Einsatz kommen. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn man die Wirkung eines Medikaments für andere Krankheiten testen möchte (sogenanntes «Drug Repurposing»), was sehr häufig vorkommt: Eine systematische Untersuchung von 2018 zeigte, dass über 60% aller Substanzen, die in klinischen Versuchen zum Einsatz kamen, bereits für mehr als eine Krankheit getestet worden waren [4]. So wurden beispielsweise Krebsmedikamente zur Behandlung von HIV/AIDS oder Osteoporose-Medikamente gegen Brustkrebs eingesetzt [5]. Auch rezeptfreie Medikamente wie Aspirin werden weiterhin für den Einsatz bei verschiedenen Krankheiten wissenschaftlich erforscht an Mensch und Tier und wären damit von einem Verbot betroffen [6].

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Das ist ein Beitrag des Themendossiers «Forschung mit Menschen (FAQ)».

Hier geht es zur Dossierübersicht.

Referenzen

[2]

Eidgenössische Volksinitiative «Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot – Ja zu Forschungswegen mit Impulsen für Sicherheit und Fortschritt», https://www.bk.admin.ch/ch/d/p...

[3]

Siehe dazu auch Maria Lung (2021). L'antibiorésistance ou l'invisible épée de Damoclès. Reatch. https://reatch.ch/publikatione...

[4]

Baker, N. C., Ekins, S., Williams, A. J., & Tropsha, A. (2018). A bibliometric review of drug repurposing. Drug discovery today, 23(3), 661-672.

[5]

Pushpakom, S., Iorio, F., Eyers, P. A., Escott, K. J., Hopper, S., Wells, A., ... & Pirmohamed, M. (2019). Drug repurposing: progress, challenges and recommendations. Nature reviews Drug discovery, 18(1), 41-58.

[6]

Li, X., Rousseau, J. F., Ding, Y., Song, M., & Lu, W. (2020). Understanding Drug Repurposing From the Perspective of Biomedical Entities and Their Evolution: Bibliographic Research Using Aspirin. JMIR medical informatics, 8(6), e16739. https://doi.org/10.2196/16739

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Präsidium, Fundraising

Servan Grüninger ist Mitgründer und Präsident von Reatch. Er hat sein Studium mit Politikwissenschaften und Recht begonnen und mit Biostatistik und Computational Science abgeschlossen. Zurzeit doktoriert er am Institut für Mathematik der Universität Zürich in Biostatistik. Weitere Informationen: www.servangrueninger.ch.

Autor*in

Team Entwicklung & Qualität und Dossierverantwortlicher "Verantwortungsvolle Tierversuche"

Jonas Füglistaler schloss einen Master in Biotechnologie an der ETH Zürich und einen zweiten in Biostatistik an der UZH ab. Seither arbeitet er im pharmazeutischen R&D im IT Bereich. Sein besonderes Interesse gilt neuen Erkenntnissen aus verschiedenen wissenschaftlichen Diziplinen, die zum Fortschritt der Medizin beitragen.

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