Welche Fortpflanzungsmedizin wollen wir?

Sollen Untersuchungen an Embryonen im Reagenzglas möglich sein? Darüber stimmt die Schweizer Bevölkerung am 14. Juni ab. Weshalb wir die Abstimmung zum Anlass nehmen sollten, grundsätzlich über die Zukunft der Fortpflanzungsmedizin zu diskutieren.

Bisher war es bei einer künstlichen Befruchtung nur zulässig, so viele menschliche Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau zu Embryonen zu entwickeln, «als ihr sofort eingepflanzt werden können». Neu sollen so viele Embryonen entwickelt werden dürfen, «als für die medizinisch unterstützte Fortpflanzung notwendig sind».

Erbkrankheiten erkennen im Reagenzglas

Diese Anpassung der Bundesverfassung ist neben der geplanten Revision des Bundesgesetzes über die Fortpflanzungsmedizin eine Voraussetzung dafür, dass genetische Untersuchungen an Embryonen künftig auch ausserhalb des Mutterleibs vorgenommen werden dürfen. Das Ziel: Embryonen, die über den Weg der künstlichen Befruchtung entstanden sind, sollen bereits vor der Einpflanzung in den Mutterleib auf bestimmte Veränderungen im Erbgut untersucht werden dürfen, um das Risiko für die Weitergabe einer schweren Erbkrankheit zu verhindern.

Die Befürworter der geplanten Verfassungs- und Gesetzesänderung sehen darin eine längst überfällige Anpassung an die gesellschaftliche Realität. Die Gegner befürchten jedoch einen Dammbruch, der zu einer immer umfassenderen Selektion führen könnte.

Längst überfällige Anpassung?

Beide Positionen haben ihre Berechtigung – nur setzen sie auf zwei unterschiedlichen Ebenen an. Die Befürworter halten korrekterweise fest, dass es bereits heute erlaubt ist, bei einer Schwangerschaft genetische Untersuchungen am ungeborenen Kind durchzuführen und gegebenenfalls einen Schwangerschaftsabbruch einzuleiten. Die Untersuchung von Embryonen im Reagenzglas zu verbieten, nach erfolgter Einpflanzung jedoch zu zuzulassen, würde bedeuten, dass einem mehrere Wochen alten Embryo im Mutterleib ein geringerer Schutz zukommt als einer befruchteten Eizelle von wenigen Tagen. Das ist widersprüchlich.

Oder der erste Schritt zum Designerbaby?

Aber auch die Gegner der Abstimmungsvorlage haben Recht, wenn sie in der Verfassungs- und Gesetzesänderung eine Vergrösserung der Selektionsmöglichkeiten sehen. Die Verfügungsmacht über Embryonen im Reagenzglas ist wesentlich umfassender als bei genetischen Tests an Embryonen im Mutterleib. Aus diesem Grund besteht die Möglichkeit, dass es zu einer schleichenden Ausweitung des Anwendungsbereichs von vorgeburtlichen Diagnoseverfahren kommt.

Zwei Fragen, zwei Ebenen

Spätestens jetzt sollte klar werden: Gegner und Befürworter reden weitgehend aneinander vorbei und diskutieren über zwei unterschiedliche Fragen:

Erstens: Unter welchen Umständen und zu welchem Zweck wollen wir überhaupt eine Selektion von Embryonen aufgrund genetischer Merkmale zulassen?

Zweitens: Ist es sinnvoll, die Untersuchung von Embryonen vor und nach der Einpflanzung in den Mutterleib grundsätzlich unterschiedlich zu regeln?

Eine gesellschaftliche Diskussion tut Not

Die zweite Frage ist meines Erachtens zu verneinen. Eine Ungleichbehandlung würde nur dann Sinn ergeben, wenn wir Embryonen im Mutterleib einen höheren Schutz zukommen lassen als Embryonen im Reagenzglas – und nicht umgekehrt, wie das heute der Fall ist.

Die erste Frage lässt sich jedoch nicht ohne eingehende gesellschaftliche Diskussion beantworten. Insbesondere müssen wir entscheiden, welche Entscheidungen wir der alleinigen Kompetenz der Eltern überlassen und wo wir als Gesellschaft Handlungsschranken setzen wollen. Dabei sollten wir uns nicht allzu stark auf die vermeintlich «klaren» Fälle konzentrieren, sondern bewusst die ethischen und medizinischen Graubereiche besprechen.

Welche Selektionskriterien sollen zulässig sein?

Die wenigsten würden eine Selektion basierend auf «rein ästhetischen» Kriterien wie Augen- oder Haarfarbe für zulässig halten. Auf der anderen Seite hätten die meisten von uns Verständnis für Eltern, die sich gegen die Geburt eines Kindes entscheiden, das die Anlagen für das sogenannte Tay-Sachs-Syndrom in sich trägt. Diese Erbkrankheit führt in der Regel wenige Jahre nach der Geburt zum Tod und ist für die betroffenen Kinder mit grossen Schmerzen und Belastungen verbunden.

Doch wo verläuft die Trennlinie zwischen «rein ästhetischen» und «gesundheitlich relevanten» Merkmalen? Gibt es eine solche Abgrenzung überhaupt? Und wenn es sie gibt: Wie entscheiden wir bei «gesundheitlich relevanten» Merkmalen, ob eine bestimmte Veranlagung als Selektionsgrund gelten darf oder nicht?

Die Diskussion wird weitergehen

Das sind die Fragen, die wir uns im Hinblick auf die kommende Abstimmung, aber auch im Zusammenhang mit der modernen Fortpflanzungsmedizin als Ganzes stellen sollten. Denn: Die Wissenschaft wird uns immer präzisere Werkzeuge zu vorgeburtlichen Selektion von Embryonen zur Verfügung stellen. Sie wird uns aber keine Antworten dazu liefern, ob wir diese Werkzeuge verwenden sollen und wenn ja, zu welchem Zweck.

Wir müssen also darüber diskutieren, welche Formen der Selektion wir zulassen wollen und auch begründen wieso ja oder eben nicht. Ansonsten drohen wir von der gegenwärtigen Entwicklung im Bereich der Fortpflanzungsmedizin überrollt zu werden. Eine neue Generation von biomedizinischen Technologien steckt nämlich schon in den Startlöchern.

Dieser Artikel ist am 27. Mai 2015 im Science-Blog von NZZ Campus erschienen.

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Präsidium, Fundraising

Servan Grüninger ist Mitgründer und Präsident von Reatch. Er hat sein Studium mit Politikwissenschaften und Recht begonnen und mit Biostatistik und Computational Science abgeschlossen. Zurzeit doktoriert er am Institut für Mathematik der Universität Zürich in Biostatistik. Weitere Informationen: www.servangrueninger.ch.

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