Die Idee, die ich im Oktober für den Ideenwettbewerb eingereicht habe, fokussiert sich auf die Verbesserung der Betreuung von Vergewaltigungsopfer mittels Errichtung von Kompetenzzentren, in welchen alle Fachpersonen nach geregelten Abläufen und in guter Zusammenarbeit agieren. Interessanterweise hat sich in Zwischenzeit das politische Klima insofern zum Guten geändert, als dass das nationale Parlament einen politischen Vorstoss gemacht hat, die Betreuung von Vergewaltigungsopfer besser zu gestalten. Die Kantone kommen so in einen Zugzwang und genau dies nutzt mein Team mit dem vom Franxini Innovation Hub unterstützten Projekt “Vergewaltigungsopfer im Fokus”, um den Prozess der Umsetzung aktiv mitzugestalten
Das Problem
Gemäss einer repräsentativen Umfrage von Amnesty International in der Schweiz haben 12 % der Frauen Geschlechtsverkehr gegen den eigenen Willen erlitten [1]. Das wären rund 400'000 Betroffene in der Schweiz. Im Kontrast stehen die Zahlen des Bundes: Im Jahr 2021 gab es 77 Verurteilungen wegen Vergewaltigung, wobei die Verurteilungsquote kantonal stark unterschiedlich ist (60 % in der Waadt, 7 % in Zürich) [2] [3].
Die unterschiedlichen Verurteilungsquoten sind nicht erklärbar und lassen auf Probleme im polizeilich-juristischen Verfahren schliessen. Die prominentesten Gründe sind die Retraumatisierung während des Prozesses, sowie die geringe Aussicht auf Erfolg [4] [5]. Auf der anderen Seite zeigt der krasse Gegensatz zwischen den Zahlen von Amnesty und dem Bund die schlechte Datenlage in der Schweiz.
Diese und viele weitere Ideen werden in der Blogposts Reihe zum Reatch Ideenwettbewerb 2022 präsentiert.
Meine Idee
Meine Vision ist eine opferzentrierte Betreuung durch geschulte Fachpersonen mit klaren Abläufen. Dies verbessert einerseits die klinischen Ergebnisse nach Erleiden einer Vergewaltigung [6][7]. Andererseits führt die bessere Betreuung dazu, dass mehr Vergewaltigungen angezeigt und durch eine klarere Beweislage verurteilt würden [8].
Zur Konkretisierung dieser Idee schlage ich ein wissenschaftlich begleitetes Kompetenzzentrum für Gewaltopfer an zwei vernetzten Standorten vor. Dies steht im Gegensatz zu den aktuellen Abläufen, welche undurchsichtig und ohne geklärte Zusammenarbeit durch normales Fachpersonal durchgeführt werden. Der Status Quo hat Tücken beim Alarmieren, im hektischen Notfall und schliesslich werden Vergewaltigungsopfer nicht selten während polizeilich juristischen Befragungen retraumatisiert.
Am ersten Standort des Kompetenzzentrums sind dedizierte Räumlichkeiten am Notfall eines Zentrumspitals angegliedert und sorgen für eine sichere Umgebung. Trainierte Fachpersonen der pflegerischen und ärztlichen Equipe werden von einem 24/7 Pikett weiterer Fachpersonen (Psychiatrie, Sozialhilfe, Opferhilfe etc.) unterstützt. So kann dem Gewaltopfer schnell und adäquat geholfen und die Beweissicherung von geschultem Personal durchgeführt werden. Der zweite Standort des Kompetenzzentrums befindet sich bei der Kantonspolizei, wo trainierte Polizist:innen flankiert durch die Opferberatung agieren können.
Zwei Aspekte sind innovativ an diesem Kompetenzzentrum: Der holistische Ansatz und die wissenschaftliche Begleitung. Bis anhin gibt es einige gute Initiativen verschiedener Player [9] [10] [11], aber keine beinhaltet ebendiese zentralen Aspekte.
Die Rolle der Wissenschaften
1. Die Ausbildung konzipieren
- Verwendung und Weiterentwicklung von Anamnese- und Untersuchungsprotokollen im Umgang mit Gewaltopfer unter Einbezug von psychiatrischen und kommunikationswissenschaftlichen Erkenntnissen (z.B. Anamnese gem. WHO [7], Umgang mit peritraumatischer Dissoziation [12])
- Weiterentwicklung und Anwendung von standardisierten Beweissicherungs-Kits in Zusammenarbeit mit gerichtsmedizinischen und gynäkologischen Fachpersonen
- Pädagogische Konzeptionierung der Ausbildung mit Einbezug von Teamplay in interdisziplinären Kursen zur Klärung von Verantwortlichkeiten.
2. Das Projekt wissenschaftlich begleiten
- Daten sammeln und analysieren zur Verbreitung von Gewalttaten. Solche Daten können nur in einem durch die Ethikkommission abgesegneten Forschungsprojekt gesammelt werden wegen den sensiblen Informationen.
- Gewaltopfer unter Betreuung für Fall-/Kohortenstudien einbinden, um das verbesserte klinische Outcome zu analysieren.
3. Die Wissenschaftlichen Ergebnisse in den politischen Diskurs einbringen
- Verlässlichere und detailliertere Zahlen für dieses gesellschaftliche Problem liefern
- Erkunden des «Violence-Röstigrabens», siehe Verurteilungsquote Zürich vs. Waadt
- Ausarbeitung neuer Präventionsmassnahmen unter Einbezug der aufgeschlüsselten Daten
Akteure: Wer hilft dabei
• Das Spital setzt die Räumlichkeiten zur Verfügung, unterstützt interessiertes Personal während der Weiterbildung und segnet das Projekt ab.
• Der Kanton zeigt den politischen Willen zur Finanzierung und Auswertung des Projektes und informiert die Bevölkerung angemessen
• Die Universität/Fachhochschule stellt ein wissenschaftliches Gremium über Departementsgrenzen hinweg und ist federführend bei der wissenschaftlichen Begleitung des Projektes
• Weitere Akteure wie die Opferhilfe, Kantonspolizei, Gerichtsmedizin steuern aktiv ihre Erfahrung bei.
• Die Bevölkerung wird auf das Projekt aufmerksam gemacht und ein faktenbasierter Diskurs über das emotionale Thema wird durch zivilgesellschaftliche Initiativen gefördert (etwa Reatch).
Auch dieses Jahr suchen wir im Rahmen des Ideenwettbewerbs wieder deine Ideen für die Zukunft!
Das Bewerbungsfenster für den diesjährigen Reatch Ideenwettbewerb ist geöffnet und wir suchen Ideen, wie die Wissenschaften mit der Politik, der Wirtschaft oder der Zivilgesellschaft in den nächsten 175 Jahren gemeinsam Herausforderungen unserer Gesellschaft meistern können.
Alle Informationen zum Ideenwettbewerb 2023 findest du hier.
Literatur
Dirk B. (2021): «Entwicklung von Gewaltstraftaten in der Schweiz unter besonderer Berücksichtigung der Verurteiltenstatistik» https://digitalcollection.zhaw...
Suter M, Wenger KA, Spiers J. (2020) «Die Einvernahme war für mich so schlimm wie die Vergewaltigung selbst». https://www.republik.ch/2020/06/18/die-einvernahme-war-fuer-mich-so-schlimm-wie-die-vergewaltigung-selbst.
Gerny D. Vergewaltigung: Die wenigsten Opfer gehen zur Polizei 2020.
https://www.nzz.ch/schweiz/die... opfer-von-sexueller-gewalt-gehen-zur-polizei-ld.1531338
Amnesty International (2019): «Sexualisierte Gewalt in der Schweiz»
Almuneef M. (2013): «Responding to intimate partner violence and sexual violence against women WHO clinical and policy guidelines»: https://doi.org/10.13140/RG.2.1.2702.5047.
Berner Kantonspolizei (2021): «Sexuelle Gewal: Professionelle Hilfe für Opfer dank dem Berner Modell: https://www.blog.police.be.ch/... fuer-opfer-dank-dem-berner-modell/ (accessed 2022).
Campbell R, Bybee D, Townsend SM, Shaw J, Karim N, Markowitz J. (2014): «The Impact of Sexual Assault Nurse Examiner Programs on Criminal Justice Case Outcomes: A Multisite Replication Study», 2014;20:607–25. https://doi.org/10778012145362...
Bundesamt für Statistik (2022): «BFS Kennzahlen Gewaltdelikte» https://www.bfs.admin.ch/bfs/d... strafrecht/polizei/gewalt.html (accessed 2022).
Unkila-Kallio L, Vuori-Holopainen E. (2016): «Somatic examination of a female victim of a sexual offence» 2016;132:159–64.
Kleinman SB, Martell D. (2015): «Failings of trauma-specific and related psychological tests in detecting post-traumatic stress disorder in forensic settings»; 60:76–83. https://doi.org/10.1111/1556-4...
Universität Zürich Zürich Forensic Nurse CAS https://www.irm.uzh.ch/de/lehr... (accessed 2022).
Université de Lausanne, Unité de médecine des violences (UMV) : https://www.curml.ch/unite-de-... umv-0 (accessed 2022).
Dieser Text ist im Rahmen des Reatch Ideenwettbewerbs entstanden. Um die Krisen von morgen zu meistern, brauchen wir als Gesellschaft Vorstellungsvielfalt als Rüstzeug. Dafür notwendig ist ein gemeinsames Verständnis, aber auch konkrete Ideen und Ansätze, wie Probleme angegangen und gelöst werden können. Dieses Ziel verfolgt der Reatch Ideenwettbewerb. Im Rahmen davon, haben wir nach Ideen gesucht, wie die Wissenschaften zusammen mit Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft die Krisen von morgen meistern können. Denn eine enge und konstruktive Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren ist entscheidend, damit wissenschaftliche Erkenntnisse auch Eingang in politische und gesellschaftliche Lösungen finden. Der Ideenwettbewerb wurde u.a. unterstützt durch die Stiftung Mercator Schweiz, die Gebert Rüf Stiftung und den Schweizerischen Nationalfonds (SNF).
Das Franxini-Projekt: Wir wollen eine Gesellschaft, in der Akteure aus Wissenschaften und Politik zusammenarbeiten, um gesellschaftliche Herausforderungen effektiv zu bewältigen. Dank dem politischen Engagement von Forschenden aus allen Fachrichtungen tragen wissenschaftlich fundierte Ideen zu effektiven Lösungen bei, von denen die ganze Gesellschaft profitiert.
Das Franxini-Projekt ist entstanden auf Initiative der wissenschaftlichen Ideenschmiede «Reatch! Research. Think. Change.» und wird unterstützt von einer Reihe von renommierten Persönlichkeiten aus Wissenschaften, Politik und Gesellschaft und wird gefördert von der Stiftung Mercator, der Gebert Rüf Stiftung, der cogito foundation, der Universität Zürich, dem ETH Rat, der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz und weiteren Partnern.
Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.
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