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Tiere sind wie wir – Pilze aber auch

Warum Peter Singer irrt – Teil 1: Biologische Ähnlichkeit allein ist kein moralisches Kriterium

Antworten auf häufige Fragen zur Forschung mit Tieren und Menschen finden Sie in den Themendossiers «Tierversuche in der Schweiz (FAQ)» und «Forschung mit Menschen (FAQ)».

Warum Peter Singer irrt – Teil 1: Biologische Ähnlichkeit allein ist kein moralisches Kriterium

Tiere können leiden. Und weil sie leiden können, gilt es ihre Interessen zu berücksichtigten.

So lautet – stark verkürzt – die Grundaussage des Buchs «Animal Liberation». Sein Autor, der Philosoph Peter Singer, brandmarkt darin den menschlichen Umgang mit Tieren und plädiert für eine antispeziesistische und präferenzutilitaristische Herangehensweise an tierethische Fragen. Das Buch widmet sich dabei vor allem der Massentierhaltung, doch im Kapitel «Tools for Research» befasst sich Singer auch mit dem Einsatz von Tieren in der Wissenschaft.

Darin beschreibt er das «zentrale Dilemma des Forschers» [1], das die ethische Unvertretbarkeit vieler Tierexperimenten illustrieren soll:

Entweder: Tiere sind nicht wie wir Menschen. Deshalb sind Tierexperimente unnütz und damit auch ethisch nicht gerechtfertigt.

Oder: Tiere sind eben doch wie wir Menschen. Daraus folgt, dass wir nur solche Experimente an Tieren durchführen dürften, welche auch bei Menschen akzeptiert sind.

Im ersten Moment klingt dies einleuchtend. Wäre da nicht der Umstand, dass Singers «Entweder-Oder»-Auswahl nicht der Wirklichkeit entspricht – womit auch das postulierte Dilemma weitgehend in sich zusammenfällt, dafür aber in einer ganz anderen Form wieder zu Tage tritt.

Wieso Singer irrt

Singers Darstellung des «zentralen Dilemmas des Forschers» enthält gleich zwei grundsätzliche Fehlüberlegungen:

Erstens behauptet er, dass der Vergleich zwischen Mensch und Tier nur zwei Ausprägungen kenne: Tiere sind entweder «wie wir» oder sie sind es nicht. Am ehesten lässt sich dieses «wie wir» mit «ähnlich» oder «vergleichbar» übersetzen. Doch eine strikte Zweiteilung in «ähnlich» und «nicht-ähnlich» entspricht nicht der biologischen Realität. Denn Ähnlichkeit kann nur in Bezug auf eine bestimmte Eigenschaft definiert werden.

Zweitens, sind einige dieser Eigenschaften moralisch relevant und andere sind es nicht. Wenn Forscher ihre Tiermodelle nach biologischen Kriterien auswählen, dann muss daraus nicht zwangsläufig Ähnlichkeit in einer moralisch relevanten Hinsicht resultieren. In vielen Fällen sind uns Tiere in einer Weise ähnlich, die für die Wissenschaft interessant ist, ohne aber aus moralischer Sicht von Bedeutung zu sein.

Daraus folgen drei Fragen: Welche Ähnlichkeiten sind moralisch relevant? Welche Ähnlichkeiten sind wissenschaftlich nützlich? Und schliesslich: Wann fallen diese Ähnlichkeiten zusammen?

Wann ist Ähnlichkeit moralisch relevant?

Bei der Frage, welche Eigenschaft bei einer moralischen Abwägung berücksichtigt werden müsse, verweist Singer auf den Philosophen Jeremy Bentham, der die Leidensfähigkeit von Tieren als die grundsätzlich relevante Grösse betrachtet:

«The capacity for suffering and enjoyment is a prerequisite for having interests at all, a condition that must be satisfied before we can speak of interests in a meaningful way.» [2]

Das ist Singers grundlegende Prämisse: Tiere sind leidensfähig und haben deswegen wie wir Menschen eine Interesse daran, kein Leid zu erfahren [3]. Dazu hält Singer im ersten Kapitel fest:

«the interests of every being affected by an action are to be taken into account and given the same weight as the like interests of any other being» [4]

Laut Singer müssen wir bei der Beurteilung unsers Handelns also alle Interessen berücksichtigen, welche betroffen sein könnten. Das Interesse eines Tieres ist damit nicht per se weniger wert als ein vergleichbares Interesse eines Menschen. Und wenn ein Tier ähnlich stark leidet wie ein Mensch, dann gibt es gemäss Singer keinen Grund, dem tierischen Interesse an Leidensfreiheit ein geringeres Gewicht zuweisen als dem menschlichen.

Eine Annäherung an den Leidensbegriff stellt uns jedoch vor neue Schwierigkeiten und lässt fragwürdig erscheinen, wie nützlich dieses Kriterium tatsächlich ist. Doch vorerst nehmen wir Singers Grundprämisse an. Denn auch so lässt sich zeigen, dass Singers Argument fehlerhaft ist.

Biologische Ähnlichkeit allein ist moralisch unbedeutend

Wissenschaftler sollten jene Tiermodelle wählen, welche zur Beantwortung ihrer jeweiligen Forschungsfragen geeignet sind. So macht es keinen Sinn, Lungenkrebs bei Fischen erforschen zu wollen. Genauso wenig können die hauptsächlich allein lebenden Orang-Utans als Modell für Sozialverhalten in Gruppen dienen. Und wer das visuelle System des Menschen untersuchen möchte, der tut gut daran, ein Tiermodell zu wählen, das diesbezüglich ähnliche Eigenschaften besitzt.

Eine solche Ähnlichkeit ist aber primär einmal biologischer Natur. Moralisch relevant wird sie erst dann, wenn sie eine moralisch relevante Eigenschaft des Menschen betrifft. Im Falle Singers wäre dies «Leidensfähigkeit».

Singer unterschlägt diese wichtige Differenzierung und postuliert stattdessen eine Zweiteilung: «Entweder sind Tiere wie wir oder sie sind es nicht», lautet seine Aussage. Dass Tiere aber in einer ganz bestimmten Hinsicht wie wir sein können, in einer anderen jedoch nicht, lässt er unberücksichtigt.

Einige Beispiele:

Wenn Wissenschaftler den Fadenwurm C. elegans dazu nutzen, um mehr über Alterung, Zelltod oder Krebs zu erfahren, dann tun sie dies nicht, weil der Wurm generell «wie wir» ist, sondern weil er in ganz bestimmten Aspekten der Molekular- und Zellbiologie «wie wir» ist. Diese Ähnlichkeit hat in Bezug auf Singers Grundprämisse jedoch keine moralische Bedeutung.

Der Hefepilz Saccharomyces cerevisiae wird ebenfalls als Modellorganismus zum Verständnis molekularbiologischer Prozesse genutzt. So hat uns die Untersuchung der sogenannten MADS-Box-Proteine in der Hefe dabei geholfen, die Funktionsweise derselben Proteine in uns Menschen zu verstehen. Auch hier gilt: Die biologische Ähnlichkeit zwischen Homo Sapiens und S. cerevisiae ist moralisch absolut unerheblich.

Schliesslich noch ein letztes Beispiel: Die Fruchtfliege Drosophila melanogaster ist einer der am häufigsten verwendeten Modellorganismen in der Biologie – u.a. deshalb, weil viele molekularbiologische Mechanismen der Fruchtfliege auch in uns Menschen wiederzufinden sind. Beispielhaft hierfür ist die Entdeckung der Hox-Gene, welche bei der Embryonalentwicklung von wesentlicher Bedeutung sind. Auch hier handelt es sich um biologische Ähnlichkeit, welche moralisch irrelevant ist.

Die Beispiele zeigen, wie Tiermodelle durch spezifische Ähnlichkeiten zum Menschen wissenschaftlich nützlich sein können, ohne dass sie uns vor dringende moralische Fragen stellen. Nur wenige würden argumentieren, dass Fadenwürmer oder Fruchtfliegen leiden können – von Hefepilzen ganz zu schweigen. Und Singer selbst spricht Insekten ebenfalls die notwendigen biologischen Voraussetzungen für Leidensfähigkeit ab.

Was bedeutet Leiden?

Singers Zweiteilung in «ähnlich» und «nicht ähnlich» sollte damit widerlegt sein. Aber selbstverständlich gibt es Fälle, in denen biologische Ähnlichkeit mit Ähnlichkeit in Bezug auf Leidensfähigkeit zusammenfällt. Um diese Fälle zu untersuchen, müssen wir aber zuerst die oben angedeutete Schwierigkeit angehen: Wir müssen definieren, was «Leiden» und «Leidensfähigkeit» überhaupt bedeuten.

Dabei stossen wir auf zwei Probleme: Erstens herrscht Uneinigkeit darüber, welche Eigenschaften es überhaupt braucht, um leiden zu können. Zweitens ist Leiden grundsätzlich ein subjektives Konzept, das sich nur schwer auf andere Lebewesen übertragen lässt.

Schon in Bezug auf uns Menschen ist es kaum möglich, «Leiden» eine objektive Definition zu geben.

Allein die Voraussetzungen für Leiden sind nur sehr schwer zu erfassen: Menschen können leiden, wenn sie körperlich verletzt werden (z.B. bei einem Autounfall), aber auch wenn sie physisch völlig unversehrt sind (z.B. beim Scheitern einer Beziehung).

Umgekehrt führen Schmerzen nicht zwangsläufig zu Leiden: Der Wanderer, dem nach der anstrengenden Gipfelbesteigung die Glieder schmerzen, wird nicht unbedingt sagen, dass er deswegen leidet.

Schliesslich kommt noch hinzu, dass wir alle sehr unterschiedlich leiden. Die gleiche Situation kann also bei zwei Personen ganz verschiedene Reaktionen hervorrufen kann.

Wie leiden Tiere?

Wenn die Bemessung von Leiden schon bei uns Menschen so schwierig ist – wie sollen wir denn bei Tieren am besten vorgehen?

Im Gegensatz zu Menschen können sie uns nicht direkt mitteilen, wenn sie Schmerzen empfinden. Wir sind also zwangsläufig darauf angewiesen, das Leiden von Tieren über bestimmte Verhaltensmuster zu erahnen.

Dabei müssen wir uns bewusst sein, dass wir bei der Untersuchung von tierischen Verhaltensweisen immer Gefahr laufen, einem Anthropomorphismus anheim zu fallen und tierische Verhaltensweisen nach menschlichen Massstäben zu beurteilen. Ich würde sogar behaupten, dass wir in Bezug auf die Frage, ob ein Tier Schmerz empfindet, gar nicht anders als anthropomorph argumentieren können – eben gerade weil Leiden subjektiv ist und wir die Leidensfähigkeit anderer Lebewesen nur ausgehend von unserem eigenen Leiden beurteilen können.

Singer ist sich dieser Beschränkung bewusst, hält jedoch fest, dass für ihn die verhaltensbiologischen und physiologischen Erkenntnisse klar genug sind, um auch bei Tieren von Leidensfähigkeit auszugehen [5].

Das kann man zweifellos so sehen – doch ganz so eindeutig ist die Datenlage dann doch wieder nicht. Das wird bereits bei uns Menschen ersichtlich: Wir haben weitgehend dieselben Hirnstrukturen und trotzdem gibt es klare Unterschiede im subjektiven Leidensempfinden.

Und schon die Mutation in einem einzigen Gen kann dazu führen, dass Menschen keine physischen Schmerzen mehr empfinden. Objektive Ähnlichkeit in biologischen Systemen ist also noch keine Garantie dafür, dass auch das subjektive Empfinden gleich ist.

Trotzdem: Dass Tiere Schmerzen empfinden können ist weitgehend unbestritten. Wie sie diese Schmerzen jedoch erfahren und ob daraus zwangsläufig Leiden folgt, ist hingegen immer noch schwer ermessbar.

In dubio pro bestia?

Natürlich lässt sich nun argumentieren, dass das Unwissen über die Leidensfähigkeit von Tieren keinen Freibrief für die Forschung darstellt. Das ist meines Erachtens absolut korrekt. Wenn es laut Singer unser Ziel sein soll, Leid zu minimieren, dann ist schon allein die Möglichkeit, dass Tiere leiden könnten, moralisch relevant.

Ausgehend von Singers Grundprämisse könnten wir deshalb postulieren, dass solange von der Leidensfähigkeit von Tieren ausgegangen werden muss, bis das Gegenteil bewiesen ist. Analog zu in dubio pro reo würden wir dann in dubio pro bestia, also im Zweifel für das Tier argumentieren [6].

Nun gilt es also, bestimmten (oder gar allen?) Tieren in Bezug auf ihre Leidensfähigkeit eine Ähnlichkeit zum Menschen zu unterstellen – womit diese Tiere ein ähnliches Interesse an Leidensfreiheit haben wie wir.

Eine Abwägung

Der Anspruch der Tiere auf Leidensfreiheit kollidiert jedoch mit verschiedenen menschlichen Interessen. Dazu gehören u.a. wissenschaftlicher Fortschritt; die Entwicklung medizinischer Methoden; technologische Neuerungen; Fleischkonsum bzw. die Nutzung von tierischen Produkten; die Regulierung von Tierbeständen aus ökologischen Gründen; die Kontrolle von potentiell krankheitsübertragenden Tierarten.

Die Beurteilung dieser Ziele ist aber völlig unabhängig von der Beurteilung des Leidens, welches wir mit dem Verfolgen dieser Ziele verursachen. Und wenn ein bestimmtes Ziel einen Nutzen verspricht, der genügend gross ist, um das zu erwartende Leiden aufzuwiegen, dann dürfen wir ein solches Ziel selbst nach Singers utilitaristischen Auffassung verfolgen.

Das führt in zweierlei Hinsichten zu Komplikationen: Einerseits ist die Beurteilung von Leiden objektiv nicht möglich, wie ich oben versucht habe darzulegen. Andererseits ist der Wert bzw. der Nutzen eines bestimmten Zieles nur selten für alle Menschen gleich und wird deshalb sehr individuell beurteilt.

Nehmen wir das Beispiel «Fleischkonsum». Kaum jemand würde behaupten, dass das Töten eines Tieres für das Tier selbst wünschenswert ist. Gemäss dem oben festgelegten Grundsatz «in dubio pro bestia» müssen wir davon ausgehen, dass ein Kalb leidet, wenn es durch ein Bolzenschussgerät frühzeitig aus dem Leben scheidet .

Wenn wir uns öfters vegetarisch ernähren würden, dann müssten dafür zweifellos weniger Tiere leiden. Die Frage ist nun, wie viel tierisches Leid wir für den persönlichen Genuss in Kauf nehmen wollen. Ein Veganer würde wohl sagen: Gar keines. Ein passionierter Fleischesser dagegen: Sehr viel. Am Ende müssen wir die unterschiedlichen Interessen innerhalb unserer Gesellschaft gegeneinander abwägen, um zu einer Entscheidung kommen.

Ähnlich sieht es bei der Frage nach Tierversuchen aus. Auch hier müssen wir gemäss «in dubio pro bestia» davon ausgehen, dass die Tiere zu einem bestimmten Grad leiden. Wir müssen uns deshalb fragen, wie viel Tierleid wir für die Beantwortung einer bestimmten wissenschaftlichen oder medizinischen Frage in Kauf nehmen wollen.

Verzichten wir auf Versuche, dann verzichten wir auf Erkenntnisse

Und es wird noch komplexer: Während der Verzicht auf Fleisch wohl weitgehend ohne negative Auswirkungen bleiben würde (von den Arbeitslosen der Fleischindustrie einmal abgesehen), müssen wir bei jedem Verzicht auf einen Tierversuch die folgende Frage beantworten:

«Welche potentiellen Auswirkungen hat der Verzicht auf diese Erkenntnis?»

Oder anders gesagt:

«Was geben wir auf, wenn wir auf ein bestimmtes Experiment verzichten?»

Denn ein Verzicht auf ein wissenschaftlich ergiebiges Tierexperiment geht immer auch mit dem Verzicht auf Informationen einher. Wenn diese Informationen nicht anderweitig erhoben werden können (zum Beispiel über alternative Forschungsmethoden oder Experimente an Menschen, welche ihre Einwilligung gegeben haben), dann müssen wir davon ausgehen, dass uns diese Informationen zu einem späteren Zeitpunkt fehlen, um menschliches Leiden zu verhindern.

Das Verhindern von Menschenleid erfordert also oft Tierleid, während das Verhindern von Tierleid oft zu Menschenleid führt.

Das ist das wirklich zentrale Dilemma des Forschers.

Referenzen

[1]

Peter Singer (1975). Animal Liberation. New York City: HarperCollins Publishers. S. 52.

[2]

Peter Singer (1975). Animal Liberation. New York City: HarperCollins Publishers. S. 7.

[3]

Singer sagt damit nicht, dass Tier genauso leiden wie wir Menschen. Er sagt lediglich, dass Tiere leiden und dass wir ihre Interessen deswegen berücksichtigen müssen.

[4]

Peter Singer (1975). Animal Liberation. New York City: HarperCollins Publishers. S. 5.

[5]

Peter Singer (1975). Animal Liberation. New York City: HarperCollins Publishers. S. 11.

[6]

Wenn wir das tun, müssten wir aber fairerweise auch andere Lebewesen wie Insekten zuerst unter den «Generalverdacht» des Leidens stellen. Insofern lässt sich durchaus kritisieren, dass Singer dieser Tiergruppe a priori die Leidensfähigkeit abschlägt.

Autor*innen

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Präsidium, Fundraising

Servan Grüninger ist Mitgründer und Präsident von Reatch. Er hat sein Studium mit Politikwissenschaften und Recht begonnen und mit Biostatistik und Computational Science abgeschlossen. Zurzeit doktoriert er am Institut für Mathematik der Universität Zürich in Biostatistik. Weitere Informationen: www.servangrueninger.ch.

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