Statistisch ist es wahrscheinlicher am 29. Februar geboren zu werden als an einer bestimmten seltenen Krankheit zu leiden. Eine Krankheit gilt als selten, wenn sie höchstens 1 von 2.000 Menschen betrifft. Weltweit sind um die 8.000 seltenen Krankheiten beschrieben. Bei einem Grossteil handelt es sich dabei um genetisch bedingte Erkrankungen und nur 5% können effizient behandelt werden. In der Schweiz gibt es eine halbe Million Menschen, die von einer seltenen Erkrankung betroffen sind (Quelle BAG). Dr. Jasmin Barman-Aksözen ist eine von ihnen. Sie leidet an Erythropoetischer Protoporphyrie (EPP), einer seltenen Erkrankung, bei der schon leichtes Sonnenlicht zu Verbrennungen in den Blutgefässen und somit zu starken Schmerzen führt. Jasmin forscht an EPP und ist Teil des Forschungsschwerpunkts ITINERARE für innovative Therapien bei seltenen Krankheiten an der Universität Zürich. Darüber hinaus hat sie sich intensiv mit dem Zulassungsprozess von Medikamenten auseinandergesetzt und einen MAS in Gesundheitsökonomie absolviert.
Jasmin, du leidest an Erythropoetischer Protoporphyrie, die nur bei einem von 100.000 Menschen vorkommt. Wie war dein Weg zur Diagnose?
Die ersten Symptome der Erythropoetischen Protoporphyrie (EPP) hatte ich schon im Alter von 2 Jahren. Meine Eltern und ich haben verschiedene Ärzt*innen aufgesucht, um herauszufinden, worauf die Symptome zurückzuführen sind. Es kamen dann Antworten von Sonnenallergie bis psychisch-überlagert als Ursache, aber nie die richtige Diagnose. Als ich dann mal wieder aufgrund der Schmerzen nachts nicht schlafen konnte, bin ich auf Wikipedia auf einen erst zwei Wochen alten Artikel gestossen. Nach nur wenigen Sätzen habe ich aufgeregt meinen Partner geweckt und ihm verkündet: „Ich weiss jetzt, was ich habe, auch wenn ich den Namen nicht aussprechen kann!“ Mit dem Ausdruck des Artikels bin ich dann erneut zur Dermatologie gegangen. Die Ärzt*innen dort meinten nur: „Eine Erythropoetische Protoporphyrie, das ist so selten, das haben Sie sicher nicht“. Den Ärzt*innen war die Krankheit bekannt, aber aufgrund ihrer Seltenheit haben sie einfach nicht die Verbindung zu meinen Symptomen hergestellt. Ich habe dann trotzdem auf einen Bluttest bestanden, der dann eindeutig positiv zurückkam. Da war ich Mitte 20.
Wie hat es sich für dich angefühlt endlich eine Diagnose zu haben?
Lebensverändernd! Endlich einen Namen dafür zu haben und nicht mehr diesen Rechtfertigungsdruck. Die Sonne kommt raus und jeder sagt: „So arg kann es doch gar nicht sein!“. Mit der Diagnose wurde ich endlich ernst genommen. Vor allem hatte ich dann auch Zugang zu Wissen. Zum einen konnte ich andere Patient*innen treffen und zum anderen hatte ich Zugang zu Expert*innen und Behandlungszentren, die mir auch die Krankheit und die Symptome erklären konnten. Hinzu kam, dass es eine laufende Studie mit ersten Ergebnissen gab. In der besagten Nacht hatte ich tatsächlich auch schon ein Interview mit einer Patientin gefunden, die an der Phase-II-Studie teilgenommen hatte. Sie berichtete davon, wie sie sich statt wenigen Minuten nun mehrere Stunden im Sonnenlicht aufhalten konnte. Dadurch gab es dann neben der Diagnose auch eine Perspektive, das war fantastisch!
Kommt es bei seltenen Erkrankungen oft vor, dass die Diagnose nicht von Ärzt*innen kommt?
Wir haben für unsere Erkrankung sehr viele Beispiele, bei denen Patient*innen die Diagnose selber gefunden haben: Durch einen Beitrag in den Medien, einen Nachbarn, der darauf hinweist, oder sogar einfach auf der Strasse durch andere Patient*innen, die das Verhalten gesehen haben – Licht vermeiden, bei Sonnenschein mit einem Schirm rumlaufen, sich verhüllen – und sie dann angesprochen haben. Aber nicht in jedem Fall diagnostizieren sich die Patient*innen selbst. Einige seltene Erkrankungen werden schon im Neugeborenen-Screening entdeckt. Insgesamt kann man aber sagen, dass viele seltene Erkrankungen eine Verzögerung bis zur Diagnose haben.
Du hattest das Glück, dass für EPP ein Medikament in der Pipeline war. Aber woran liegt es aus deiner Sicht, dass es für viele seltene Krankheiten keine Medikamente gibt?
Bei den seltenen Krankheiten kann man sagen, dass es auf allen Ebenen der Medikamentenentwicklung Probleme gibt. Das fängt bei der Grundlagenforschung an: Es gibt 8.000 seltene Erkrankungen und man müsste jede genauso erforschen, wie man es z.B. bei Diabetes macht. Jede Krankheit hat ihre eigene Komplexität und Pathologie. Je mehr man über eine Krankheit weiss, desto mehr Ansatzpunkte hat man, um die Krankheit zu behandeln. Dazu kommt die Finanzierung: Die Entwicklungskosten sind genauso hoch wie für eine häufigere Erkrankung. Die Investition ist für Pharma-Firmen aber weniger attraktiv, weil es nur wenige Patient*innen gibt, die dann das entwickelte Medikament beziehen.
Gibt es Ansätze, um die Forschung an seltenen Krankheiten zu fördern?
Im Jahr 2000 hat man in der EU den Orphan Drug Act beschlossen. Meiner Ansicht nach war dabei der wichtigste Faktor für die Firmen, dass für Medikamente gegen seltene Erkrankungen nun eine längere Markt-Exklusivität gewährleistet wird, sie diese also länger allein vermarkten können als bei Medikamenten gegen häufigere Krankheiten. Gleichzeitig wurden die Kriterien für die Zulassung angepasst, denn wenn es weniger Patient*innen gibt, kann man die Vorgaben in den klinischen Studien gar nicht in der Form erfüllen, wie sie für häufige Krankheiten vorausgesetzt sind. Bei einer seltenen Erkrankung hat man keine grosse Auswahl, welche Patient*innen man einschliesst. Dadurch hat man eine höhere Heterogenität, als wenn man einfach nur weisse, junge Männer nimmt, die keine weiteren Erkrankungen haben. Allerdings finde ich, wenn man in einer so heterogenen Gruppe einen signifikanten Effekt nachweisen kann, ist es doch erst recht ein Zeichen dafür, wie robust die Wirksamkeit ist.
Kann die universitäre Forschung auffangen, was die Pharma-Industrie nicht leistet?
Die universitäre Forschung kann Wertvolles liefern, was das detaillierte Verständnis von Krankheiten angeht und über die Forschung und Entwicklung in der Industrie hinaus geht, aber rein mengenmässig kann sie aktuell nicht alles auffangen. Neben der Finanzierung braucht es gute Strukturen, wie z.B. ITINERARE, dem Forschungsschwerpunkt für seltene Krankheiten an der UZH, an dem ich arbeite. Dort arbeiten unterschiedlichen Fachbereiche zusammen: Biolog*innen, Mediziner*innen, Rechtswissenschaftler*innen und Ethiker*innen. So ein Umfeld fördert, dass eine Medikamentenentwicklung wirklich bis zum Schluss durchdacht wird und ist notwendig, damit Universitäten dasselbe leisten können wie die Pharmaindustrie. Es ist ein Riesenschritt, ein Medikament auf den Markt zu bringen.
Vor 10 Jahren wurde das Nationale Konzept Seltene Krankheiten vom Bundesrat beschlossen. Gab es in den 10 Jahren schon grosse Verbesserungen?
Das Konzept war ein grosser Meilenstein, weil es zeigt, dass der Bedarf für Unterstützung von seltenen Krankheiten erkannt wurde. Aufbauend auf den formulierten Zielen hat sich einiges Gutes entwickelt. Das Wichtigste ist vielleicht, dass es nun zwei Formen von Anlaufstellen gibt: Zum einen die Zentren für seltene Krankheiten, wo Patient*innen ohne Diagnose zur breiten Abklärung hinkommen. Zum anderen spezialisierte Referenzzentren, zu denen die Patient*innen überwiesen werden, wenn sie eine Diagnose haben. Zum Beispiel wurde das Kinderspital in Zürich als Referenzzentrum für seltene Stoffwechselerkrankungen anerkannt. Bevor es diese Zentren gab, war es für Patient*innen selbst mit einer Diagnose oft schwierig zu wissen, wo sie Expert*innen für ihre Krankheit finden können.
Leider haben die Kliniken keinen direkten Vorteil davon, ein anerkanntes Referenzzentrum zu werden, sondern nur mehr Verpflichtungen. Es bräuchte auch nicht unbedingt mehr Fördermittel, sofern das normale Verrechnungssystem den Komplexitätsgrad von seltenen Krankheiten abbilden würde. Das Problem bei den seltenen Krankheiten ist, dass man viel weniger weiss und es häufig keine festen Leitlinien gibt. Die Ärzt*innen müssen auf den Einzelfall eingehen, überlegen, wie sie die Testresultate einordnen, und müssen ggf. in der Literatur recherchieren. Das kostet Zeit, die aber nicht komplett vergütet wird. Diese aufwendige Grundkonsultation ist aber sinnvoll, denn damit werden hinterher Kosten gespart. Patient*innen mit einer Diagnose und der richtigen Behandlung verursachen andere Kosten als Patient*innen ohne. Eine eigene Verrechnungsposition für seltene Krankheiten, mit einem höheren Tarif, der all die extra Aufwände abdeckt, wäre daher ein möglicher Weg.
Welche Unterstützung für die Patient*innen würdest du dir sonst noch von der Politik wünschen?
Den Zugang zu Therapien vereinfachen: Wenn ein Medikament vorhanden ist, heisst es leider noch nicht, dass die Patient*innen automatisch auch Zugang dazu haben.
Was ist der Grund für den schwierigen Zugang? Liegt es an der Zulassung oder an der Finanzierung?
Der Zugang ist sowohl bei der Zulassung als auch bei der Erstattung erschwert. Gerade kleinere Firmen scheuen den Aufwand einer extra Zulassung in der Schweiz, besonders wenn es sehr wenige Patient*innen in der Schweiz gibt. Nach der Zulassung in der Schweiz durch die Swissmedic gibt es dann noch einen weiteren Schritt, bei dem das Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine Kosten-Nutzen-Bewertung nach den Wirksamkeits-, Zweckmässigkeits- und Wirtschaftlichkeits-Kriterien (WZW) vornimmt. Damit wird entschieden, ob das Medikament auf die Spezialitätenliste aufgenommen und somit von der obligatorischen Krankenkasse vergütet wird. Der Preis für das Medikament wird dann noch zwischen BAG und Hersteller verhandelt. Die Preise sind häufig höher, wenn die Zahl an Patient*innen klein ist, was die Verhandlungen erschwert. Momentan dauert es nach der Swissmedic-Zulassung noch ca. 2 Jahre, bis ein Medikament für eine seltene Krankheit auf der Spezialitätenliste ist!
Nach welchen Richtlinien wird der Preis festgelegt?
In der Schweiz gibt es ein zweigeteiltes System. Einerseits orientiert sich die Preishöhe an den Preisen im Ausland und andererseits an dem Preis für bestehende Therapien für die jeweilige Erkrankung. Das ist bei Erkrankungen wie Diabetes nachvollziehbar, aber was, wenn es noch keine andere Therapie gibt? Das ist dann für das BAG auch nicht ganz einfach. Die Preisvorstellung von BAG und Hersteller können daher weit auseinanderliegen und wenn sie sich nicht auf einen Preis einigen können, kommt das Medikament auch nicht auf die Spezialitätenliste.
Was wäre dein Vorschlag, um den Zugang zum Medikament zu beschleunigen?
Das ist jetzt ganz radikal und naiv, aber vielleicht ist es genau das, was wir brauchen: Angenommen, es gab zuvor kein zugelassenes Medikament für eine Erkrankung. Mit einer neuen Zulassung – die zeigt, dass das neue Medikament wirksam und sicher ist – könnte es doch weltweit sofort auf den Markt gebracht werden, mit einem Preis, der an die Häufigkeit gekoppelt ist.
So ein Preis könnte wesentlich günstiger sein als der heutige Preis, weil wir zum einen nicht die Verzögerung durch die Verhandlungen in den einzelnen Ländern hätten. Denn dadurch verkürzt sich die Zeit, in der die Firmen das Medikament exklusiv vermarkten können, und das kalkulieren sie natürlich in den Preis mit ein. Zum anderen entfiele die zusätzliche Bewertung des Nutzens in Bezug auf den Preis. Das müssen die Firmen in jedem einzelnen Land machen und extra Dossiers dafür erstellen. Dieser Prozess kreiert Kosten, wozu es leider keine offiziellen Daten gibt. Ich weiss aber von einem Fall in England, wo im Rahmen der Kosten-Nutzen-Bewertung zusätzlich eine 800.000 Pfund teure Studie gemacht werden musste. Neben den Daten für die Zulassung wurde noch verlangt Daten zu erheben, wie sich das Medikament auf die Lebensqualität spezifisch von Betroffenen in England auswirkt. Ist so etwas wirklich nötig?
Es kann also auch passieren, dass ein Medikament schon zugelassen ist, aber aufgrund der verzögerten Preis-Verhandlungen in der Schweiz noch nicht auf dem Markt ist. Versuchen Patient*innen dann über andere Länder ihre Medikamente zu erhalten?
Früher bestand dafür keine Möglichkeit, aber 2012 wurde Artikel 71 in der Krankenversicherungsverordnung eingeführt. Er ermöglicht, dass Ärzt*innen einen Antrag an die Krankenversicherung für Patient*innen stellen können, damit ein Medikament aus dem Ausland bezogen werden darf. Dies stellt einen grossen Fortschritt und eine Erleichterung für uns Betroffene dar, da wir so Zugang zu Therapien erhalten, die sonst in der Schweiz nicht verfügbar wären. Es ist jedoch ein sehr aufwendiges Verfahren. Jedes Jahr muss der Antrag wiederholt werden, solange das Medikament nicht auf der Spezialitätenliste steht, und jedes Jahr kann die Krankenkasse den Antrag plötzlich ablehnen. Diesen Fall hatten wir 2016, als mehrere Versicherer den erneuten Antrag einiger EPP-Patient*innen abgelehnt haben. Der ganze Prozess ist also mit grossem Stress und Mehraufwand für Patient*innen, Ärzt*innen und Versicherungen verbunden.
Braucht es generell mehr Aufklärungsarbeit in Bezug auf seltene Krankheiten und somit mehr Verständnis durch Gesellschaft und Politik?
Auf jeden Fall. Ich glaube, den meisten ist nicht bewusst, dass jede*r 8-9 genetische Veränderungen in sich trägt, die prädisponierend für seltene Erkrankungen sind. Es heisst zwar „seltene“ Krankheiten, aber wenn man alle 8.000 verschiedenen zusammenzählt, sind es mehr Patient*innen als mit Diabetes. Von daher sind solche Patient*innen gar nicht so selten.
Was sind zusammenfassend deiner Ansicht nach die wichtigsten Punkte zur Verbesserung der Situation von Patient*innen mit einer seltenen Krankheit?
Zuerst mehr Forschung als Grundlage. Dann aber auch die Verbindlichkeit, dass eine Zulassung zu einer Markteinführung führt. Wenn eine Medikamentenstudie von der Ethikkommission zugelassen wurde, die Studie positiv ausfällt und das Medikament zugelassen wird, dann sollte nicht in dem Stadium der Riegel vorgeschoben werden. Und zuletzt, aber wahrscheinlich mit am wichtigsten, ist die Sicherstellung der Versorgung. Denn für die allermeisten seltenen Erkrankungen existiert noch keine Therapie. Patient*innen und ihre Familien brauchen Anlaufstellen und Unterstützung und dürfen nicht allein gelassen werden.
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