Der folgende Artikel ist in einer verkürzten Version am 10. Oktober 2019 auf tsri.ch erschienen.
Der Prozess der Automatisierung und Digitalisierung schreitet mit rasantem Tempo voran. In der öffentlichen Diskussion werden neben utopischen Visionen einer arbeitsfreien Zukunft auch düstere Zukunftsbilder gezeichnet. In den Medien lassen sich immer wieder Titel finden wie „Roboter nehmen uns die Arbeit weg: Müssen wir sie bekämpfen?“ oder „In 25 Jahren werden 47 Prozent der Jobs verschwunden sein – und auch eurer ist nicht sicher.“ Oft wird argumentiert, dass als Folge einer drohenden Massenarbeitslosigkeit ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt werden soll – also ein fester und für alle gleicher Betrag, den alle erwachsenen Individuen ohne Bedingungen und Kontrolle erhalten. Doch droht überhaupt eine Massenarbeitslosigkeit? Und ist ein bedingungsloses Grundeinkommen ein geeignetes Mittel dagegen?
Wissenschaftliche Untersuchungen können helfen, die oftmals emotional geführten Debatten rund um den Einfluss des technologischen Wandels auf Beschäftigung, Löhne und Wohlbefinden zu versachlichen. Alles in allem deuten die verfügbaren Studien und Daten darauf hin, dass der gegenwärtige technologische Wandel – der häufig unter Stichworten wie digitale Revolution oder Robotisierung diskutiert wird – bislang vielen Beschäftigen erstaunlich wenige Vorteile gebracht hat: So haben in den meisten entwickelten Volkswirtschaften die Produktivität und die durchschnittlichen Reallöhne in den vergangenen Jahren im historischen Vergleich nur wenig zugelegt. Gleichzeitig steigt bei vielen Beschäftigten das subjektive Stressempfinden. Eine Massenarbeitslosigkeit – hervorgerufen durch den technologischen Wandel – zeichnet sich aber bislang nicht ab. Technologische Umwälzungen führen zu neuen Berufen und schaffen langfristig mehr Arbeitsplätze sie vernichten. Gerade in technologisch fortgeschrittenen Ländern wie der Schweiz, Deutschland oder den Vereinigten Staaten ist die Arbeitslosenquote niedrig und es gibt in vielen Bereichen einen Mangel an Fachkräften.
Der gegenwärtige technologische Wandel und die damit verbundene Automatisierung könnten aber dennoch zu einer höheren Polarisation am Arbeitsmarkt führen, die sich in der Zukunft noch verstärken könnte. Arbeitspolarisierung bedeutet, dass die Anzahl Stellen für niedrig- und hochqualifizierte Arbeitnehmende zunimmt, während die Anzahl an Jobs mit mittleren Qualifikationsanforderungen rückläufig ist. Diese Entwicklung scheint in angelsächsischen Ländern wie den Vereinigten Staaten oder dem Vereinigten Königreich besonders stark ausgeprägt zu sein. Ähnliche Entwicklungen können aber auch für andere entwickelte Volkswirtschaften beobachtet werden. Im Zuge dieser stärkeren Arbeitspolarisation hat in vielen Ländern die Ungleichheit der Einkommen zugenommen. Die Schweiz stellt allerdings einen Sonderfall dar: Sie erlebte in den vergangenen Jahrzehnten eine polarisierte Aufwertung der Arbeitsstellen. Während die Anzahl Jobs mit hohen Qualifikationsanforderungen stark zugenommen hat, zeigt sich bei der Anzahl Stellen mit tiefen Qualifikationsanforderungen eine leichte Abnahme und nicht eine Zunahme wie in anderen Ländern. Bei den Stellen mit mittleren Qualifikationsanforderungen ist in der Schweiz jedoch ebenfalls eine Abnahme zu beobachten.
Falls sich die strukturellen Veränderungen am Arbeitsmarkt verstärken, wird dies in den betroffenen Ländern vermutlich noch deutlichere Forderungen nach einer Reform der Sozialsysteme hervorrufen. Eine Massnahme, die immer wieder diskutiert wird, ist das bedingungslose Grundeinkommen. Oft wird argumentiert, dass wegen einer drohenden Massenarbeitslosigkeit ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt werden sollte. Zudem könne so das komplexe Sozialversicherungssystem zumindest teilweise ersetzt und die Bürokratie entschlackt werden. Da sich aber eine Massenarbeitslosigkeit gegenwärtig nicht abzeichnet, wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen zu wenig zielgerichtet; alle würden das Grundeinkommen erhalten, unabhängig davon, ob sie es auch benötigen. Bei wichtigen Fragen, ob etwa ein Grundeinkommen finanzierbar wäre und wie es das Verhalten der Menschen beeinflusst, kann die Wissenschaft noch kaum belastbare Aussagen liefern. Bisherige Erkenntnisse deuten jedoch eher darauf hin, dass die finanziellen Mittel, die für ein Grundeinkommen eingesetzt werden müssten, wohl effektiver verwendet werden können – etwa für eine Verbesserung der Infrastruktur, der Aus- und Weiterbildungsangebote, oder für die Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Vertiefte Experimente und Simulationen mit verschiedenen Varianten eines Grundeinkommens sind daher notwendig, damit allfällige politische Entscheidungen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren können.
Ein Vorteil des bedingungslosen Grundeinkommens ist, dass es der erhöhten Individualisierung der Lebensumstände Rechnung trägt. Viele Menschen möchten etwa den Übergang in den Ruhestand flexibler wählen und freier über die richtige Balance zwischen Familie und Beruf entscheiden. Auch müssen sich Menschen in einer ständig verändernden Welt laufend um- und weiterbilden können. Abgeschwächte und zeitlich begrenzte Varianten eines Grundeinkommens könnten deshalb sinnvoll sein – etwa eine Art Auszeiteinkommen oder ein sogenanntes „Chancenerbe“. Diese Varianten würden jedem Individuum die Möglichkeit geben, sich Aus- und Weiterbildungen, Kinderbetreuung oder die Pflege von Angehörigen bis zu einem gewissen Grad auf unbürokratische Weise zu finanzieren. Bei solchen Modellen wären die finanziellen Mittel, die jede Person im Leben bedingungslos zur Verfügung hätte, deutlich geringer als bei einem bedingungslosen Grundeinkommen. Ab einem gewissen Betrag könnte die Fortzahlung eines solchen Auszeiteinkommens an Bedingungen und Nachweise geknüpft werden.
Ob ein solches Auszeiteinkommen, ein bedingungsloses Grundeinkommen oder doch einfach eine leichte Modifizierung der bestehenden Systeme die bessere Lösung ist, hängt wesentlich davon ab, wie sich der technologische Wandel in den kommenden Jahren auf unser Leben und unsere Arbeit auswirkt. Es ist die Aufgabe der Politik und der Wissenschaft, vermehrt mit verschiedenen Arten eines Grundeinkommens oder Auszeiteinkommens Modellrechnungen zu erstellen und zu experimentieren – auf lokaler, regionaler oder sogar auch auf nationaler Ebene. Dies würde mehr Erfahrungen und Fakten bereitstellen, die unseren Gesellschaften helfen werden, Entscheide über die Zukunft der Arbeit und der sozialen Sicherungssysteme zu fällen.
Referenzen
Vgl. etwa Adler, G. , R. Duvalet al. (2017): "Gone with the Headwinds; Global Productivity," IMF Staff Discussion Notes 17/04, International Monetary Fund;
Andrews, D., C. Criscuolo et al. (2016): "The Best versus the Rest: The Global Productivity Slowdown, Divergence across Firms and the Role of Public Policy," OECD Productivity Working Papers 5, OECD Publishing;
Autor, D. and A. Salomons (2018): “Is Automation Labor-Displacing: Productivity Growth, Employment, and the Labor Share”, Brookings Papers on Economic Activity, Spring 2018, 1-63;
Acemoglu, D., P. Restrepo (2017): “Robots and Jobs: Evidence from US Labor Markets,” NBER Working Papers 23285, National Bureau of Economic Research.
Murphy, E. und D. Oesch (2017): „Is Employment Polarization Inevitable? Occupational Change in Ireland and Switzerland, 1970–2010.” Work, Employment and Society.
Vgl. etwa van Parijs, P. und Y. Vanderborght (2017): “Basic Income: A Radical Proposal for a Free Society and a Sane Economy”, Harvard University Press;
Stern, A. (Autor) und L. Kravitz (Mitwirkende) (2016): “Raising the Floor: How a Universal Basic Income Can Renew Our Economy and Rebuild the American Dream“, PublicAffairs;
Murray, C. (2016): “In Our Hands: A Plan to Replace the Welfare State”, American Enterprise Institute; Revised and updated edition;
Precht, R. D. Jäger (2018): “Jäger, Hirten, Kritiker: Eine Utopie für die digitale Gesellschaft“, Goldmann Verlag.
Für eine ideengeschichtliche Einordnung, siehe Bezzolà, N.: ”New Interest in an Old Idea - The Intellectual History of Universal Basic Income”, reatch Blog, 17. April 2019.
Hoynes, Hilary W. und J. Rothstein (2019): "Universal Basic Income in the US and Advanced Countries," NBER Working Papers 25538.
Fabre, A., Pallage, S. und C. Zimmermann (2014) : "Universal Basic Income versus Unemployment Insurance," Working Papers 2014-47, Federal Reserve Bank of St. Louis.
Vgl. etwa Fratzscher, M. (2017): „Ein Chancenerbe für alle“, ZEIT ONLINE, 29. Dezember 2017.
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