Tierversuche small

Ist Wissenschaft das Mass aller Masse?

Kompetenzüberschreitungen sind in der Diskussion um Tierversuche an der Tagesordnung. Laien stellen die tierexperimentelle Forschung unter Generalverdacht, während Forschende ihre Zuständigkeiten notorisch überschätzen. Michaela Egli ruft dazu auf, zunächst die richtigen Fragen zu stellen.

Es gibt irrelevante Fragen. Ob Tierversuche seit Zeitpunkt t ab oder zunehmen oder wie viele Prozent der Erkenntnisse sich auf den Menschen übertragen lassen, gehören dazu. Es sind Irrwege, die vom eigentlichen Brennpunkt ablenken: Welche Bedeutung messen wir als Gesellschaft wissenschaftlichen Erkenntnissen zu? Das ist keine wissenschaftliche Frage und kann deshalb auch nicht mit wissenschaftlichen Mitteln beantwortet werden. Hier kommt also niemandem eine besondere Autorität zu.

Welche Methoden geeignet sind, um innerhalb der Wissenschaft Fortschritte erzielen können, ist hingegen sehr wohl eine wissenschaftliche Frage. Diese kann man zwar keinesfalls allgemein, also für «die Wissenschaft» als Ganzes beantworten, aber Spezialisten und Spezialistinnen können sie für ihr jeweiliges Gebiet angehen. Wenn Forschende uns Laien also sagen, dass Tierversuche die geeignetste Methode sind, um gewisse wissenschaftliche Fragen zu beantworten, dann sollten wir ihren Kompetenzen vertrauen.

Vorsicht vor mehrdeutigen Fragen!

Die Frage nach der Bedeutung von Tierversuchen ist also mehrdeutig und richtet sich in ihren jeweiligen Interpretationen an verschiedene Akteure: Welche Bedeutung haben Tierversuche als Methode für wissenschaftliche Erkenntnis? ist eine wissenschaftliche Frage und sollte ausschliesslich von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beantwortet werden. Die Frage: Welche Bedeutung hat wissenschaftliche Erkenntnis für uns als Gesellschaft? darf natürlich auch von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen diskutiert werden, allerdings ist sie keine wissenschaftliche Frage und kann nicht mit wissenschaftlichen Mitteln angegangen werden.

Dies sollte eigentlich einleuchten. Doch kommt es beidseitig immer wieder zu Kompetenzüberschreitungen, die in ziemlichem Chaos enden. Laien stellen die Forschung unter Generalverdacht und hinterfragen auf unsinnige Art die Kompetenzen der Forschenden, während Forschende die Bedeutung von wissenschaftlichen Belegen für die Welt notorisch überschätzen und damit beide Fragen mit wissenschaftlichen Mitteln beantworten wollen. Es wird Studie um Studie zitiert und am Ende wundert man sich im Delirium der Erschöpfung, warum man keinen Schritt weitergekommen ist. Was ist hier passiert?

Leiden Tierversuchsgegner an einem Mangel an Rationalität?

Der unausgesprochene Vorwurf der Forschenden lautet oftmals: Tierversuchsgegner und Gegnerinnen würden an einem Informationsdefizit der wissenschaftlichen Tatsachen «leiden». Diese Defizite müssten dann durch richtige Aufklärung «geheilt» werden (indem man Öffentlichkeitsarbeit leistet und zeigt, wie Tierversuche wirklich ablaufen, wie viele Tiere tatsächlich betroffen sind, wie Forschung und Fortschritt zusammenhängen etc.). Die zugrunde liegende Annahme ist, dass danach jeder oder jede auf ganz natürliche Weise zum «vernünftigen» Urteil komme – dass Tierversuche nämlich unerlässlich seien.

Das ist zu kurz gedacht. Es ist schlicht falsch vorauszusetzen, dass Wissenschaft der einzig rationale, der einzig vernünftige oder der einzig richtige Umgang mit der Welt ist. Demnach ist es auch respektlos, diejenigen als unvernünftig oder unaufgeklärt anzusehen, die diese Ansicht nicht teilen. Der Grund kann in einer simplen Redeweise zusammengefasst werden: Wissenschaft ist nicht das Mass aller Dinge. Denn ein solches Mass gibt es nicht. Es folgt ein Beispiel.

Seiten der Hirnforschung wird oft behauptet, dass Tierversuche unerlässlich seien, um zukünftig psychische Krankheiten zu heilen. Es ist richtig (schliesslich vertraue ich hier den Forschenden, wenn sie mir sagen, dass es richtig ist), dass für die Hirnforschung Tierversuche so gut wie unerlässlich sind, um Erkenntnisse zur Heilung psychischer Krankheiten zu gewinnen. Daraus folgt jedoch nicht, dass Tierversuche überhaupt die einzige Methode sind, um mit psychischen Krankheiten umzugehen. Es gibt nämlich zahlreiche Präventions- und Therapieformen, die sich ebenfalls dem Umgang mit psychischen Krankheiten widmen. Die Unerlässlichkeit von Tierversuchen zur Heilung psychischer Krankheiten ist also ebenfalls mehrdeutig: Von der Unerlässlichkeit für die Hirnforschung darf nicht einfach auf eine allgemeine Unerlässlichkeit geschlossen werden.Wenn wir nun zwischen dem Zugang der Hirnforschung und alternativen Zugängen abzuwägen wollen, bräuchten wir einen Massstab. Aber einen solchen Massstab haben wir nicht.

Es gibt nicht einen Massstab sondern unzählige.

Was wir stattdessen haben, sind unzählige solcher Massstäbe. Die Naturwissenschaft hat einen solchen Massstab, nämlich (sehr kurzgefasst) das Übereinstimmen mit der Empirie. Innerhalb der Naturwissenschaft taugt diese Messlatte enorm viel. Allerdings taugt dieselbe Messlatte gar nichts zum Abwägen von: Berufswahl, der nächsten Ferienlektüre, sozialen Beziehungen, Kinder haben ja oder nein, dem Sinn des Lebens und sie taugt ebenso wenig für die Entscheidung, wie wir als Gesellschaft mit psychischen Krankheiten umgehen wollen. Im Alltag wechseln wir gekonnt zwischen verschiedenen Messlatten hin und her und würden deshalb niemals auf den Gedanken kommen, wir verhielten uns irrational oder unaufgeklärt, weil wir der Übereinstimmung unserer Entscheide mit der Empirie keine Beachtung schenken.

Sobald es aber darum geht, wissenschaftliche Zugänge zur Welt mit anderen Zugängen abzuwägen, haben Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen den Hang, uns zu dieser Entscheidung ihre eigene Messlatte in die Hand zu drücken; sie uns als das Mass aller Dinge, gar das Mass aller Masse zu verkaufen und zu schliessen: «Da schau doch selbst, wie du im Irrgarten läufst!» – Ein herrliches Heimspiel! Natürlich zieht die Wissenschaft einen unangefochtenen Sieg davon, wenn wir ihren Erfolg mit ihrer eigenen Messlatte messen.

«Siehst du, wie irrational Schrauben eindrehen ist!»

Jedem Massstab seinen Kontext. Welchen der unzähligen Massstäbe wir anwenden sollten, wissen wir genau dann, wenn wir Sinn und Zweck der Sache vorgeben; wenn wir ein Ziel haben, eine Absicht. Der Zweck der Wissenschaft ist quasi in ihrem Massstab bereits enthalten. Was aber soll jemand mit dieser Messlatte anfangen, der den Zweck oder die Werte der wissenschaftlichen Tätigkeit nicht teilt? Offensichtlich gar nichts. Das ist, wie wenn ich eine Schraube eindrehen möchte und mir jemand einen Hammer als Werkzeug gibt, um mir zu zeigen: «Siehst du, wie irrational Schrauben eindrehen ist!» Die einzige Möglichkeit um diesem Vorwurf zu entfliehen, ist es dann auf die innerwissenschaftlichen Fragen loszugehen. Eben die Kompetenzen der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen anzugreifen, denn nur dafür taugt die Messlatte in der Hand. Et voilà, da haben wir das destruktive Durcheinander. Studien um Studien werden dann zitiert, über die Übertragbarkeit, den Nutzen, das exakte Schmerzleiden, die Zu- oder Abnahme von Tierversuchen bis der erste sich der Erschöpfung ergibt. Dabei wollte man gar nicht diese Fragen diskutieren.

Wissenschaft: der Zweck aller menschlichen Existenz?

Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben die Tendenz, die Leistungsfähigkeit ihres eigenen Massstabs notorisch zu überschätzen. In ihren Augen muss ein nicht-wissenschaftlicher Blick entweder irrational sein oder einen Mangel an Aufklärung offenbaren. Sie führen daher vor, dass man mit einem Hammer keine Schrauben eindrehen kann, um zu beweisen, dass Schrauben eindrehen ein irrationales Unterfangen ist (im schlimmsten Fall sogar, um daraus zu folgern, dass es Schrauben gar nicht gibt!). Dies in der festen Überzeugung, der wissenschaftliche Massstab sei das Mass aller Dinge oder gar das Mass aller Masse. Als hätten die Menschen irgendwann entdeckt, dass der Zweck aller menschlichen Existenz die wissenschaftliche Wahrheitsfindung wäre. Das ist eine waghalsige metaphysische Behauptung, für die man sicherlich einstehen kann. Allerdings wäre es mir lieber, man würde sie dann nicht als einen wissenschaftlichen Fakt verkaufen. Die Bedeutung der Wissenschaft legitimiert sich nun mal nicht durch sich selbst.

Nur irrationale Gründe unterstellen Irrationalität.

Lassen wir Hammer und Schrauben beiseite und widmen uns wieder dem Gehirn und den Tieren. Die Quintessenz meines Standpunktes ist simpel: Es hilft, sich von Zeit zu Zeit über das eigene Denken hinaus zu wagen und das, was man dort antrifft, ernst zu nehmen. Nicht alle Denkweisen mögen denselben wissenschaftlichen Erfolg nach sich ziehen, aber das ist nur dann relevant, wenn uns der wissenschaftliche Erfolg auch kümmert. Und zu dieser Überzeugung zwingt uns nichts.

Da es keinen Massstab gibt, um Massstäbe zu messen, kein Mass aller Masse, gibt es auch nur ausschliesslich irrationale Gründe, jemandem diese Ernsthaftigkeit abzusprechen. Denn zur Beantwortung der Frage nach dem Wert von wissenschaftlichen Erkenntnissen bzw. Anwendungen, die mittels Tierversuchen gewonnen werden, gibt es keine Spezialisten oder Spezialistinnen. Und wer versucht, sich diese Autorität anzumassen, muss dann wohl damit rechnen, dass an dessen Kompetenzen gezweifelt wird. Wenn sich jeder an seine Kompetenzen hielte, würde aus dem destruktiven Chaos eine zielführende Diskussion, die sich nicht um Fakten streitet, sondern deren Wert für unsere Gesellschaft diskutiert.

Autor*innen

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Vize-Präsidium, Qualität & Entwicklung

Michaela Egli ist Doktorandin in Wissenschaftsphilosophie und Philosophie der Medizin an der Universtität Genf und arbeitet beim Swiss Personalized Health Network als Projektmanagerin für Ethical Legal Social Issues (ELSI).

Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.

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