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Ist Justitia blind für Tierversuche?

Die Schweiz besitzt eines der schärfsten Tierschutzgesetze der Welt. Diese Aussage hört man oft, wenn es um Tierversuche geht. Doch wie sieht es mit der Anwendung in der Praxis aus? Ivan Marijanovic erläutert anhand eines Fallbeispiels des Bundesgerichts, welche Kriterien die Rechtsprechung bei der Beurteilung von Tierversuchen berücksichtigt.

Antworten auf häufige Fragen zur Forschung mit Tieren und Menschen finden Sie in den Themendossiers «Tierversuche in der Schweiz (FAQ)» und «Forschung mit Menschen (FAQ)».

Ein Entscheid des Bundesgerichts als Fallbeispiel

In diesem Beitrag geht es um die rechtlichen Aspekte von Tierversuchen in der Schweiz und wie die bundesgerichtliche Rechtsprechung dazu steht. Dies lässt sich am besten anhand eines Beispiels erläutern.

Im nachfolgend geschilderten Fall handelt es sich um einen Leitentscheid (BGE 135 II 405) des Bundesgerichts (BGer) aus dem Jahr 2008 im Bereich von Tierversuchen. Der Sachverhalt des Falls war folgender: Im Januar 2006 beantragten zwei Forscher des Instituts für Neuroinformatik von ETH und Universität Zürich eine Bewilligung für einen Versuch mit nichtmenschlichen Primaten (sog. Rhesusaffen).

Die Experimente sollten dazu dienen, Lernprozesse innerhalb des visuellen Systems zu verstehen und zu untersuchen, wie sich dessen Lernleistung verbessern liesse. Dazu hätten die Forscher die Aktivität einzelner Neuronen innerhalb der Hirnrinde gemessen, um herauszufinden, welche Strukturen und neuronalen Mechanismen bei visuellen Lernprozessen involviert sind.

Für das Experiment sollten die Rhesusaffen unter Narkose Messelektroden eingesetzt bekommen, welche an der Schädeldecke befestigt gewesen wären. Die Messungen hätten dann in Phasen von bis zu vier Stunden stattgefunden, wobei der Kopf der Versuchstiere in einem sogenannten Primatenstuhl fixiert worden wäre.

Wie im Bewilligungsverfahren üblich, reichten die Forscher ihren Antrag beim Veterinäramt des Kantons Zürich ein, welches diesen wiederum der kantonalen Tierversuchskommission zur Prüfung vorlegte. Diese lehnte den Versuch ab.

Das Veterinäramt entschied in seinem eigenen Urteil jedoch zunächst positiv und ignorierte den negativen Entscheid der Tierversuchskommission (wozu das Amt gesetzlich berechtigt ist). Deshalb rekurrierte die Tierversuchskommission bei der nächsthöheren Instanz – der Gesundheitskommission. Diese stützte den Rekurs der Tierversuchskommission und hob den Entscheid des Veterinäramts auf.

Die Forschenden zogen das Urteil an das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich weiter, welches die Beschwerde jedoch abwies. Somit gelangten die Gesuchsteller mit einer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) an das Bundesgericht. Auch dieses wies die Beschwerde schliesslich ab.

Güterabwägung führt zum Entscheid

Wie kam es zu diesem Urteil? Wie im öffentlichen Recht häufig, handelt es sich auch bei diesem Entscheid im Wesentlichen um eine Güterabwägung: Welches Rechtsgut soll mehr Gewicht erhalten? Der erwartete Erkenntnisgewinn oder die Schmerzen und Leiden des Tieres?

Juristisch gesprochen handelt es sich um eine Kollision zwischen dem Grundrecht der Forschungsfreiheit (Art. 20 BV) und den Auflagen des Tierschutzes (Art. 80 Abs.2 BV). Die richterliche Prüfung erfolgt in solchen Fällen ganz unterschiedlich, aber zwei Punkte sind bei Grundrechtseingriffen immer zentral: erstens die Verhältnismässigkeit und zweitens die Abwägung von öffentlichem und privatem Interesse (d.h. die eigentliche Güterabwägung).

Im konkreten Fall haben die Richter zugunsten des Tierschutzes und gegen das Forschungsinteresse entschieden. Der Nutzen, welchen das Experiment versprach, unterlag in der Gesamtabwägung dem Tierschutz. Grundlage dafür bot Art. 61 Abs 3 lit. d aTSchV.

Die Bundesrichter argumentierten u.a. damit, dass es sich beim Experiment um Grundlagenforschung handelt und nicht um angewandte Forschung. In den Augen des BGer wäre der zu erwartende Nutzen bei der angewandten Forschung nämlich höher einzuschätzen als bei der Grundlagenforschung.

Zwar wird ein klinischer Nutzen nicht generell verneint (E.4.3.2), allerdings reicht dieser aus Sicht des BGer nicht aus, um das Leiden der Tiere aufzuwiegen. Insbesondere betont das BGer (E.4.3.4) die Hierarchie im Tierreich, welche auch eine Rolle spielt bei der Beurteilung. Da es sich bei Makaken um hochentwickelte und menschenähnliche Tiere handelt, wiegt deren Schmerz und Leid in den Augen der Bundesrichter höher als bei anderen Tieren.

Was das Urteil nicht bedeutet

Manche mögen sich an dieser Ungleichbehandlung von Grundlagenforschung und angewandter Forschung stossen. Das BGer betrachtet Experimente der Grundlagenforschung jedoch nicht prinzipiell als unbedeutend– es geht ihm im konkreten Einzelfall vielmehr um den Nutzen, den das einzelne Experiment abwirft. Im vorliegenden Fall schien nun eben dieser zu erwartende Nutzen nicht genügend hoch gewesen zu sein.

Das Urteil des BGer bedeutet indes nicht, dass die Grundlagenforschung generell auf Tierversuche mit Primaten verzichten muss. Es handelte sich bei dem Urteil um eine Einzelfallbeurteilung, wie sie auch in vergleichbaren Fällen durchgeführt würde. Was bedeutet das Urteil nun aber für die Grundlagenforschung?

Grundlagenforscher sollten sich den erhöhten Anforderungen des BGer an den Tierschutz bewusst sein. Wird von einem Experiment grundlegendes Wissen über biologische Prozesse erhofft, so darf es nicht so stark in das Verfassungsinteresse des Tierschutzes eingreifen, wie wenn ein Versuch der Entwicklung einer klinischen Anwendung dient. Die Forschenden sind deshalb stets angehalten, bei der Planung ihrer Experimente zu überprüfen, ob die zu erwartenden Resultate die Mittel rechtfertigen – wobei klinisch verwertbaren Ergebnissen eine höhere Bedeutung eingeräumt wird als grundlegenden biologischen Erkenntnissen. Ob eine solche Unterteilung in Grundlagen- und angewandte Forschung wissenschaftlich sinnvoll ist, steht auf einem anderen Blatt. Es entspricht auf jeden Fall der heutigen Gesetzeslage.

Dass dies in der Praxis zu Problemen führen kann, ist klar. Denn nahezu jede Forschung ist sinnvoll und die Forschenden sind stets darauf bedacht, so viele Erkenntnisse wie nur möglich aus ihren Experimenten zu ziehen. Im Falle von Grundlagenforschung ist es jedoch ratsam, im Zweifelsfall das geringstmögliche Mittel für die Experimente zu wählen, um keine Blockade durch Behörden und Gerichte zu riskieren.

In diesem Zusammenhang ist auch wichtig zu verstehen, dass Zweck-Mittel-Relation nicht gleich Erfolg-Mittel-Relation ist. Die Beurteilung eines Experiments im Bereich Grundlagenforschung ist stets problematisch, da das genaue Ergebnis nie vollkommen absehbar ist. Es handelt sich dabei stets um eine Prognose, welche durch das beurteilende Gericht gestellt wird. Dabei wird das Problem auch dadurch verschärft, dass den Richtern im Bereich der Spitzenforschung das nötige Fachwissen fehlt.

Falsch wäre es deshalb, Primatenversuche im Speziellen (und Tierversuche im Allgemeinen) für die Grundlagenforschung prinzipiell abzulehnen. Denn unser Rechtssystem ist glücklicherweise so ausgestaltet, dass es die – für die Beurteilung von Tierversuchen absolut notwendige – Einzelfallbeurteilung zulässt, ja sogar vorschreibt. Falsch ist in diesem Zusammenhang auch das Bild der Justitia mit ihren verbundenen Augen. Vielmehr ist es die Verhältnismässigkeit, also das vorsichtige Abwägen von Tierschutz und Erkenntnisgewinn, welches als Maxime zu befolgen ist. So und nur so ist es möglich, ein Ergebnis zu erzielen, welches sowohl den Tieren als auch den Forschenden gerecht wird.

Autor*innen

Ivan Marijanovic (24) hat Politikwissenschaft an der Universität Zürich studiert und absolviert ein Zweitstudium in Rechtswissenschaften an der Universität St. Gallen und der Universität Zürich.


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