Antworten auf häufige Fragen zur Forschung mit Tieren und Menschen finden Sie in den Themendossiers «Tierversuche in der Schweiz (FAQ)» und «Forschung mit Menschen (FAQ)».
Als erstes europäisches Land schrieb die Schweiz 1992 die Würde der Kreatur in die Verfassung (Art. 120 Abs. 2). Doch was ist die Würde der Kreatur überhaupt? Und welchen Einfluss hat dieser Begriff auf die Wissenschaft? [1]
Die Würde der Kreatur (bei Tieren auch als Würde des Tieres beschrieben, der Begriff umfasst sonst auch Pflanzen) soll Tiere vor unzulässigen Eingriffen durch den Menschen schützen. Das Konzept der Würde kennt die juristische Lehre bereits von der Menschenwürde. In die Menschenwürde darf keineswegs eingegriffen werden, ist sie doch als selbständiger Verfassungsgrundsatz in der Bundesverfassung kodifiziert. Es ist somit absolut verboten, jegliche Beschränkung dieses Rechts durch ein anderes Grundrecht zu rechtfertigen – und sei es noch so fundamental.
Die zentrale Frage, welche die juristische Lehre über die Würde der Kreatur nun scheidet, ist: Inwiefern entspricht die Würde des Tieres ihrem Konzept nach der Menschenwürde?
Zwei Argumentationsstränge sind für die vorliegende Diskussion wichtig: Der eine lehnt die Würde des Tieres an die Menschenwürde an und sieht deshalb Elemente dieser auch bei der Würde des Tieres anwendbar. Eine andere Argumentation sieht dies genau nicht so und betont einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Menschenwürde und der Würde des Tieres. Dennoch gibt es in den beiden Argumentationslinien einen gemeinsamen Konsens darüber, dass die Würde des Tieres einen gewissen Kerngehalt besitzt. Es ist somit im Umgang mit Tieren im Allgemeinen und bei Tierversuchen im Speziellen stets darauf zu achten, dass dieser Kerngehalt der Würde des Tieres bewahrt wird. Dies bedeutet, dass ein gewisser Mindestschutz zu gewährleisten ist.
Doch was genau enthält dieser Kerngehalt? Welche Aspekte der Würde des Tieres gibt es, die auf keinen Fall angetastet werden dürfen?
Eine äusserst prägnante Definition liefert Nils Stohner: Der Kern der Würde des Tieres umfasst vor allem ein Verbot von grausamer Behandlung sowie grausamer Tötungsmethoden und der Missachtung der grundlegenden Bedürfnisse. Diese Ansicht erfasst den Kerngehalt der Würde des Tieres ziemlich gut und erlaubt eine gewisse Flexibilität bei der Anwendung.
Doch darf die Würde der Kreatur mit anderen Rechtsgütern überhaupt abgewogen werden? Dies ist die zweite Frage, welche in diesem Zusammenhang gestellt werden muss, denn die Antwort darauf hat für die Forschung weitreichende Konsequenzen. So würde zum Beispiel ein absolutes Verbot einer solchen Güterabwägung, also ein absoluter Vorrang der Tierwürde, einem faktischen Verbot von Tierversuchen gleichkommen.
Dadurch, dass die Würde der Kreatur in der Verfassung verankert wurde, ergibt sich auch ein neuer Blickwinkel bezüglich der Güterabwägung mit anderen Grundrechten in der Verfassung. Während früher davon ausgegangen wurde, dass eine Güterabwägung in jedem Fall gestattet ist, wurde dies in der neueren Lehre und Rechtsprechung relativiert. Es ist deshalb definitiv anzunehmen, dass die Würde des Tieres zumindest auf der gleichen normativen Stufe wie die Wirtschafts- und Forschungsfreiheit steht. Grundsätzlich wird so den Interessen des Menschen keine absolute Vormachtstellung eingeräumt. Sondern die Abwägung muss dem Prinzip der Verhältnismässigkeit genügen. Insbesondere ist es wichtig, dass der oben genannte Kerngehalt der Tierwürde nicht angetastet wird.
Auch das Bundesgericht (BGer) lehnt eine Abwägung nicht gänzlich ab, stellt aber sehr hohe Bedingungen für mögliche Einschränkungen der Würde des Tieres. Das BGer beurteilt Tierversuche generell als eine Praxis, die der Tierwürde widerspricht, deshalb gilt für Tierversuche das Prinzip der Unerlässlichkeit. D.h. Tierversuche dürfen als ultima ratio zum Erkenntnisgewinn in der Forschung angewandt werden, wenn zuvor Alternativmöglichkeiten, wie sie in der Tierschutzgesetzgebung gefordert werden, geprüft werden. Dann und nur dann, wenn kein anderes Mittel zum Erreichen eines gewissen, als wichtig erachteten Erkenntnisgewinns vorliegt, ist ein Tierversuch nach der bundesgerichtlichen Formel erlaubt.
Problematisch wird es da vor allem in der Grundlagenforschung. Der wesentliche Unterschied zwischen dieser und der angewandten Forschung ist der direkt absehbare Nutzen für den Menschen, auf welchen das BGer abstellt. Dadurch drohen die Interessen der Grundlagenforschung bei einer Güterabwägung mit der Tierwürde oftmals zu unterliegen, weil der unmittelbare Nutzen für den Menschen jeweils nur schwer aufzuzeigen ist – ungeachtet der Tatsache, dass der langfristige Nutzen oftmals gegeben ist.
Dies ist genau das Kernproblem der Grundlagenforschung: den kurz- bis mittelfristigen Nutzen für den Menschen aufzuzeigen. Denn genau ein solcher wird als entscheidendes Kriterium vom BGer verwendet. Obwohl der langfristige Nutzen der Grundlagenforschung kaum bestritten ist, wird dies durch die eher einseitige Auslegung des Nutzenbegriffs durch das BGer teilweise verkannt.
Wie nun dargelegt wurde, unterliegt die Einschränkung der Tierwürde also einer relativ engen rechtlichen Schranke. Sie ist nur erlaubt, sofern das Experiment unerlässlich ist und der Erkenntnisgewinn (nach der bundesgerichtlichen Formel) entsprechend vorhanden ist. Dies ist insbesondere bei Wirbeltieren und noch stärker bei den nicht-menschlichen Primaten der Fall. Vor allem bei letzteren sieht das BGer eine besondere Nähe zum Menschen und somit auch zur Menschenwürde, sodass noch höhere Bedingungen an Tierversuche gestellt werden.
Dennoch werden durch die kantonalen Ethikkommissionen und die Rechtsprechung die meisten Gesuche gutgeheissen. Dies deutet darauf hin, dass die meisten Tierversuche die strengen Auflagen des Schweizer Tierschutzgesetzes zu erfüllen scheinen und damit auch nach der heutigen Rechtsauslegung gerechtfertigt sind.
Referenzen
Der vorliegende Artikel basiert teilweise auf: Michel, Margot: Die Würde der Kreatur und die Würde des Tieres im schweizerischen Recht. Eine Standortbestimmung anlässlich der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, Natur und Recht 2/2012, 102 ff.
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