Musik

Beethoven oder Lil Pump - Was macht Musik gut oder schlecht?

Ständig bewerten wir Musik. Doch das ist eigentlich gar nicht so einfach, wie der Vergleich zweier unterschiedlicher Musikstile zeigt.

Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Sommerakademie «Music, Computation and the Mind» der Schweizerischen Studienstiftung und wurde redaktionell begleitet von Reatch.

Was hat Lil Pumps Song „Gucci Gang“ (https://www.youtube.com/watch?v=9alXo1OXTec) mit Pizza Hawaii zu tun? Auf den ersten Blick nicht so viel. Doch dazu später mehr. Wer den Song kennt, hat sicher sofort eine Meinung dazu, ob der Song gut oder schlecht ist. Solche Urteile über die Qualität von Musik gehören zu unserem Alltag und dienen auch häufig dazu, Gruppenzugehörigkeit zu signalisieren.

Über Geschmack kann man streiten. Dennoch scheint es, vor allem wenn es um klassische Musik oder „Klassiker“ aus der populären Musik geht, oft einen Konsens zu geben, welche Musik besonders gut ist: Bach, Mozart und Beethoven, oder Louis Armstrong, die Beatles und die Rolling Stones. Da fragt man sich, ob diese Musiker etwas besonders gemacht, eine Geheimformel gefunden haben, die ihre Musik Jahrzehnte bis Jahrhunderte überdauern liess. Ist ihre Musik, ungeachtet jeder Geschmacksdiskussion, besonders gut?

Die Frage, was Musik zu guter oder schlechter macht, bringt die Frage mit sich, was „gut“ in diesem Kontext bedeutet. Die Musik von Louis Armstrong könnte z.B. als besonders gut bewertet werden, weil Trompeter*innen seine Soli als technisch anspruchsvoll einstufen. Ich möchte allerdings in diesem Blog eine andere Perspektive auf die Frage nach Gut und Schlecht bieten. Im Fokus soll nämlich das ästhetische Werturteil stehen. Damit meine ich Aussagen wie: „Ich finde Beethovens 9. Symphonie besser als Lil Pumps Song Gucci Gang.“ Viele würden wohl diesem Werturteil zustimmen. Aber wieso eigentlich?

Wie können wir Musik bewerten?

Zunächst könnte man feststellen, dass das Werturteil oben nicht fundiert ist. Nach dem Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus ist es nämlich möglich, ein ästhetisches Werturteil fundiert zu begründen.[1] Jede Begründung eines Werturteils sollte sich zur Überprüfung der Richtigkeit an einem Wertmassstab orientieren.[2] Das könnte in unserem Fall eine Analyse der harmonischen Zusammenhänge der Musik sein. Die würde zeigen, dass Beethovens Symphonie nach den Gesetzen einer solchen Harmonielehre deutlich vielfältiger mit den harmonischen Relationen in der Musik umgeht als Lil Pump. Andererseits kann man auf einen kollektiven Konsens verweisen: Beethovens 9. ist Teil des Kanons klassischer Musik, „Gucci Gang“ nicht. Deshalb macht es unter Umständen keinen Sinn, Massstäbe, die für diesen Kanon gelten, zu übertragen. Letztlich muss das Werturteil gut begründet und hergeleitet sowie transparent sein.[2]

Dieser Kanon klassischer Musik ist eines der häufigsten Argumente beigezogen, mit denen die Qualität von Musik begründet wird. Damit ist z.B. genau die oben genannte Aufzählung (Bach, Mozart, Beethoven und die Beatles, Rolling Stones und Louis Armstrong) gemeint, also eine Reduktion der Vielfalt an Musik auf bestimmte Künstler*innen und Stücke bzw. Songs. Der Musikwissenschafter Carl Dahlhaus behauptet, dass der ästhetische Rang und die historische Bedeutung eines Stückes bestimmen, ob letzteres in den Kanon gelangt. Der ästhetische Rang bezieht sich nach Dahlhaus auf das Stück und dessen Qualität. Er ergibt sich also aus einer Betrachtung der Musik, die den Stellenwert ausblendet, den Beethoven und seine Symphonie in der westlichen Musik innehaben. Die historische Bedeutung hingegen bezieht sich auf den Einfluss des Stücks zur Zeit seiner Aufführung und auf spätere Musikschaffende. Beethoven hat z.B. als erster in seiner Symphonie einen Chor als zusätzliches Element eingeführt, was später von anderen Komponist:innen wie Gustav Mahler aufgenommen wurde. Innovation wäre nach Dahlhaus ein Argument für den herausragenden Wert der Symphonie.[2]

Der Kanon klassischer Musik ist nicht absolut

Dass der Kanon klassischer Musik als Argument für die Qualität von Musik kaum stichhaltig ist, stellt sich schnell bei genauerer Betrachtung heraus: Wenn die Musik des Kanons klassischer Musik besonders gut sein soll, haben Frauen damals nie gute Musik gemacht? Klar ist, dass viele Faktoren beeinflussen, welche Musik als herausragend beurteilt und in den Kanon aufgenommen wird. Es sind Fakten, die oft gar nichts mit der Musik an sich zu tun haben. Die überwältigende Mehrheit der Frauen hatte z.B. während des Grossteils der europäischen Musikgeschichte noch weniger die Möglichkeit als Männer, sich vollumfänglich der Komposition zu widmen oder öffentlich aufzutreten.

Das Werturteil „Beethovens 9. ist besser als Gucci Gang, weil sie dem Kanon der klassischen Musik angehört“, lässt sich also leicht anfechten. Dieser Vergleich zeigt allerdings auch ein weiteres Problem in der Diskussion um gute und schlechte Musik auf. Es werden nämlich zwei kaum vergleichbare Arten von Musik einander gegenübergestellt. Sie sind so unterschiedlich, dass eine Aussage, welche Musik besser sei, eigentlich nicht möglich ist. Schliesslich zeigt das Beispiel, dass wir häufig grundverschiedene Arten von Musik vergleichen, aber trotzdem eine Meinung über die Gewichtung dieser Musikarten haben. Musik besteht aus einer Vielzahl von Parametern, aus Melodie, Harmonie, Rhythmus, aber auch Sound, Abmischung, Text u.v.m. Die Beethovensymphonie besitzt einen Fokus auf Parameter wie Melodie und Harmonie, die bei Gucci Gang vernachlässigt werden. Andererseits besitzt Gucci Gang eine Komplexität der Soundvielfalt, die zu Beethovens Zeit gar nicht möglich gewesen wäre.[3]

Musikstile vergleichen: 5-Gänge-Menü vs. Pizza Hawaii

Der Vergleich von Lil Pump und Beethoven ist, als würde man ein teures 5-Gänge-Menü mit einer Pizza Hawaii aus dem nächsten Imbiss vergleichen. Ersteres hat eine lange Zubereitungs- und Verzehrzeit und spricht eine ältere, vermögendere Klientel an. Die Pizza Hawaii hingegen wird oft schnell verschlungen, ist günstig und wird meist nur im Geheimen gegessen, da sie gegen die ungeschriebene Regel verstösst, Ananas gehöre nicht auf Pizza. Wichtig dabei ist allerdings: Sowohl das Menü als auch die Pizza können uns gut oder schlecht schmecken. Die eigentlichen Eigenschaften des Essens, oder wie aufwändig dessen Herstellung war, haben darauf keinen Einfluss. Das gilt genauso für Beethoven und Lil Pump.

Die Aussage, Beethoven sei besser als Lil Pump oder anders herum, ist nicht falsifizierbar.[4] Anders als ein Tatsachenaussage, wie: „Beethoven ist im Jahr 1770 geboren“ können wir ästhetische Werturteile nämlich nicht als richtig oder falsch einordnen. Ausserdem ist das Werturteil, wie bei der Frage „exquisites Menü oder Pizza?“, unabhängig von den objektiv feststellbaren Eigenschaften der Musik.[4] Man könnte z.B. feststellen, dass Beethoven handwerklich raffiniert dutzende Stimmen von verschiedenen Instrumenten vereint. Das bedingt aber nicht, dass unser ästhetisches Werturteil über die Symphonie zwangsläufig positiv ausfallen muss. Umgekehrt kann man Gucci Gang lieben, auch wenn die Harmonie des Songs nicht der Vielfalt und Komplexität der klassischen Musik des 19. Jahrhunderts gleicht.

Was ist nun gute Musik? Es ist die Musik, die Dir persönlich gefällt. Das ist vielleicht für viele keine befriedigende Antwort, sie zeigt aber das Grundproblem dieser Diskussion: Statt die Qualität von Musik auf scheinbaren Fakten oder Autoritäten zu basieren, ist die eigene Erfahrung, das individuelle ästhetische Werturteil, viel wichtiger. Bewertungen von Musik finden sich ständig in unserem Alltag, lassen sich aber für Musik als Kunst nicht wie ein Sachurteil bestätigen. Kriteriengestützt ist es vielleicht möglich, ein „gefällt mir“ zu begründen, diese Kriterien können allerdings in einer anderen Musikart oder in einem anderen Genre nicht gelten. Die Musikbewertung durch Kritiker*innen kann uns zwar zu Musik führen, die uns selbst gefällt und gut ist. Allerdings können solche Bewertungen auch die persönliche ästhetische Erfahrung guter Musik erschweren. Genauso wie solche Bewertungen die eventuell positive Hörerfahrung des Songs „Gucci Gang“ verhindern, kann ein kritischer Kommentar des Kellners einen davon abhalten, die Pizza Hawaii zu bestellen – obwohl man sich selbst keinen grösseren Genuss vorstellen kann.

Quellen

[1]

Dahlhaus, C. (1969). Zum Problem des Werturteils. Die Musikforschung, 22(1), 38–41.

[2]

Custodis, M. (2016). „Das Werturteil als Gegenstand und als Prämisse“ – Kontexte und Konsequenzen. In F. Geiger & T. Janz (Hrsg.), Schöningh and Fink Literature and Culture Studies E-Books, Collection 2013-2017, ISBN: 9783657100064. Carl Dahlhaus' Grundlagen der Musikgeschichte: Eine Re-Lektüre (S. 137–155). Wilhelm Fink Verlag. https://doi.org/10.30965/97838...

[3]

Helms, D. (2002). Musikwissenschaftliche Analyse Populärer Musik? In H. Rösing, A. Schneider & M. Pfleiderer (Hrsg.), Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft: Bd. 19. Musikwissenschaft und populäre Musik (S. 91–103). Peter Lang Gmbh, Internationaler Verlag der Wissenschaften.

[4]

Hentschel, F. (2019). Ästhetische Wertung. In F. Hentschel (Hrsg.), Kompendien Musik: Bd. 2. Historische Musikwissenschaft: Gegenstand - Geschichte - Methodik (S. 217–229). Laaber.

Autor*innen

Anton Schreiber

Autor*in

Anton Schreiber studiert Musikwissenschaft mit einem Schwerpunkt auf Musikpsychologie an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Er interessiert sich für alle musikbezogenen Themen, geht mehrmals in der Woche Klettern und möchte mit Reatch sein Studiengebiet einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen.

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