Klimawandel, Covid-19 oder Krebs: Wissenschaftliche Ansichten sind ein fester Bestandteil demokratischer Debatten. Die Art und Weise, wie sich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in der Politik engagieren, führt jedoch regelmässig zu hitzigen Debatten – sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Wissenschaft. Einige sind der Meinung, dass Forschende zu zögerlich sind und fordern mehr Aktivismus. Andere kritisieren genau das, fordern mehr Zurückhaltung und verweisen auf die vielen etablierten demokratischen Verfahren, in denen wissenschaftliche Ansichten geäussert werden. Am 19. Oktober diskutierten wir mit fünf Personen über die Beweggründe, den Wert und die möglichen Auswirkungen verschiedener Arten von Aktivismus. Mir ihren unterschiedlichen Hintergründen in Epidemiologie, Umweltwissenschaften oder Philosophie engagieren sie sich alle auf die eine oder andere Weise politisch.
Unsere Podiumsteilnehmenden:
Dr. Cyril Brunner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Klimaphysik an der ETH Zürich. Er ist an verschiedenen nationalen und kantonalen Klimastrategien beteiligt und gehört zum wissenschaftlichen Beirat der Gletscherinitiative, die das inländische Netto-Null-Treibhausgas-Ziel ins Gesetz schreiben will.
Dr. Caspar Hirschi ist Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität St. Gallen. Er hat sich eingehend mit den unterschiedlichen Rollen von wissenschaftlichen Experten und Intellektuellen in der Gesellschaft beschäftigt – von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Ausserdem ist er Mitglied des Reatch-Beirats.
Dr. Tanja Rechnitzer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leibniz Universität Hannover und Vorstandsmitglied von Reatch. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte als Philosophin sind die Rollen von Experten und Expertenwissen in einer demokratischen Gesellschaft.
Dr. Marcel Salathé ist Professor für digitale Epidemiologie an der EPFL. Er arbeitete regelmässig an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik, unter anderem in der ehemaligen Covid-Taskforce. Ausserdem ist er Mitbegründer von CH++, einer politischen Organisation mit dem Ziel, die wissenschaftlichen und technologischen Kompetenzen von Politik, Verwaltung und Gesellschaft zu fördern. Darüber hinaus ist er Mitglied des Beirats von Reatch.
Dr. Anaïs Tilquin forschte bis vor Kurzem im Bereich der Evolutionsbiologie. Nun arbeitet sie als Aktivistin für die Organisation "Renovate Switzerland", die sich im Kampf gegen den Klimawandel auch den Methoden des zivilen Ungehorsams bedient.
Die letzten Jahre, Monate und sogar Tage haben gezeigt, dass wissenschaftliche Ansichten ein fester Bestandteil der demokratischen Debatten sind. Die Gesellschaft steht vor vielen verschiedenen und komplexen Herausforderungen. Personen aus der Politik wandten sich stets an Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, um Ratschläge für die Bewältigung der Probleme zu erhalten. Doch in der Zwischenzeit gehen immer mehr Forschende über ihre traditionelle Rolle als Berater hinaus und setzen sich aktiv für gesellschaftliche und politische Veränderungen ein. Viele sehen es als ihre Aufgabe, nicht nur Wissen zu schaffen, sondern dieses Wissen auch zu nutzen, um etwas gegen die drängenden Herausforderungen der Gegenwart zu unternehmen.
Wir haben unsere Diskussionsteilnehmenden gefragt, welche Rolle Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in der Politik spielen sollen. Die Diskussion machte deutlich, dass es für Forschende verschiedene Wege gibt, sich in der Politik zu engagieren – mit jeweils unterschiedlichen Vor- und Nachteilen.
Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Politik und die Rolle(n) von Wissenschaftlern
Laut Caspar Hirschi war die Wissenschaft in Europa schon immer mit der Politik verbunden. Forschende haben seit Jahrhunderten in unterschiedlichen Rollen Einfluss auf Entscheidungsträger genommen: Als Akademikerinnen oder Gelehrte, als Vertreter wissenschaftlicher oder politischer Institutionen, als Beratende oder Aktivistinnen. Hirschi zufolge sei jedoch eine zunehmende Vermischung der Rollen unter der Bezeichnung "Experten" zu beobachten. Denn Personen würden gleichzeitig als Politikberaterinnen, öffentliche Intellektuelle und politische Aktivisten auftreten. Hirschi sieht darin eine Gefahr für die demokratische Entscheidungsfindung, da die Wissenschaft traditionell als bescheidenes, skeptisches (in dem Sinne, dass sie Probleme kritisch betrachtet) und unpolitisches Vorhaben verstanden werde. Und nicht mit der Ableitung klarer politischer Imperative aus wissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbar sei, wie es einige Expertinnen derzeit tun würden.
Caspar Hirschi erklärt, dass Berater und Aktivist in Bezug auf ihre Handlungsweise, ihren Zugang zu politischen Entscheidungsträgern und ihre Wirkung sehr gegensätzliche Rollen seien: Der Berater habe einerseits das Privileg des direkten Zugangs zu den Entscheidungsträgern, was ein gewisses Mass an gegenseitigem Vertrauen voraussetze.
"Dieses Vertrauensverhältnis beruht auf der gegenseitigen Einsicht, dass diejenigen, die Macht haben, nicht genug Wissen haben, um zu entscheiden, und diejenigen, die keine Macht haben, das Wissen haben, um besser zu entscheiden." (Caspar Hirschi).
Durch den direkten Zugang zu Entscheidungsträgern befinden sich die Forschenden in einer privilegierten Position, wenn es darum geht, die Politik zu beeinflussen: Sie können das Vertrauen, das die Entscheidungsträger in sie und ihr Fachwissen setzen, dazu nutzen, gute Entscheidungen zu ermöglichen. Gleichzeitig erlaubt das gegenseitige Vertrauen einen offenen Austausch von Ansichten und Meinungen und somit einen konstruktiven Dialog.
Eine Aktivistin hingegen verfügt nicht über diesen privilegierten Zugang. Ihr Verhältnis zu politischen Vertretern oder Institutionen sei laut Hirschi eher von Misstrauen geprägt. Diese Einschätzung wurde indirekt von Marcel Salathé und Anaïs Tilquin in ihren einleitenden Erklärungen bestätigt. Beide äusserten in unterschiedlichem Masse ein Misstrauen in die Kompetenzen (Salathé) und die Bereitschaft (Tilquin) der politischen Entscheidungsträger, einen politischen Wandel in der Weise herbeizuführen, wie er ihrer Meinung nach zur Bewältigung aktueller und zukünftiger gesellschaftlicher Probleme notwendig wäre.
Diese Differenzen zwischen Aktivisten und Beratenden, sowohl in Bezug auf ihren Zugang zu Politikerinnen als auch dem entgegengebrachten Vertrauen der Entscheidungsträger, führen zu deutlichen Unterschieden in ihren Handlungsweisen. Da die Aktivisten nicht in der Lage sind, ein Vertrauensverhältnis zu den politischen Entscheidungsträgerinnen aufzubauen, müssen sie auf andere Mittel zurückgreifen. Beispielsweise, in dem sie öffentlichen Druck aufsetzen, um die Politik zu beeinflussen. Für Aktivistinnen ist es notwendig, die Entscheidungstragenden öffentlich und in der Regel scharf zu kritisieren, um die breite Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen zu lenken.
Im Gegensatz dazu müssen Beratende zurückhaltender sein, wenn es darum geht, politische Entscheide öffentlich zu kritisieren. Ihre politische Macht beruht auf einem Vertrauensverhältnis zu den Entscheidungsträgern, das zerstört werden kann. Dies vor allem dann, wenn Druck mit Informationen ausgeübt wird, die nur aufgrund des privilegierten Beratenden-Status erlangt wurden. Cyril Brunner erklärt, dass sich Beratende nuancierter ausdrücken müssen und versuchen sollen, objektiv zu sein, wenn sie verschiedene Szenarien den politischen Entscheidungsträgern oder der Öffentlichkeit vermitteln. Er fügt jedoch hinzu, dass es manchmal schwierig sei, als Berater neutral zu bleiben, wenn man zu einem Thema eine starke persönliche Meinung habe.
Haben Wissenschaftler die Pflicht, sich zu äussern?
Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, insbesondere in Bereichen wie Energie, Klimawissenschaften oder Ökologie, fühlen sich dafür verantwortlich, ihr Wissen weiterzugeben und aktiv zu werden. Wenn es darum geht, einen konstruktiven Einfluss auszuüben, müssen sie sich für Herangehensweisen entscheiden.
Für Marcel Salathé schliessen sich wissenschaftliche Forschung, Politikberatung und Aktivismus nicht aus. Sofern sich die Wissenschaftler und Wissenschaftlerin im Klaren seien, welchen "Hut" sie in einer bestimmten Situation aufsetzen, sei es sehr wohl möglich, alle diese Tätigkeiten auszuüben – und dies solle man vielleicht auch tun. Er fügt hinzu, dass seiner Meinung nach das Vertrauen in die Wissenschaft aus ihrer klaren Arbeitsweise resultiere und nicht aus ihrem Schweigen.
"Meiner Meinung nach funktioniert das ziemlich gut und es ist auch Teil des politischen Spiels, richtig? Man kann nach aussen hin laut sein – und das muss man auch, um in der Öffentlichkeit gehört zu werden – aber man kann mit Leuten hinter verschlossenen Türen zusammenarbeiten. [....] Im Fernsehen und in den sozialen Medien sind alle sehr laut, doch zurück an ihrem Arbeitsplatz, sei es im Parlament oder anderswo, sind sie bestrebt, Kompromisse zu finden und miteinander zu arbeiten." (Marcel Salathé).
Anaïs Tilquin besteht darauf, dass es im derzeitigen System für Wissenschaftlerinnen vielleicht besser sei, öffentlich über Probleme wie die Klimakrise zu sprechen, auch wenn noch nicht alle Daten vorliegen.
"Wissenschaftler sind sehr gut darin, eine lange Liste von Vorbehalten [vor ihre Aussagen] zu setzen. Doch manchmal ist diese Liste – im Vergleich zu anderen Themen – gar nicht so lang. Und dann sollten wir uns trauen, es laut auszusprechen". (Anaïs Tilquin)
Gemäss Tilquin sollten Forschende auch die Entscheidungen von Regierungen und anderen grossen Interessengruppen kritisch betrachten.
Tanja Rechnitzer ist der Meinung, dass die Rolle der Wissenschaftler als akademische Forscher nicht darin bestehe, Entscheidungen zu treffen, da wir sonst von einer Demokratie zu einer Technokratie übergehen. Es sei jedoch legitim, dass Wissenschaftler Politikerinnen anprangern, wenn diese wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren oder falsch darstellen. Dies sei Teil ihrer Verantwortung, die beinhalte, eine solide wissenschaftliche Grundlage in der Gesellschaft zu schaffen. Die direkte Einbindung von Wissenschaftlerinnen in politische Institutionen und die Bundesverwaltung sei laut Marcel Salathé zudem eine interessantere Option als die Mitarbeit in Task Forces.
Die persönliche Geschichte mehrerer unserer Podiumsteilnehmenden zeigt aber auch, dass die genannten Rollen nicht festgeschrieben sind. Auch ein Ausstieg aus der akademischen Wissenschaft, um politische Verantwortung zu übernehmen, ist möglich.
Bewusstsein schaffen und Veränderungen herbeiführen
Obwohl sich die meisten Diskussionsteilnehmenden einig sind, dass die Rollen von Wissenschaftlern und politischen Aktivisten klar definiert sein sollten, wird diese Unterscheidung in einer Krisensituation schwieriger. Erfordert die Dringlichkeit des Klimawandels radikalere Mittel des politischen Engagements, beispielsweise zivilen Ungehorsam?
Für Caspar Hirschi sind provokative Aktionen oder ziviler Ungehorsam effizient, um das Bewusstsein zu schärfen, aber nicht geeignet, um nachhaltige Lösungen zu finden. Darüber hinaus sei es fraglich, ob nicht die Mehrheit der Menschen und Politiker sich den möglichen Folgen des Klimawandels bereits bewusst seien.
Anaïs Tilquin vertritt die Ansicht, dass Menschen, die aus ihren zugewiesenen Rollen ausbrechen, angesichts der Klimakrise die Dringlichkeit der Notlage besser vermitteln können. Sie fügt hinzu, dass lange Zeit Druck auf Akademiker ausgeübt worden sei, um sie glauben zu lassen, dass sie schweigen müssen, um glaubwürdig zu bleiben. Dieser Gedanke wurde auch von Marcel Salathé unterstützt, der sagte, dass Wissenschaftler in den 1950er Jahren vielleicht tatsächlich dazu angehalten wurden, "in ihrer Spur zu bleiben". Doch dies sollte heute nicht mehr der Fall sein.
Cyril Brunner argumentiert, dass gerade das politische System der Schweiz ermögliche, gemeinsam als Gesellschaft Schritte zu unternehmen. Die Tatsache, dass die Treibhausgasemissionen in der Schweiz und in den meisten anderen europäischen Ländern bereits ihren Höhepunkt erreicht haben, zeige auch, dass ein Wandel mit den bestehenden demokratischen Mitteln möglich sei.
"Wenn wir den Klimawandel bekämpfen oder ein Nachhaltigkeits-Ziel erreichen wollen, müssen wir das als Gesellschaft tun. Ich sehe, dass wir keine Zeit mehr haben: Wenn wir die Emissionen morgen stoppen könnten, würde ich das sehr befürworten. [...] Aber es geht nicht nur um die Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern auch darum, die Unterstützung der Öffentlichkeit zu gewinnen." (Cyril Brunner)
In diesem Sinne spiele die Wissenschaftskommunikation, auch wenn sie manchmal weit entfernt von politischem Engagement zu sein scheine, eine grosse Rolle. Besonders bei der Meinungsbildung der Öffentlichkeit und bei der Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen sei sie wichtig. Sie könne das Bewusstsein für bestimmte Probleme, aber auch für bestehende Lösungen schärfen und ein neues Licht auf öffentliche Debatten werfen. Tiquin beschreibt zudem das grosse Potenzial von Bürgerversammlungen, bei denen Bürger Informationen von Wissenschaftlerinnen erhalten, um politische Empfehlungen abzugeben. So sei es möglich, wissenschaftlich fundierte und öffentlich akzeptierte politische Empfehlungen zu erarbeiten.
Dennoch sei der Fall des Klimawandels ein komplizierter, wenn es um die demokratische Entscheidungsfindung gehe, hebt Tanja Rechnitzer hervor.
"Der Klimawandel ist etwas Besonderes. Er ist ein globales und generationenübergreifendes Problem, bei dem unsere lokalen demokratischen Lösungen möglicherweise nicht ausreichen, um die Herausforderungen zu bewältigen. Daher wird auf globaler Ebene entschieden, doch diese Entscheidungen sind oft nicht wirklich demokratisch legitimiert. [...] Man kann argumentieren, dass es eine moralische Pflicht gibt, für Menschen einzustehen, die sonst keine Stimme erhalten. Doch über demokratisches Engagement in einem Staat ist dies schwierig zu erreichen. Das macht die Klimakrise so kompliziert." (Tanja Rechnitzer)
Vertrauen in die Wissenschaft und Vertrauen in die Demokratie
Letztlich geht es um Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Eine klare Trennung der Rollen und Vorrechte von Wissenschaftlerinnen, Beratenden und Aktivisten kann notwendig sein, um ihre Glaubwürdigkeit zu wahren. Doch wenn Wissenschaftlerinnen Partei ergreifen, ihre eigenen Werte vertreten und ihre Meinungen – die oft auf ihren wissenschaftlichen Kenntnissen beruhen – klar zum Ausdruck bringen, erscheinen sie eher als "normale" Bürgerinnen, denn als isolierte Expertinnen ihres Fachgebiets. Und dies erhöht ihre Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit. Auch wenn sich alle Teilnehmenden dieses Podiums über die Dringlichkeit der Klimakrise einig sind, beeinflussen unterschiedliche Ansichten und das jeweilige Vertrauen in die politischen Institutionen die Meinungen darüber, wie man sich am besten in die öffentliche Debatte einbringt.
"Ich denke, wir können verschiedene Formen des politischen Engagements haben, die sich nicht gegenseitig ausschliessen. Selbst wenn Wissenschaftler Schritte des zivilen Ungehorsams unternehmen, hält sie dies nicht davon ab, zuverlässige Forschende zu sein. Obwohl es sie vielleicht davon abhält, Berater zu sein", schlussfolgert Tanja Rechnitzer. Sie stellt fest, dass es genug Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gebe, die sich mit dem Klimawandel beschäftigen, um sich in verschiedenen Richtungen zu engagieren – von Aktivismus bis Beratung.
Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.
Comments (0)