Gewisse Menschen verfügen über ein derart leistungsfähiges Gehirn, dass jede Absicht, sich intellektuell mit ihnen messen zu wollen, zum Scheitern verurteilt ist. Es wäre der Versuch «mit einem Dreirad einen Rennwagen zu verfolgen», wie es ein Schüler des brillanten Mathematikers John von Neumann einmal beschrieben hat.
Es scheint, als hätten solche Genies Zugang zu Bereichen des Gehirns, die uns Normalsterblichen verborgen bleiben; als würden sie ihr volles geistiges Potential ausschöpfen, während wir gerade einmal 10 Prozent davon benutzen. Wir müssten es ihnen also nur gleichtun und uns irgendwie Zugang zu den restlichen 90 Prozent verschaffen, um unser Dreirad in einen Ferrari zu verwandeln.
Hollywood…
Drehbuchschreiber scheinen besonders angetan zu sein von dieser Vorstellung – anders lässt sich nicht erklären, dass der «10-Prozent-Mythos» mit erschreckender Regelmässigkeit in Hollywood-Produktionen auftaucht.
[Bild college humour]
So geschehen vor einem Jahr im wenig plausiblen – will sagen: an den Haaren herbeigezogenen – Science-Fiction-Film «Lucy». Dass die Filmindustrie bei Science-Fiction-Produktionen die «Science» meist ganz weg lässt und dafür umso mehr auf «Fiction» setzt, hatte ich bereits in einem früheren Blog besprochen. Doch «Lucy» setzt diesbezüglich ganz neue Massstäbe.
Die Hauptfigur (eben jene Lucy) bekommt eine Überdosis einer neuartigen Substanz verabreicht und kann fortan Datenströme manipulieren, Menschen zum Schweben bringen, ihre Gestalt verändern und durch die Zeit reisen – alles, ohne einen Finger krümmen zu müssen; allein durch die «Kraft ihrer Gedanken».
Die Erklärung: Die geheimnisvolle Substanz hat es ihr ermöglicht, ihr «volles geistiges Potential» zu entfalten. Die meisten Menschen würden nämlich nur 10 Prozent der Hirnkapazität benutzen, wie uns Morgan Freeman im gleichen Film erklärt. Und wenn Morgan Freeman mit seinem vollen, zartschmelzenden Schokoladentimbre etwas erzählt, dann muss es doch einfach stimmen!
… vs. Wirklichkeit
Kein Wunder, sind fast zwei Drittel der US-Amerikaner der Meinung sind, dass wir tatsächlich nur 10 Prozent unseres Gehirns benutzen würden. Und laut einer Befragung in Grossbritannien und den Niederlanden glaubt auch fast die Hälfte der dortigen Lehrpersonen an die Richtigkeit des Mythos.
Selbstverständlich ist unser Gehirn niemals zu 100 Prozent aktiv. Zum Glück! Wenn 100 Prozent unserer Hirnzellen gleichzeitig feuern würden, dann wäre das weitaus verheerender als jeder epileptische Anfall und würde uns voraussichtlich das Leben kosten.
Heisst das nun, dass am 10 Prozent-Mythos vielleicht doch etwas dran ist? Nein, denn schliesslich brauchen wir auch unsere Muskeln nicht alle zu 100 Prozent. Auch hier gilt: zum Glück! Wenn alle unsere Muskeln gleichzeitig aktiviert wären, könnten wir buchstäblich keinen Finger mehr rühren. Wer mir nicht glaubt, soll versuchen, das Knie zu biegen und dabei gleichzeitig die vorderen und hinteren Oberschenkelmuskeln voll anzuspannen.
Ähnliches gilt in Bezug auf das Gehirn: Nur weil wir nicht alle Hirnbereiche gleichzeitig nutzen, heisst das nicht, dass wir sie überhaupt nicht nutzen. So konnten bildgebende Studien zeigen, dass im Verlaufe eines normalen Arbeitstages sämtliche Hirnbereiche zum Einsatz kommen.
Teurer Stand-by-Modus
Nun liesse sich einwenden, dass sich die 10 Prozent nicht auf die Hirnaktivität bezieht, sondern auf ein wie auch immer geartetes «geistiges Potential», das jedem Menschen innewohnt. Auch diese Aussage scheint wenig plausibel – denn unsere grauen Zellen sind viel zu kostspielig, um sie im Stand-by-Modus vor sich hindösen zu lassen.
Das Gehirn macht lediglich 2 Prozent der Körpermasse aus, beansprucht aber ungefähr einen Fünftel unseres Basisenergieverbrauchs – das ist die Energiemenge, die wir verbrauchen, wenn wir faul am Strand liegen und uns nicht sportlich oder anderweitig körperlich betätigen.
Der überwiegende Teil der vom Hirn beanspruchten Kalorien wird dazu gebraucht, den Energiehunger unserer ca. 86 Milliarden Hirnzellen zu stillen. Wenn wir tatsächlich nur einen Bruchteil davon verwenden würden, während der Rest davon ohne konkreten Zweck Ressourcen verschlingt, dann wäre das ungefähr so unsinnig, wie einen sündhaft teuren Supercomputer zu unterhalten, nur um ihn ausschliesslich als Taschenrechner zu benutzen.
Survival of the Fittest
Die Evolution bestraft unnötigen Luxus ziemlich schnell. Wenn ich täglich einen Fünftel meiner Basisenergie für ein Gehirn aufwenden muss, das lediglich 10 Prozent der Vollleistung erbringt, dann habe ich einen Überlebensnachteil gegenüber all jenen, welche ein zehnmal sparsameres Gehirn besitzen, dieses aber zu 100 Prozent benutzen.
Die hohen Kosten für den Unterhalt des Gehirns müssen also auch einen entsprechenden Nutzen mit sich bringen – ansonsten wären unsere Hirne längst geschrumpft – oder aber wir hätten gar nicht erst derart kostspielige Gehirne entwickelt.
Unser Verstand ist also leider kein Videospiel, in dem sich das eigene Dreirad mit ein paar Cheat-Codes in einen Ferrari verwandeln lässt.
Dieser Artikel ist am 19. November 2015 im Science-Blog von NZZ Campus erschienen.
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