Genetikimalltag

Rückblick: Genetik im Alltag - Top oder Flop?

Die Genetik hat längst das Labor verlassen und sich in unserem Alltag breit gemacht: Ob als Essen auf unserem Teller, in den Medikamenten zur Krankheitstherapie oder in Form von Gentests im Internet. Was ist davon zu halten?

24.10.2017

Alte Universität Basel

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Genetikimalltag

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Prof. Dr. Effy Vayena
ist Professorin für Bioethik an der ETH Zürich. Früher in der WHO tätig, betreute sie den Tisch "Genetik International - Regulierungen und Grenzen".
Bastian Greshake
ist Mitbegründer der Gendatenbank openSNP, wo jedermann seine genetischen Daten veröffentlichen kann. An seinem Tisch ging es um "Gendatenbanken & Datenschutz".
Prof. Dr. Georg Pfleiderer
ist Professor der Theologie an der Universität Basel. Einer seiner Forschungsschwerpunkte sind ethische Grundfragen der Bio- und Medizinethik, weshalb er den Tisch "Genetik & Ethik" betreute.
PD Dr. med. Isabel Filges
ist leitende Ärztin medizinische Genetik am Universitätsspital Basel. Sie diskutierte an ihrem Tisch über "Genetische Tests aus medizinischer Perspektive".

Das sagen Teilnehmer*innen von «Genetik im Alltag» danach:

Genetik überall – Revolution einer Forschung

von Bettina Zimmermann

Die Genetik berührt unseren Alltag in vielfältiger Weise. Etwa in der Diskussion zu genmodifizierten Pflanzen wie Mais oder Soja, oder bei der Anschaffung eines Hundes, wenn es darum geht, seine Rasse zu bestimmen. Ausserdem wird Genetik in der Forensik eingesetzt, um Verbrechen aufzuklären oder intensiv in der Forschung zahlreicher Disziplinen zum Erkenntnisgewinn genutzt.

Nicht zuletzt betrifft uns die Genetik aber im medizinischen Bereich. Genetische Testungen werden etwa bei Schwangerschaften durchgeführt, zur Diagnosestellung bestimmter Krankheiten oder zu therapeutischen Zwecken, etwa bei Krebserkrankungen, um die Wirksamkeit eines Medikamentes vorab zu testen. Ausserdem gibt es für manche Krankheiten prädiktive Gentests, also genetische Testungen, die ein erhöhtes Krankheitsrisiko voraussagen können, bevor die Krankheit ausgebrochen ist. Dies wird beispielsweise bei familiär vererbtem Brust- und Eierstockkrebs gemacht, bei anderen mit Krebs in Verbindung gebrachten Syndromen wie etwa dem Lynch Syndrom oder bei Erbkrankheiten, die erst im Erwachsenenalter auftreten. Schliesslich gibt es auch noch sogenannte «Lifestyle Gentests», die im Internet bestellt oder in der Apotheke gemacht werden können. Sie geben zum Beispiel Auskunft darüber, welche Ernährung einem gut tut und für welche Sportart man talentiert ist. Der tatsächliche Nutzen solcher Tests ist umstritten, weil sie oft auf wenig wissenschaftlicher Evidenz basieren.

Die Genetik ist in vielerlei Hinsicht ein besonderes Thema. Wie eben ausgeführt, ist sie enorm vielseitig und hat zahlreiche Anwendungsgebiete. Gleichzeitig ist die Genetik auch sehr komplex und der Wissenszuwachs der genetischen Forschung ist enorm, sodass sogar Fachleute Mühe haben, immer auf dem neuesten Stand zu bleiben. Des Weiteren ist die Genetik auch ein sehr persönliches Thema, das alle betrifft. Aufgrund der Vererbung betreffen genetische Abklärungen nicht nur das Individuum, sondern auch Blutsverwandte. Zugleich zeichnet uns nichts mehr aus als Individuum als unsere Genomsequenz - sie ist einzigartig. Gerade deswegen ist die Genetik mit zahlreichen ethischen Fragen und Problemen behaftet.

In den letzten Jahrzehnten gab es eine regelrechte Revolution in der genetischen Forschung. Diese entstand erstens durch einen technologischen Durchbruch mit der Entwicklung der Hochdurchsatzsequenzierung (Next Generation Sequencing), welche ein Genom nicht nur schneller, sondern auch immer günstiger ablesen kann. Zweitens wurde vor fünf Jahren eine neue Methode zur gezielten Modifikation des Genoms publiziert, genannt CRISPR-Cas9. Dadurch fällt es Forschenden heute viel leichter, zu Forschungszwecken das Genom etwa in Zellkulturen oder Versuchstieren wunschgemäss zu verändern und die Veränderungen zu untersuchen.

Öffentliche Gendatenbanken

von Patrick Weber

Bastian Greshake ist einer von drei Köpfen hinter der öffentlichen Gendatenbank openSNP. Die im Jahr 2011 lancierte Datenbank enthält heute beinahe 4‘000 Einträge und ist somit das weltweit grösste Projekt dieser Art. Wenn jemand über Drittanbieter wie 23andme, deCODEme oder FamilyTreeDNA Informationen über sein Genom erhält und diese der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen will, bietet openSNP die notwendige Online-Plattform dafür. Darüber hinaus können die Nutzer ihre Datensätze noch mit Informationen wie Körpergrösse und Augenfarbe bis hin zu Angaben zum Kaffeekonsum aufwerten. Die Gründer wollten es mit openSNP hauptsächlich Genetikern und anderen Naturwissenschaftlern ermöglichen, unkompliziert an reale Daten zu kommen. Oft sind es nämlich nicht zuletzt ethische Fragestellungen, welche die Datenbeschaffung in diesem Bereich sehr frustrierend und teuer machen können.

In der Realität hat sich das Projekt jedoch leicht anders entwickelt, als es sich die Gründer ursprünglich vorgestellt haben. So wurde die openSNP Datenbank zwar bereits in vielen Studien verwendet, jedoch ging es darin meist um Aspekte der Bioethik und weniger der Genetik. Das zweite eher unerwartete Anwendungsgebiet ist dasjenige der Lehre. So bietet openSNP Professoren die Möglichkeit, ihre Schützlinge ohne grossen administrativen Aufwand an realen statt erfundenen Datensätzen arbeiten zu lassen.

Obwohl die heutigen Anwendungsbereiche relativ unbedenklich sind, hat eine solche Datenbank auch Missbrauchspotenzial. Ein grosser Unsicherheitsfaktor hierbei ist, dass niemand weiss, was in zehn, fünfzig oder hundert Jahren alles möglich sein wird. So lassen sich beim jetzigen Stand der Wissenschaft zwar erst relativ wenig Informationen zum zugehörigen Menschen aus den Daten ableiten – und wenn, dann nur mit sehr grossem Aufwand. Andererseits schreitet die Forschung diesbezüglich mit grossen Schritten voran, sodass Interpretationen des Genoms in Zukunft bestimmt noch massiv an Qualität gewinnen werden. Dies ist problematisch, da die Veröffentlichung der eigenen genetischen Informationen nicht rückgängig zu machen ist. OpenSNP würde die Informationen in einem solchen Fall zwar umgehend von ihrer Datenbank löschen. Diejenigen User, die in der Zwischenzeit die Daten heruntergeladen haben, hätten aber weiterhin Zugriff und könnten diese auch ungestraft weiterverbreiten. Man könnte meinen, dass dies bei anonymisierten Daten kein grosses Problem darstellt – doch wenn man via genetische Marker einen Stammbaum der anonymisierten Datenbank erstellt und diesen mit realen Familienstammbäumen vergleicht, kann die Anonymisierung in der Theorie leicht aufgehoben werden. Obwohl dies heute noch nicht im grossen Stil möglich ist, konnte das Potenzial dieses Verfahrens bereits in Einzelfällen demonstriert werden.

In Anbetracht dieses beträchtlichen Missbrauchspotenzials ist die Veröffentlichung eigener Genominformationen ethisch bedenklich. So kann man sich beispielsweise fragen, ob ein eineiiger Zwilling seinen Datensatz ohne die Zustimmung seines Geschwisters hochladen darf oder nicht. Dies würde der Grossteil der Ethiker*innen wohl mit „Nein“ beantworten, zumal das Genom eineiiger Zwillinge sehr ähnlich ist. Wo müsste man dann die Grenze ziehen? – Bei 50 Prozent genetischer Homologie? 25 Prozent? Oder noch weniger? In diesem Zusammenhang hat die Bioethikerin Prof. Dr. Effy Vayena von der ETH Zürich im Tagesanzeiger einmal gesagt, dass sie erst noch die Volljährigkeit ihrer Kinder abwarten wolle, bevor sie die Veröffentlichung ihres Genoms in Betracht ziehen würde. Ob ihre noch ungeborenen Grosskinder wohl mit diesem Vorgehen einverstanden wären?

Insgesamt bieten öffentliche Gendatenbanken wie openSNP unbestritten ein enormes Potenzial im Bereich der Forschung und Lehre. Grosse Risiken existieren jedoch in Bezug auf den (Gen-)Datenschutz. Erschwerend ist hier auch die Tatsache, dass bis jetzt in vielen Staaten ein zugehöriges Regelwerk, das den Umgang mit solchen Daten regelt, noch fehlt. Die Debatte darüber ist entbrannt und wird sich in den nächsten Jahren mit Gewissheit noch weiter intensivieren. Die Unsicherheit darüber, was in Zukunft alles noch technisch möglich werden wird, werden wir diesbezüglich jedoch trotzdem nie eliminieren können…

Genetik - die medizinische Perspektive

von Christian Köhler

Frau PD Dr. med. Isabel Filges ist Leiterin der Abteilung für medizinische Genetik am Universitätsspital Basel und leitet die genetische Sprechstunde am Unispital. Im Rahmen einer solchen Sprechstunde geht es hauptsächlich um die Bereitstellung von Informationen in Bezug auf das Wesen sowie die Aussagekraft von genetischen Tests. Damit sollen zwei Ziele erreicht werden: die fachgerechte Begleitung der Tests erleichtern und garantieren, dass die jeweiligen Testergebnisse korrekt vermittelt und von den Patienten nicht falsch interpretiert werden. Letzteres stellt hierbei die grösste Herausforderung dar, zumal der Mensch generell dazu tendiert, die Aussagekraft solcher Resultate überzubewerten und daraus voreilige Schlüsse zu ziehen. Daher rät Frau Filges ihren Patienten während ihrer Sprechstunde nie zum Vollzug eines Eingriffes rein auf der Basis eines Testergebnisses. Vielmehr versucht sie ihren Patienten Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und differenziert die Vor- und Nachteile sowie damit assoziierte Risiken zu diskutieren.

In der genetischen Sprechstunde sind in der Regel gewisse Patientengruppen überproportional stark vertreten. Dazu gehören neben schwangeren Frauen und Krebspatienten auch oft Personen, die Tests im Rahmen der Fortpflanzungsmedizin gemacht haben. Diese Verteilung ist eigentlich nicht weiter überraschend, zumal genetische Tests, wie es der Name bereits sagt, lediglich zu denjenigen Krankheiten eine Aussage machen können, bei denen genetische Faktoren eine dominante Rolle spielen. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, auch in solchen Fällen andere Faktoren miteinzubeziehen, bevor die definitive Diagnose gefällt wird. Eine Diagnose kann einen massgeblichen Einfluss auf die Krankheitsentwicklung haben, was sehr oft unterschätzt wird.

Genetik & Ethik

von Andreas Schuler

Prof. Dr. Pfleiderer ist Ethiker an der Universität Basel und hat im Rahmen der Veranstaltung «Genetik im Alltag» versucht, die normativen, moralischen Aspekte des technologischen Fortschritts im Bereich der Genetik mit den Teilnehmenden zu diskutieren. Im Zentrum stand dabei die Frage, was die neuen Möglichkeiten für die Gesellschaft und unser Verhältnis zu uns selbst bedeuten.

Oft lösen neue, in der Bevölkerung noch relativ unbekannte Technologien zwar Hoffnung auf Fortschritt aus. Diese geht jedoch in der Regel auch mit einer gewissen Angst einher. Die Genetik ist hier keine Ausnahme: Zum einen wertet man die Möglichkeit, bestimmte Krankheiten in Zukunft verhindern zu können als Grund zur Hoffnung. Andererseits könnte dadurch jedoch auch ein gesellschaftlicher Druck entstehen, diese Möglichkeiten auch wirklich zu nutzen. Darüber hinaus besteht die Schwierigkeit, diese neuen Informationen über unser Genom richtig zu deuten und den tatsächlichen Nutzen davon realistisch einzuschätzen, ohne falsche Hoffnungen zu schüren.

Interessant sind in diesem Kontext auch kulturgeschichtliche Aspekte: Warum scheint man in Europa auf neue Technologien tendenziell vorsichtiger zu reagieren als in anderen Weltregionen wie etwa den USA? Inwiefern hängt diese Tendenz mit geschichtlichen Erfahrungen zusammen? Es scheint denkbar, dass dies mit den Urkatastrophen der Weltkriege zusammenhängen könnte, die dem Fortschrittsoptimismus in Europa einen nachhaltigen Dämpfer versetzt haben.

Eine weitere interessante Frage ist auch, ob diese neuen Technologien einst in der Lage sein könnten, unser Menschen- und Selbstbild grundlegend zu verändern. Etwa dann, wenn Menschen mit dem Wissen leben sollten, dass ihre Eigenschaften nicht einfach gegeben, sondern von anderen Menschen gewollt und bewusst gestaltet wurden.

Gegenwart und Zukunft der Genetik

von Michael Tschäni

Wie kann man trennen, ob eine mögliche gesundheitliche Indikation eher zur Kategorie der «Gesundheit» oder zu derjenigen des «Lifestyles» gehört? Gerade weil Prävention, also häufiger joggen zu gehen oder auf eine bestimmte Ernährung umzustellen, im Zeitgeist liegt, ist keine klare Trennlinie auszumachen. Viel eher wird diese immer weiter verschoben, je mehr sich «fit zu sein» mit «gesund sein» überlagert. Kommt hinzu, dass sich die Gentests, mit der eben diese Lebens- und Verhaltensratschläge gefunden werden können, mittlerweile oder schon bald ganz leicht selbst durchführen lassen.

Bettina Zimmermann, Doktorandin in Bioethik an der Universität Basel beschäftigt sich mit Fragen der praktischen Anwendung von Gentests. Was sie an diesem Gebiet im Speziellen fasziniert, ist die enorme Vielseitigkeit, die in diesem Bereich herrscht. Darüber hinaus wirft das pulsierende Forschungsgebiet der genetischen Tests auch immer wieder neue interessante Fragen auf, beispielsweise im Bereich des Datenschutzes. Die Resultate der Gentests sind diesbezüglich nämlich ein Spezialfall. Da das eigene Genom statisch ist, reicht die einmalige Durchführung eines genetischen Tests bereits aus, um die Hoheit über diese Daten zu verlieren. Andererseits können die Firmen, die in diesem Bereich tätig sind, jeden Datensatz auch nur einmal nutzen. Dass sich dennoch Unterschiede feststellen lassen, wenn man mehrere Gentests macht, hängt damit zusammen, dass nie eine hundertprozentige Verlässlichkeit garantiert werden kann. Zudem erweitern und verändern sich gerade in diesem Bereich die wissenschaftlichen Erkenntnisse momentan ständig. So ist es auch nur schwer zu beurteilen, ob eine Beeinflussung des Genoms möglich oder sinnvoll ist. In jedem Fall ist die medizinische Fachberatung auf der Basis genetischer Tests oft nicht so leicht, wie dies der Laie in der Regel vermutet.

Sobald man als betreuende/r Arzt/Ärztin die Resultate in den Händen hält, stellt sich auch die Frage, wie man mit der Wahrheit umgehen soll. Sollen im Sinne der grösstmöglichen Transparenz einem/einer Patient*in alle Fakten auf den Tisch gelegt werden? Weil es sich bei den Resultaten solcher Tests immer um Wahrscheinlichkeiten handelt, ist dies schwierig. Deshalb empfiehlt es sich, Gentests eher mit Blick auf bestimmte vermutete Krankheiten durchführen zu lassen. Die schiere Informationsflut, die ein Breitband-Gentest mit sich bringen würde und dessen Resultate auch noch gar nicht verlässlich eingeordnet werden können, wäre sonst zu gross.

An dieser Stelle sollte angemerkt werden, dass sich das Obige auf die Situation in der Schweiz und in anderen westlichen Ländern bezieht. Global bestehen diesbezüglich nämlich sehr grosse Unterschiede. Im Gesundheitswesen ist die Divergenz insbesondere zwischen Entwicklungsländern und dem Westen sehr gross. Bei Gentests als Teilgebiet zeigt sich die Tendenz, dass mit dieser Thematik in Schwellenländern generell weniger restriktiv umgegangen wird. Auch deshalb ist es wichtig, diesbezüglich Schritte in Richtung einer globalen Regulierung zu machen. Wie das genau erreicht werden kann, steht allerdings noch in den Sternen.

Die Veranstaltung wurde in Kooperation mit foraus Basel organisiert.