Wir müssen Mikroplastik in den Griff bekommen, bevor es zu spät ist

Neben Plastikmüll befindet sich auch immer mehr Mikroplastik in unserer Umwelt. Die Gefahren dieser Mikropartikel sind noch weitestgehend unbekannt und erfordern deshalb vermehrte Forschung sowie gezielte Massnahmen, um potentielle Risiken einzudämmen.

Die öffentliche Wahrnehmung von Plastik hat in den letzten 70 Jahren eine Kehrtwende vollzogen: Das einstige Wundermittel ist heutzutage vor allem aufgrund negativer Umweltschlagzeilen bekannt. Doch neben Plastikmüll befindet sich auch immer mehr Mikroplastik in unserer Umwelt. Die Gefahren dieser Mikropartikel sind noch weitestgehend unbekannt und erfordern deshalb vermehrte Forschung sowie gezielte Massnahmen, um potentielle Risiken einzudämmen. Eine solche Lösung, welche die Komplexität des Problems berücksichtigt, könnte das Essential Use Concept darstellen. Hierbei werden die Produkte, die Mikroplastik enthalten, anhand ihrer Wichtigkeit für die Gesellschaft kategorisiert. Nicht essentielle Produkte werden vom Markt genommen, während essentielle Produkte bis zur Marktreife von geeigneten Alternativen erlaubt bleiben.

Plastik - ein Wundermittel?

Plastik umgibt uns - es ist überall. 70 Jahre sind seit der Markteinführung von Plastikprodukten vergangen; in diesem Zeitraum ist Plastik von einer chemischen Neuheit zu einem Universalmaterial geworden. Von Plastikflaschen bis zu Herzimplantaten, überall wird Plastik als ein flexibles und kostengünstiges Mittel eingesetzt, um unsere Bedürfnisse zu erfüllen und auch heute ist dafür kein Ende in Sicht. Durch diesen raketenhaften Aufstieg galt Plastik schnell als Wundermittel mit nahezu unzähligen Anwendungsmöglichkeiten. Doch in den letzten Jahren ist das Material etwas in Verruf geraten: Statt Komfort und Praktikabilität assoziieren wir Plastik nun immer öfter mit kontaminierten Ökosystemen oder mit riesigen Plastikinseln, die in unseren Weltmeeren umhertreiben. Und inmitten dieser Plastikansammlung bildet sich bereits das nächste Problem heraus, das das Fass zum Überlaufen bringen könnte: Mikroplastik.

Was ist Mikroplastik?

Mikroplastik ist die Bezeichnung für Plastikfasern und -partikel, die kleiner als 5mm sind [1]. Grundsätzlich unterscheidet man zwischen zwei Arten, wenn es um den Entstehungsprozess von Mikroplastik geht:

Einerseits gibt es unvorsätzlich hinzugefügtes oder auch sekundäres Mikroplastik. Es entsteht, wenn Plastik über längere Zeit UV-Strahlen ausgesetzt ist. Kleine physische Einwirkungen wie Wellenbewegungen können dann dafür sorgen, dass ein Zersetzungsprozess in kleinere Plastikteile angestossen wird. Zu dieser Art von Mikroplastik gehören auch Fasern, die sich ablösen, wenn synthetische Kleidungsstücke gewaschen werden oder Reifenabrieb, der beim Autofahren vom Rad auf die Strasse gelangt.

Andererseits gibt es vorsätzlich hinzugefügtes bzw. primäres Mikroplastik. Diese Kunststoffpartikel werden eigens hergestellt, um bestimmten Produkten zugesetzt zu werden. Zu den Anwendungsbereichen gehören u.a. Kosmetikprodukte, Reinigungsmittel und Füllstoffe von Sportplätzen. Auch in der Landwirtschaft fällt Mikroplastik an. Hier werden Samen mit einer schützenden Plastikschicht überzogen, die sich auflöst, wenn die Saat in den Boden gelangt. Jedoch läuft dieser Prozess oft nicht vollständig ab und so werden auch unsere Böden mit Mikroplastik belastet.

Diese und viele weitere Ideen werden in der Blogposts Reihe zum Reatch Ideenwettbewerb 2022 präsentiert.

Eine heterogene Gruppe von Verbindungen

Die verschiedenen Anwendungsbereiche und Quellen von Mikroplastik zeigen, dass wir es hier mit einem diversen und komplexen Problem zu tun haben. Doch was macht Mikroplastik eigentlich so problematisch? Um diese Frage zu beantworten, kann man auf ein altes Zitat des Chemikers und Apothekers Paracelsus zurückgreifen:

“Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist”

Dieses Zitat bringt zum Ausdruck, um was es sich bei Risiko eigentlich handelt. Es setzt sich aus zwei Komponenten zusammen, der Belastung (Dosis) und der Gefahr:

Risiko = Belastung x Gefahr

Die Belastung unserer Umwelt mit Plastik ist allgegenwärtig. Doch was für Plastik gilt, trifft auch in einem erhöhten Masse auf Mikroplastik zu. Es wurde bereits in allen Weltmeeren gefunden und wurde auch an entfernten, unbesiedelten Orten wie z. B. den Alpen oder der Arktis entdeckt [2][3]. Sogar wenn wir zu Hause unseren Wasserhahn aufmachen, fliesst Mikroplastik heraus und selbst in einigen unserer Lebensmittel wurde Mikroplastik bereits nachgewiesen [4]. Insgesamt gehen Schätzungen davon aus, dass sich zwischen 15 und 51 Billionen Mikroplastikpartikel in unserer Umwelt befinden und der Trend ist steigend [5]. Aber nicht nur in unserer Umwelt, auch in unseren Körpern befindet sich Mikroplastik. So haben Forscher Mikroplastik schon aus Urin, Blut und sogar der menschlichen Fruchtblase isolieren können [4].

Die Gefahren von Mikroplastik sind noch weitestgehend unbekannt, da es sich hier noch um ein sehr junges Forschungsfeld handelt. Insbesondere Langzeiteffekte sind nur schwer abzusehen. Bekannt ist, dass Mikroplastik von kleineren Lebewesen verschluckt wird und dort zu einem falschen Sättigungsgefühl führen kann [6]. Ausserdem werden mit zunehmender Zersetzung von Plastik auch immer mehr Plastik-Additive ausgewaschen, von denen einige erwiesenermassen gefährlich für Mensch, Tier und Umwelt sind [6]. Gerade in diesem Feld braucht es Wissenschaftler*innen, die mit ihrer Forschung solche Wissenslücken schliessen.

Hohe Komplexität bei Mikroplastik

Mikroplastik fällt in verschiedenen Anwendungsbereichen und Branchen an. Das erhöht die Komplexität, wenn es um die Regulierung geht.

Gezieltes Risikomanagement

Aus der obenstehenden Risikogleichung folgt, dass bei einer hohen Belastung bereits ein kleines Gefahrenpotential reicht, um ein substantielles Risiko für die Gesellschaft darzustellen. Um dieses Risiko zu minimieren, reicht es aber nicht aus, alle Formen von Mikroplastik über denselben Kamm zu scheren und einfach zu verbieten - eine Gesellschaft ohne Reifen und Kleidung funktioniert schliesslich nicht.

Es muss stattdessen gezieltes Risikomanagement betrieben werden. Dabei stellt jedes Anwendungsgebiet ein eigenes Puzzle mit spezifischen Stellschrauben dar, das es zu lösen gilt. In manchen Fällen können Änderungen an der Formulierung und Rezepturen vorgenommen werden, in anderen Fällen muss für eine bessere Entsorgung gesorgt werden und in wieder anderen Bereichen kann es helfen, Produktzyklen zirkulärer und langlebiger zu gestalten. Hierfür müssen politische Entscheidungsträger*innen und Forschende zusammenkommen, um effektive und umsetzbare Lösungen zu entwickeln.

Essential Use von Mikroplastik

Ein möglicher Ansatz, der die Komplexität des Problems berücksichtigt, ist das sogenannte Essential Use Concept. Hierbei wird nämlich nicht versucht, eine fragliche Substanz zu regulieren, sondern deren Anwendungen. Das Konzept ist bereits bekannt aus Zeiten des Ozonlochproblems: Hier wurden Kühlschränke und andere Anwendungen reguliert, die schädliche Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKWs) in die Atmosphäre ausgestossen haben, nicht die chemischen Verbindungen an sich. Auch für per- und polyflourierte Alkylverbindungen (PFAS), sogenannte “forever chemicals”, plant die EU das Essential Use Concept einzuführen.

Für Mikroplastik scheint das auf den ersten Blick kontraintuitiv. Das Konzept beachtet jedoch, dass es einige Anwendungsbereiche für Mikroplastik gibt, in denen dessen Nutzen die potentiellen Risiken übersteigt. Beispielsweise in der Medizin kann Mikroplastik eine essentielle Funktion für die Gesellschaft erfüllen. Neben diesen essentiellen Anwendungsgebieten gibt es aber auch andere, die weniger notwendig sind oder auch solche, in denen bereits Alternativen für Mikroplastik vorliegen, wie etwa in der Kosmetik. Eine so vielseitige Substanz wie (Mikro)plastik kann deswegen nie als unbezweifelbar schädlich oder unschädlich eingeordnet werden. Das Potential von Essential Use hört hier aber noch nicht auf. Durch eine gezielte Einteilung in die Kategorien “essentiell”, “austauschbar” und “nicht essentiell” kann einerseits der Regulierungsprozess vereinheitlicht und andererseits gezielt Innovation gefördert werden.

Im Zuge dieser Überlegungen kommt aber eine zentrale Frage immer wieder auf:

Wer entscheidet, was 'essentiell für die Gesellschaft' ist?

Das ist sicher eine Frage, die keine Person alleine beantworten kann. Hier braucht es ein Zusammenspiel von Akteuren aus allen relevanten Bereichen, von Natur- und Sozialwissenschaftler*innen zu Menschen aus der Industrie, demokratisch legitimierten Politiker*innen und Vertreter*innen aus der Gesellschaft. Ein Startschuss könnte auf EU-Ebene erfolgen, denn Mikroplastik ist kein Problem, das nur einzelne Länder betrifft. Es ist ein grenzüberschreitendes und internationales Problem, welches gemeinsam angegangen werden muss. In diesem Kontext müssen Entscheidungen transparent gefällt und nachvollziehbar nach aussen getragen werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass eine effektive Regulierung auch umgesetzt und angenommen wird.

Doch unabhängig davon, welche Strategie eingeschlagen wird, ob Essential Use oder traditionelle Restriktionen: Mikroplastik ist ein Problem, das mit jedem Tag wächst. Es liegt in unserer Verantwortung, das Problem in den Griff zu bekommen.

Auch dieses Jahr suchen wir im Rahmen des Ideenwettbewerbs wieder deine Ideen für die Zukunft!

Das Bewerbungsfenster für den diesjährigen Reatch Ideenwettbewerb ist geöffnet und wir suchen Ideen, wie die Wissenschaften mit der Politik, der Wirtschaft oder der Zivilgesellschaft in den nächsten 175 Jahren gemeinsam Herausforderungen unserer Gesellschaft meistern können.

Alle Informationen zum Ideenwettbewerb 2023 findest du hier.

Literatur

[1]

Joint Group of Experts on the Scientific Aspects of Marine Environmental Protection (GESAMP). Sources, fate and effects of microplastics in the marine environment: A global assessment, 2015.

[2]

Chastain S. Vassilenko E. et al. Ross, P.S. Pervasive distribution of polyester fibres in the arctic ocean is driven by atlantic inputs. Nat Commun 12, 106, 2021.

[3]

Borgogno F Gibellino MC Fresta J Albonico C De Felice B Canuto S Concedi D Romani A Rosio E Gianotti V Laus M Ambrosini R Cavallo R Paroli- ni M, Antonioli D. Microplastic contamination in snow from western italian alps. International Journal of Environmental Research and Public Health. 18(2):768, 2021.

[4]

United Nations Environment Programme (UNEP). From pollution to solution: a global assessment of marine litter and plastic pollution, 2021.

[5]

Xiao Zhi Lim. Microplastics are everywhere, but are they harmful? Nature, 2021.

[6]

Scientific Advice for Policy by European Acade- mics (SAPEA). A scientific perspective on microplastics in nature and society, 2019.

Dieser Text ist im Rahmen des Reatch Ideenwettbewerbs entstanden. Um die Krisen von morgen zu meistern, brauchen wir als Gesellschaft Vorstellungsvielfalt als Rüstzeug. Dafür notwendig ist ein gemeinsames Verständnis, aber auch konkrete Ideen und Ansätze, wie Probleme angegangen und gelöst werden können. Dieses Ziel verfolgt der Reatch Ideenwettbewerb. Im Rahmen davon, haben wir nach Ideen gesucht, wie die Wissenschaften zusammen mit Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft die Krisen von morgen meistern können. Denn eine enge und konstruktive Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren ist entscheidend, damit wissenschaftliche Erkenntnisse auch Eingang in politische und gesellschaftliche Lösungen finden. Der Ideenwettbewerb wurde u.a. unterstützt durch die Stiftung Mercator Schweiz, die Gebert Rüf Stiftung und den Schweizerischen Nationalfonds (SNF).

Das Franxini-Projekt: Wir wollen eine Gesellschaft, in der Akteure aus Wissenschaften und Politik zusammenarbeiten, um gesellschaftliche Herausforderungen effektiv zu bewältigen. Dank dem politischen Engagement von Forschenden aus allen Fachrichtungen tragen wissenschaftlich fundierte Ideen zu effektiven Lösungen bei, von denen die ganze Gesellschaft profitiert.

Das Franxini-Projekt ist entstanden auf Initiative der wissenschaftlichen Ideenschmiede «Reatch! Research. Think. Change.» und wird unterstützt von einer Reihe von renommierten Persönlichkeiten aus Wissenschaften, Politik und Gesellschaft und wird gefördert von der Stiftung Mercator, der Gebert Rüf Stiftung, der cogito foundation, der Universität Zürich, dem ETH Rat, der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz und weiteren Partnern.

Autor*innen

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Ursprünglich aus der Physik kommend, beschäftigt sich Stefano Amberg nun an der ETH Zürich mit den Verbindungen zwischen Naturwissenschaften und Politik in kritischen Fragen wie dem Klimawandel, der Energiewende, und dem Ressourcenmanagement. Er sucht dabei nach ganzheitlichen Ansätzen, die dazu beitragen Brücken zwischen den Welten von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik zu schlagen.

Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.

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