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Wie kann sich die Schweiz konstruktiv weiterentwickeln?

Die Schweiz wird 175 Jahre alt. Dieses Jubiläum nutzt die Ideenschmiede Reatch und ruft zum Ideenwettbewerb auf. Wie schon 1848 soll der Pioniergeist der Bevölkerung geweckt und nach weitsichtigen Lösungen gesucht werden. Wie sich das gemeinsame Anpacken fördern lässt, erklären Servan Grüninger, Präsident von Reatch und Martin Candinas, Nationalratspräsident und Mitglied der Jury des diesjährigen Ideenwettbewerbs.

Dieser Text erschien am 11.09.2023 in der NZZ.

Wie geht es der Schweiz heute – aus politischer und wissenschaftlicher Sicht?

Martin Candinas: Es geht der Schweiz gut, im Vergleich zum Ausland sogar sehr gut. Das heisst aber nicht, dass es uns automatisch auch in Zukunft gut gehen wird. Dieser Zustand muss erarbeitet werden, und wir stehen aktuell vor verschiedenen Herausforderungen: sei es in den Beziehungen mit der europäischen Union, in der Energiepolitik oder bei den Sozialwerken. Diese Herausforderungen können wir nur gemeinsam und lösungsorientiert meistern.

Servan Grüninger: Der Forschungsstandort Schweiz gehört zu einem der attraktivsten und innovativsten der Welt. Wir haben eine top Infrastruktur, sind ein Magnet für kluge Köpfe und haben es auch in vielen Bereichen geschafft, dieses Wissen der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Und trotzdem trüben ein paar dunkle Wolken dieses Bild. Das Verhältnis zu Europa ist auch für die Forschung zentral. Man merkt ausserdem, dass in gewissen Bereichen eine Verpolitisierung der Forschung stattfindet. Dass Ansprüche gestellt werden, die wir schlichtweg nicht erfüllen können. In den Wissenschaften muss man oft zuerst investieren, und in zehn oder mehr Jahren folgt dann ein Durchbruch. Teilweise entsteht allerdings das Gefühl, man müsste innerhalb eines halben Jahres die Welt neu erfinden – das geht halt nicht.

Was ist aus Ihrer Sicht der wichtigste Fortschritt, der seit 1848 bis heute in der Schweiz passiert ist?

Martin Candinas: Ich glaube man kann sich nicht auf einzelne Punkte fokussieren. Unsere Verfassung von 1848 haben wir aber erst zweimal total revidiert. Das zeigt per se, dass unsere Vorfahren bei der Gründung der modernen Schweiz ein Meisterwerk erschaffen haben. Natürlich gab es im Verlauf der Zeit auch verschiedene Änderungen: So wurde zum Beispiel die Religionsfreiheit verankert, die Volksrechte wurden mit dem Initiativ- sowie dem Referendumsrecht ausgeweitet oder die Gleichberechtigung der Frau wurde 1971 mit der Einführung des Frauenstimm- und wahlrechts in die Verfassung aufgenommen.

Servan Grüninger: Für mich ist es der Umstand, dass wir es geschafft haben aus einer diversen Gesellschaft – Romandie im Westen, Rumantschia im Osten, Deutschschweizer und Tessiner, Katholiken, Protestanten, Liberale, Konservative – eine gemeinsame Willensnation zu schaffen und diese über die Jahre hinweg immer wieder neu zu erfinden, ohne die Wurzeln zu vergessen. Wie wichtig das ist, sieht man heute noch. Wir profitieren von vielen Innovationen, die hier entstehen oder die aus dem Ausland zu uns kommen, die wir dann quasi «einbürgern» und bei uns «integrieren», ohne dass die Schweiz dadurch ihren Charakter oder ihre Bodenständigkeit verliert.

Anlässlich des 175-Jahr-Jubiläums des Schweizer Bundesstaats sowie der Schweizer Verfassung möchte Reatch den Pioniergeist (er)wecken und eine Aufbruchsstimmung erzeugen. Wie soll das gelingen?

Servan Grüninger: Wir möchten vor allem Ideen und Lösungen finden, die dafür sorgen, dass die Schweiz in 175 Jahren noch besser dasteht. Lösungen, mit denen sich Brücken schlagen lassen. Denn rein wissenschaftliche Lösungen sind selten genug, um gesellschaftliche Herausforderungen zu meistern. Als 1848 die Verfassung in Kraft trat, war diese entscheidend für das Wesen der Schweiz. Der grösste Teil der Arbeit stand allerdings noch bevor: Es galt eine eigenständige und vereinte Nation zu schaffen. Die Pioniere von damals mussten politisch, wirtschaftlich sowie wissenschaftlich alle Register ziehen, um aus der Schweiz das zu machen, was sie heute ist: Eines der wohlhabendsten und glücklichsten Länder der Welt. Nun wollen wir wissen, was wir heute tun müssen, damit die Schweizer Willensnation weiter gedeiht. Wie können wir unsere natürlichen Ressourcen hier und auch weltweit bewahren, welche Infrastrukturen sind nötig, welche Institutionen müssen gestärkt oder vielleicht neu geschaffen werden? Wir wollen von den Leuten wissen, wie man es schafft, nicht nur die Gegenwart zu verwalten, sondern die Zukunft zu gestalten.

Welche Rolle spielen Sie, Martin Candinas, als Nationalratspräsident, bei diesem Vorhaben?

Martin Candinas: Ich bin Mitglied der Jury des diesjährigen Ideenwettbewerbs und fand das Vorhaben per se sehr spannend. Denn es ist wie Servan Grüninger gesagt hat: Am Schluss dürfen wir uns nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Wir müssen die Zukunft gestalten wollen, dafür benötigen wir Pioniere, Ideen sowie eine Portion Kreativität. Stillstand ist Rückschritt, davon bin ich fest überzeugt. Genau hier setzt das Projekt an.

Wie kann Politik Wissenschaft unterstützen und umgekehrt?

Martin Candinas: Die Politik muss der Wissenschaft gute Rahmenbedingungen bieten und ihr dann freie Hand geben. Die Schweiz hat hierbei bis jetzt einen guten Weg gewählt. Sie investiert viel in Bildung, Forschung, Innovation und damit auch in die Wissenschaft. Darum gehören unsere Bildungseinrichtungen, nicht nur auf Stufe Hochschulen, sondern ebenso bei den Höheren Fachschulen, der Berufsbildung – die mir sehr am Herzen liegt – zu den besten der Welt. Es ist wichtig, dass sich die Wissenschaft in ihrem ganzen Spektrum entfalten kann. Der Fokus liegt dabei auf der universitären Ebene, aber am Schluss brauchen wir in allen Berufsbildern Forschung und Innovation.

Servan Grüninger: Die Wissenschaft kann die Politik am besten unterstützen, wenn sie gutes, hochqualitatives Wissen schafft. Und sich darum bemüht dieses Wissen in die Politik und die Gesellschaft zurückzuspielen. Wir betreiben Spitzenforschung in der Schweiz und ja, die ist global ausgerichtet, aber was ebenso wichtig ist, ist der Transfer nach innen. Dass wir dafür sorgen, dass Wissen auch auf die Rahmenbedingungen in unserem Land zugeschnitten ist. Dass wir auch, wenn auch nicht ausschliesslich, Wissen produzieren, das von den Kantonen, vielleicht auch von den Gemeinden, genutzt werden kann, dass wir unseren Bildungsauftrag ernst nehmen.

Was denken Sie, wie sollte die Schweiz im Jahr 2198 (in 175 Jahren) aufgestellt sein?

Martin Candinas: Die Schweiz soll weiterhin ein direktdemokratisches Land sein, wo die Bürgerinnen und Bürger möglichst viel Mitsprache haben. Das ist eine riesige Errungenschaft. Die Demokratien sind aktuell unter Druck, damit das also auch im Jahr 2198 noch so ist, müssen wir dafür etwas tun. Dass wir ein stabiles, sicheres, mehrsprachiges, vielfältiges, weltoffenes und innovatives Land bleiben. Das ist mein Wunsch an die Schweiz und dafür sollten wir arbeiten.

Servan Grüninger: Ich wünsche mir, dass die Schweiz neben ihrer demokratischen Tradition auch die damit verbundene aufklärerische Tradition in der Politik und in der Wissenschaft ehrt. Ich bin nämlich überzeugt, wir brauchen heute und in Zukunft Menschen, die durchaus kritisch aber immer mit sozialer Verantwortung an der Zukunft des Landes arbeiten.

Was sollte bald angepackt werden?

Martin Candinas: Wir müssen mit der europäischen Union, mit unseren Nachbarn, geregelte Beziehungen haben. Es braucht eine Lösung für die Zukunft, damit wir die Brisanz des Themas entschärfen können und wir uns danach auch auf andere Themen fokussieren können.

Servan Grüninger: Aus meiner Sicht ist es das ungelöste Verhältnis zwischen Demokratie, Politik und neuen wissenschaftlichen oder technischen Entwicklungen. Wir brauchen Lösungen, wie wir solche Entwicklungen wirksam nutzen können, ohne die demokratische Kontrolle und die Weitsichtigkeit bei der Implementierung zu verlieren. Ich habe nämlich den Eindruck, in einigen Bereichen scheint man sich ein wenig auf den Lorbeeren der vergangenen Jahre auszuruhen. Verliert man dann den Anschluss und wird abgehängt, ist man überrascht und versucht überstürzt, bisweilen ohne einen konkreten Plan und mit viel Geld, aufzuholen. Hier würde ich mir wünschen, dass man gewisse Entwicklungen bereits früher von politischer und gesellschaftlicher Seite aufnimmt und sich fragt, was bedeutet das für uns? Wie wollen wir gemeinsam voranschreiten und das auch zum Wohle des Landes nutzen?

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