Alle wollen Bildung! – oder?
Bildung hat grundsätzlich eine enorm hohe Zustimmung in der Bevölkerung. Öffentliche Meinungsumfragen haben wiederholt gezeigt, dass sich in allen Ländern grosse Mehrheiten von 80–90 Prozent der Bevölkerung dafür aussprechen, mehr in Bildung zu investieren und Bildungspolitik als zentrales Politikfeld zu betrachten.
Viel Genaueres wusste man allerdings nicht. Tritt die grosse Mehrheit weiterhin für mehr Bildungsausgaben ein, auch wenn dies höhere Steuern oder öffentliche Verschuldung bedeutet? Was, wenn das Geld für Bildung durch Einsparung an anderer Stelle, beispielsweise durch Rentenkürzungen oder niedrigere Arbeitslosengelder, finanziert würde? Und wofür genau soll eigentlich Geld ausgegeben werden? Für Krippen? Schulen? Hochschulen? Berufliche Bildung? Welche Rolle sollen Privatschulen spielen – oder wer soll überhaupt verantwortlich sein für Bildungspolitik?
Weil diese und viele andere Fragen bislang auf Grund fehlender Daten unbeantwortet geblieben sind, haben wir im Rahmen eines ERC-finanzierten Projektes eine repräsentative Umfrage zu Bildungs- und Sozialpolitik in acht europäischen Staaten durchgeführt (alle Informationen und Daten zum Projekt sind über die GESIS zugänglich).
Bildung ist ein populäres Thema
Ein erstes wichtiges Ergebnis: Bildung bleibt ein extrem populäres Thema, selbst wenn es in Zielkonflikten mit anderen Themen steht. Unsere Umfrage hat z.B. erhoben, für welchen Bereich die Befragten mehr Geld ausgeben würden, wenn sie sich für nur einen entscheiden müssten. Abbildung 1 zeigt die Ergebnisse. Wir sehen, dass Bildung in allen Ländern einen hohen Stellenwert einnimmt – nur der Gesundheitsbereich wird in manchen Ländern noch häufiger priorisiert (und der Arbeitsmarkt in Frankreich).
Abbildung 1: Welches Politikfeld priorisieren die Befragten, wenn sie sich für eines entscheiden müssen?
Quelle: erstellt auf Basis von Busemeyer, Marius R., Julian L. Garritzmann, Erik Neimanns, and Roula Nezi (2018). Investing in Education in Europe: Evidence from a New Survey of Public Opinion. Journal of European Social Policy 28(1): 34–54.
Zielkonflikt auch in der Bildungspolitik
Ein zweites wichtiges Ergebnis: Bildung bleibt zwar populär, wenn die Kosten sichtbarer werden – aber die Zustimmungswerte sinken. Abbildung 2 zeigt das in Kürze mit Ergebnissen aus einem Umfrageexperiment: 72 Prozent der Befragten sprechen sich generell für höhere Bildungsausgaben aus.
Erwähnt man jedoch, dass dies durch höhere Steuern finanziert werden könnte, sinkt die Zustimmung auf 48 Prozent; noch unbeliebter wäre eine Finanzierung durch staatliche Neuverschuldung (41 Prozent). – Was die Befragten aber am stärksten ablehnen, wäre eine Kürzung bestehender Sozialleistungen um mehr für Bildung ausgeben zu können.
In Abbildung 2 zeigen wir dies am Beispiel der Renten (25 Prozent würden zustimmen, Bildungsausgaben auf Kosten der Renten zu erhöhen). Wichtig ist dieses Ergebnis, da unsere heutigen Wohlfahrtsstaaten – im sogenannten «Silver Age of the welfare state» – zunehmend unter finanziellem Druck stehen. Politiker*innen und Bürger*innen sind also ständig von diesen Zielkonflikten umgeben.
Abbildung 2: Zustimmung zu höheren Bildungsausgaben in drei verschiedenen Szenarien
Quelle: erstellt auf Basis von Busemeyer, Marius R. and Julian L. Garritzmann (2017) Public Opinion on Policy and Budgetary Trade-offs in European Welfare States: Evidence from a New Comparative Survey. Journal of European Public Policy 24(6): 871–889.
Unter welchen Bedingungen ist öffentliche Meinung also wichtig?
Warum beeinflusst öffentliche Meinung also manchmal, aber nicht immer, Politik? Wir zeigen in unserer Untersuchung, dass es vor allem darauf ankommt, wie salient und wie kohärent öffentliche Meinung zu dem jeweiligen Thema ist.
Wir illustrieren dies ausführlich anhand von detaillierten Prozessanalysen von allen bildungspolitischen Reformprozessen der letzten Jahre in denselben acht Ländern wie in der Umfrage. Unsere empirischen Ergebnisse zeigen, dass und warum öffentliche Meinung manchmal, aber nicht immer eine wichtige Rolle für Bildungspolitik spielt. Das theoretische Modell lässt sich problemlos auf alle anderen Politikbereiche anwenden.
Spielt es irgendeine Rolle, was die Bevölkerung will?
Wir haben auch untersucht, unter welchen Bedingungen die öffentliche Meinung die (Bildungs-)Politik tatsächlich beeinflusst. Spielt es für die Politik irgendeine Rolle, was die Leute wollen? Wir argumentieren, dass es bei dieser Frage auf zwei Faktoren ankommt: Salienz und Kohärenz.
Auf die Salienz kommt es an!
Erstens ist wichtig, wie salient ein bestimmtes Thema ist, d.h. wie viel Aufmerksamkeit es im öffentlichen politischen Raum einnimmt. Manche Themen aus dem Bildungsbereich sind sehr salient, wie beispielsweise eine Schulzeitverkürzung um ein Jahr, die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen oder die Einführung von Studiengebühren. Bei diesen Themen haben die meisten Menschen eine Meinung und das Thema ist vielen wichtig (Schüler*innen, Eltern, Grosseltern, Lehrer*innen, etc.).
Andere Themen dagegen sind gesamtgesellschaftlich kaum salient, z.B. die Frage, ob in Berufsschulen mehr oder weniger Mathematik unterrichtet werden soll, ob nicht-pädagogisches Personal in Bildungseinrichtungen höhere Gehälter erhalten sollte, oder wie Privatschulen reguliert werden sollten. An diesen Themen haben zwar bestimmte gesellschaftliche Gruppen ein grosses Interesse, doch den meisten Leuten ist es eher egal.
Wir können zeigen (auch aufbauend auf frühere Studien z.B. von Pepper Culpepper), dass eine hohe Salienz eine notwendige Bedingung für Einfluss von öffentlicher Meinung ist. Sprich: Öffentliche Meinung spielt keine Rolle für Politik, wenn das Thema nicht salient ist.
Salienz allein reicht nicht – es geht auch um Kohärenz
Zweitens aber – und hier gehen wir über bestehende Literatur hinaus – zeigen wir, dass es nicht nur um Salienz geht, sondern auch darum, wie viel Übereinstimmung es in der öffentlichen Meinung zu einem bestimmten Thema gibt. Das nennen wir Kohärenz.
Manche Themen sind sehr salient und eine grosse Mehrheit der Bevölkerung teilt dieselbe Ansicht. In diesem Fall sendet öffentliche Meinung ein «lautes und klares» Signal an Politiker*innen, die aus wahlstrategischen Gründen darauf reagieren müssen. Hier spielt öffentliche Meinung die grösste Rolle. Dies nennen wir «Loud Politics».
Andere Themen dagegen sind zwar auch sehr salient, aber die öffentliche Meinung ist gespalten – z.B. wollte in Schweden etwa die Hälfte der Bürger*innen eine staatliche Regulierung von Privatisierung im Bildungsbereich, während die andere Hälfte dagegen war. Hier sprechen wir von «Loud but noisy politics»: Die öffentliche Meinung sendet ein sehr ambivalentes Signal an Politiker*innen; das Thema ist zwar Vielen wichtig, aber es ist unklar, was Politiker*innen machen sollen. Wir können zeigen, dass in diesem Szenario öffentliche Meinung zwar hilft, ein bestimmtes Thema auf die politische Agenda zu bringen, dass die konkrete Politik in diesem Szenario aber massgeblich durch die jeweils regierenden Parteien entschieden wird. Entscheidend sind also Parteien – und nicht öffentliche Meinung.
Tabelle 1 fasst unser Argument knapp zusammen:
Unter welchen Bedingungen ist öffentliche Meinung also wichtig?
Warum beeinflusst öffentliche Meinung also manchmal, aber nicht immer, Politik? Unsere Untersuchungen zeigen, dass es darauf ankommt, wie salient und wie kohärent öffentliche Meinung zu dem jeweiligen Thema ist.
Referenz
Busemeyer, Marius, Julian Garritzman und Erik Neimann (2020): A Loud but Noisy Signal? Public Opinion and Education Reform in Western Europe. Cambridge University Press.
Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.
Comments (0)