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In den USA läuft wirtschaftlich manches besser, aber Europa ist nicht im Niedergang

Europas Wirtschaft wird oft übertrieben stark schlecht geredet. Europa befindet sich wirtschaftlich nicht im Niedergang.

Dieser Kommentar ist in einer längeren Version am 20. April 2024 in der Frankfurter Rundschau erschienen.



Noch vor einem Jahr war man in Deutschland und ganz Europa froh, den Energiepreisschock und die drohenden Versorgungsengpässe glimpflich überstanden zu haben. Die von einigen Ökonom*innen befürchtete tiefe Rezession blieb aus. Doch erstaunlich schnell schwang diese Erleichterung in Pessimismus um. Tatsächlich schwächelt der Euroraum nach der Pandemie und der Energiekrise wirtschaftlich; Deutschland gehört beim Wirtschaftswachstum momentan sogar zu den Schlusslichtern in Europa. Dabei wird die europäische Wirtschaft vor allem in den Medien immer wieder gerne mit der US-Wirtschaft verglichen.

Es ist zwar wichtig und richtig, sich am Beispiel der technologisch führenden Vereinigten Staaten zu orientieren. Das muss der Anspruch Europas sein. Der starke Fokus auf die USA führt jedoch auch dazu, dass Europa bei der Gesamtbeurteilung zu schlecht wegkommt und ein übertriebener Eindruck des Niedergangs entsteht. Ein Blick auf das Wachstum der Produktivität, das langfristig den Wohlstand bestimmt und hier als Wirtschaftsleistung pro Arbeitsstunde definiert wird, zeigt dies sehr gut. Denn es wird oft vergessen, dass die USA mit ihrem recht kräftigen Produktivitätswachstum unter den fortgeschrittenen Volkswirtschaften eine Ausnahme darstellen. Dies dürfte vor allem auf einen Vorsprung der Vereinigten Staaten bei Informations- und Kommunikationstechnologien zurückzuführen sein, wie etwa der bekannte Ökonom Robert Gordon gezeigt hat. Im Vergleich zu anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften schneiden Deutschland und der gesamte Euroraum aber nicht schlechter ab. Gemäß Daten des Long-Term-Productivity-Projekts liegt die US-Wirtschaft beim Wachstum der Arbeitsproduktivität – also dem Bruttoinlandsprodukt pro Arbeitsstunde – ziemlich allein an der Spitze und hat etwa seit dem Jahr 2000 um rund 35 Prozent zugelegt. In vielen anderen größeren Wirtschaftsräumen – also im Euroraum, im Vereinigten Königreich, in Kanada oder in Japan – waren es im selben Zeitraum um die 20 Prozent. Deutschland hat sich bis vor kurzem immerhin dynamischer entwickelt als der übrige Euroraum. Von den größeren fortgeschrittenen Volkswirtschaften haben seit den 2000ern einzig Australien und vermutlich auch Südkorea (hier bestehen allerdings Lücken bei den Daten) ein ähnlich kräftiges Produktivitätswachstum wie die Vereinigten Staaten erzielen können.

Dass Deutschland und der Euroraum insgesamt im Vergleich zu den USA zurückfallen, ist also kein rein kontinentaleuropäisches Phänomen und sollte nicht vorschnell als Niedergang bezeichnet werden. Die gute Nachricht ist, dass in Europa vieles verbessert werden kann. Neben einer oft lähmenden Bürokratie und Rückstand bei der Digitalisierung entwickelten sich auch die Investitionen – gerade auch in Forschung und Entwicklung im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien – schleppender als in den Vereinigten Staaten. Dies könnte etwa auch dazu geführt haben, dass in vielen Ländern Europas die Vorteile des mobilen Arbeitens etwas weniger stark genutzt werden als in den Vereinigten Staaten. Die kürzlich präsentierten Vorschläge des EU-Sonderbeauftragen Enrico Letta zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit haben mittelfristig das Potenzial, die Produktivität in Europa spürbar zu erhöhen. So soll in verschiedenen Bereichen, etwa bei der Telekommunikation oder beim Kapitalmarkt, der europäische Binnenmarkt gestärkt werden. Die Energiewende, die zusätzlichen Ausgaben für die Verteidigung und die alternde Bevölkerung erfordern erhebliche finanzielle Anstrengungen. Ein höheres Produktivitätswachstum würde Europa helfen, diese Herausforderungen zu finanzieren und den Anschluss an die USA nicht noch weiter zu verlieren.

Gleichzeitig sollte man aber nicht vergessen, dass nicht alle Menschen in den USA vom Wachstum profitiert haben und die Gesellschaft dort besonders stark polarisiert ist. In Europa ist die Ungleichheit weniger gestiegen oder teilweise sogar in etwa konstant geblieben. Als Vorbild für wirtschaftlichen Fortschritt auf der breiten Ebene taugen die Vereinigten Staaten also trotz der guten makroökonomischen Entwicklung und beeindruckenden technologischen Fortschritte nur eingeschränkt.


Autor*innen

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Projektleiter «Wirtschaft und Arbeit im Wandel», Blog-Team

Guido Baldi ist Mitglied von Reatch und beschäftigt sich insbesondere mit Geldpolitik, Wirtschaftswachstum und dem Wandel der Arbeit. Guido lehrt und forscht am Volkswirtschaftlichen Institut der Universität Bern, an der Hochschule Luzern sowie am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).

Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.

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