Aus Fakten werden Meinungen
In den letzten Jahren haben vorwiegend Ereignisse fernab der wissenschaftlichen Disziplinen dazu geführt, dass auch in der westlichen Welt Falschbehauptungen wieder in grossem Masse beglaubigt werden. Beispielsweise war die Publikumsgrösse der Amtseinführungsrede des 45. Präsidenten der USA nicht die grösste je da gewesene, was rohe Bilddaten klar belegen [1]. Dennoch wurde entgegen dieser klaren Beweislage mit grösster Überzeugung das Gegenteil behauptet und fälschlicherweise als Fakt verkauft. Bei einem solchen postfaktischen Politikstil werden «alternative Fakten» verbreitet, um das Vertrauen in die Unbestreitbarkeit von Tatsachen zu schwächen und diese als blosse Meinung darzustellen.
Auch Wissen, welches gemeinhin als Tatsache galt und vor wenigen Jahren wohl keinen breiten Widerspruch provoziert hätte, wird plötzlich wieder angezweifelt. Ein Beispiel dafür ist die in den letzten Jahren rasant wachsende Gemeinschaft, die erneut die altertümliche ‘Meinung’ vertritt, dass die Erde flach sei [2]. Treffend dazu schrieb Journalist und Autor Sascha Lobo 2012: «Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber niemand hat das Recht auf eigene Fakten» [3]. Subjektive Meinungen können nie eindeutig als richtig oder falsch eingeordnet werden, da sie nicht nachprüfbar sind. Die Frage, ob Ananasscheiben auf eine Pizza gehören, kann nicht abschliessend geklärt werden. Anders verhält es sich bei Fakten, welche im Gegensatz zu einer Meinung überprüfbar sind. Dass die Erde rund ist, ist ein überprüfbarer Fakt [4] – unabhängig von einer persönlichen Meinung.
Diese überprüfbaren Fakten, oder kurz: Wissen zu schaffen, ist das namensgebende Kerngeschäft der Wissenschaften. Auch wenn sie mit dem Streben nach Erkenntnis nicht alleine dastehen, da sich sowohl Journalist*innen als auch Detektiv*innen damit befassen, Tatsachen zu ermitteln, zeichnen sich die methodengebundenen Naturwissenschaften durch die Allgemeingültigkeit und Zuverlässigkeit ihrer Ergebnisse aus. Im Folgetext werden Begriffe wie ‘Wissenschaften’ oder ‘Forschung’ stellvertretend für die methodischen Naturwissenschaften benutzt. Es besteht daher eigentlich ein breiter Konsens, dass Daten, welche mit Hilfe bewährter wissenschaftlicher Messmethoden erhoben wurden, bereits mit Tatsachen gleichzustellen sind und neues Wissen schaffen können.
Die Wissenschaften erheben diesen Anspruch auf Fakten (nicht auf Meinungen!), weil sie dafür die entsprechenden Beweise, also Daten liefern. Der Unterschied findet sich jedoch nicht in der blossen Existenz einer Datenlage selbst, sondern bei deren systematischen Erhebung und Interpretation. Natürlich verwenden auch andere Disziplinen empirische Daten; unsystematische Analysen dieser Beweise können jedoch zu Trugschlüssen führen. Beispielsweise kann ein journalistischer Einzelbericht durchaus als Beweislage gelten, jedoch reicht dieser Fallbericht (sogenannte anekdotische Evidenz) alleine nicht aus, um allgemeingültige Aussagen zu treffen.
Stichworte in diesem Zusammenhang sind ‘Korrelation’ und ‘Kausalität’. Ein kausaler Zusammenhang (Kausalität) zweier korrelierender Phänomene lässt sich ohne Experimente mit strikter Einhaltung wissenschaftlicher Standards meist nicht vom lediglich gemeinsamen Auftreten (Korrelation) unterscheiden. Ein Beispiel: Die Bewohner der ‘New Hebrides’ Inseln waren früher überzeugt, dass Läuse gesundheitsfördernd seien, da sie kaum auf kranken Menschen gesichtet wurden (negative Korrelation). Der wahre Grund dafür ist jedoch, dass Läuse extrem empfindlich auf Körpertemperaturen reagieren. Das Fieber von Patient*innen veranlasste die Läuse, sich einen anderen Wirt zu suchen (Kausalität) [5]. Diese Frage könnte systematisch wohl erst mit der Verwendung eines medizinischen Thermometers sowie Temperaturexperimenten mit Läusen aufgeklärt werden.
Eine zuverlässige Datengrundlage zu schaffen, ist aufwändig: Die Daten müssen systematisch mittels präziser Messgeräte und Experimenten erhoben werden. Zudem müssen Versuchskontrollen durchgeführt und berücksichtigt werden. Forschende können dadurch den Einfluss menschlicher Fehlbarkeit und Intuition minimieren und Tatsachen klarer erkennen. Resultate der Forschung werden also durch wissenschaftliche Methoden ein Stück weit selbst kontrolliert und beruhen daher nicht auf purem Vertrauen in die Ergebnisse.
Vorläufigkeit als Prinzip der Wissenschaften
Dank verlässlicher Daten stellen «alternative Fakten» beim Einordnen von Fakten noch das kleinste Problem dar. Auch wenn postfaktische Diskurse und die vermehrte Verbreitung von «alternativen Fakten» den Umgang mit Aussagen mühsamer als notwendig gestalten, lassen sich solche Falschaussagen mit entsprechenden Beweisen oft schnell widerlegen. Schwieriger verhält es sich aber, wenn für wahr gehaltene Aussagen sich als falsch erweisen.
Gerade in den Naturwissenschaften ist dies fortlaufend der Fall. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden kontinuierlich verbessert und dem neusten Erkenntnisstand angepasst. Deshalb ändert sich der Anspruch der Forschung, Tatsachen ermitteln zu wollen, jedoch nicht. Denn wissenschaftliche Revisionen zeichnen sich dadurch aus, dass zuvor irrtümlich für wahr Gehaltenes sich als falsch erweist und nicht, dass Wahres falsch wurde. Die Indizienlage und somit die Tatsachenannahme haben sich zwar geändert, die Tatsache selbst jedoch nicht. Bei verantwortungsvoller Forschung findet also zu keinem Zeitpunkt eine absichtliche Täuschung statt – wie es bei der Verbreitung von «alternativen Fakten» oft der Fall ist.
Leider wird aber genau diese Vorläufigkeit von wissenschaftlichen Theorien oftmals als Argument verwendet, um Erkenntnissen aus dem Forschungsbereich generell misstrauisch gegenüber zu stehen und sie teilweise als blosse Meinung darzustellen. Dabei ist gerade die stetige Überprüfung und Verbesserung von Theorien notwendig, um jemals Tatsachen ermitteln zu können.
Selbstverständlich können sich auch Wissenschaftler*innen irren. Eine einzelne Studie im weiten Raum von komplexen Sachverhalten kann zu Fehlinterpretationen führen, sogar von Expert*innen. Darüber hinaus führt das aktuell erhöhte Vorkommen von unangemessenen Versuchsplanungen zu einer ‘Reproduzierbarkeitskrise’. Vor allem in den ‘Life Sciences’ führen diese inadäquaten Versuche zu einer Verzerrung und somit Verfälschung von Resultaten. Auch wenn hinter diesen nicht reproduzierbaren Daten oft keine böse Absicht steckt, schadet die Forschung damit nicht nur sich selbst, sondern setzt auch das öffentliche Vertrauen, das ihr entgegengebracht wird, aufs Spiel. Die wissenschaftliche Gemeinschaft sieht dem Problem jedoch nicht tatenlos zu, sondern ist daran, die identifizierten Probleme anzugehen, beispielsweise indem neue Leitlinien erarbeitet und Aufsichtsorganisationen etabliert werden [6].
Aber lassen wir die seltenen Fälle von inadäquat geführter Wissenschaft einmal hinter uns und wenden uns den ‘normalen’ wissenschaftlichen Revisionen zu. Also solchen, die nicht aufgrund von Fehlern, sondern durch die Erweiterung unseres Erkenntnishorizonts vollzogen werden. In diesem Prozess werden die früheren Hypothesen aufgrund von neuen Erkenntnissen falsifiziert und mit besseren ergänzt oder ersetzt – ein für den Fortschritt der Wissenschaften notwendiger Prozess. Falls sich dadurch eine Auffassung der Welt sogar grundlegend ändert, spricht man in gewissen wissenschaftstheoretischen Auffassungen von einem sogenannten Paradigmenwechsel [7].
Die kopernikanische Wende liefert hier ein eindrucksvolles Beispiel. Kopernikus gelang es während des 16. und 17. Jahrhunderts, ein fast eineinhalb Jahrtausende altes Weltbild zu revolutionieren. Seine Beobachtungen läuteten eine neue Ära in der Astronomie ein und veränderten die philosophischen Ansichten bezüglich der Stellung des Menschen im Universum grundlegend [8]. Gleichzeitig galt damit die geozentrische Weltanschauung als nicht mehr ausreichend, um die Bewegung der Himmelskörper und alles, was davon abhängt, zu erklären.
In anderen Worten ist es gar nicht möglich, während einer Paradigmenepoche Aussagen ausserhalb eben dieses Paradigmas zu formulieren, bevor es nicht im Rahmen eines Paradigmenwechsels abgelöst wird. Zur Veranschaulichung: Vor der Entdeckung von Atomen und Molekülverbindungen war es nicht möglich, Wasser als H2O zu definieren. Der damalige Stand der Wissenschaft erlaubte lediglich Beschreibungen von Wasser wie als «durchsichtige Flüssigkeit», die bei 4°C ihre höchste Dichte erreicht». Erst die Möglichkeit der chemischen Analysen und des damit einhergehende Paradigmenwechsels erlaubte die heute gängige, viel präzisere Definition von Wasser: zwei Wasserstoffatome verbunden an einem Sauerstoffatom, also H2O.
Die Erkenntnisse, die während dem vorhergehenden Paradigma gewonnen wurden, müssen dadurch nicht verworfen werden. Die als Wasser bekannte durchsichtige Flüssigkeit hat durchaus ihre höchste Dichte bei 4°C. Jedoch wurde das Theoriegerüst, mit welchem man Aussagen über Stoffe treffen kann, mit dem Beginn der molekular-chemischen Analysen neu aufgebaut. Auch die Newtonsche Mechanik, die über 200 Jahre lang das grundlegende Paradigma für die Physik darstellte, wurde durch Einsteins Relativitätstheorie erweitert. Trotzdem passt sie immer noch zu den allermeisten verfügbaren Daten und bleibt als Modell weiterhin sehr nützlich.
Die Gretchenfrage ist nun: Gibt es so etwas wie unumstössliche Tatsachen überhaupt und können wir diese trotz der kontinuierlich auftretenden wissenschaftlichen Revolutionen jemals erkennen?
Zwischen Wirklichkeit und Wahrheit
In den modernen Naturwissenschaften gilt grundsätzlich der Fallibilismus: Hypothesen können lediglich falsifiziert, nie aber verifiziert werden [9]. Das heisst, wissenschaftliche Theorien können nicht bestätigt und dementsprechend als absolut gewiss betrachtet werden. Ob durch diese konstante Verbesserung und Widerlegung von Hypothesen jemals die «Wahrheit» gefunden werden kann, ist eine der grundlegendsten Fragen der Wissenschaftsphilosophie. Gleichzeitig stellt sich hier die Frage: Gibt es überhaupt eine objektive «Wirklichkeit»? Dem ‘radikalen Konstruktivismus’ zufolge, ist die Wirklichkeit eine blosse Konstruktion unseres Gehirns [10]. Das würde ferner bedeuten, dass auch alle Tatsachen blosse Konstruktionen sind und gar nicht objektiv existieren. Dem gegenüber steht der naive Realismus, dem zufolge die Dinge im Wesentlichen genau so sind, wie sie uns erscheinen [11].
Die ‘Wahrheit’ liegt wohl irgendwo dazwischen. Ganz ohne Konstruktionsleistung unseres Gehirns würden wir mit unserem optischen Sinn lediglich Informationen registrieren wie Digitalkameras. In jedem Fall wären wir aber alle unterschiedliche Kameramodelle, da zum Beispiel Farbenblinde einen farbigen Gegenstand messbar anders sehen als Personen mit der Fähigkeit Farben wahrzunehmen. Dazu kommt, dass die konstruktive Tätigkeit des Verstands bei verschiedenen Menschen anders ausfallen kann und somit verschiedene Resultate generiert werden können. Ein Beispiel dafür ist die Internetsensation aus dem Jahre 2015, wobei ein Kleiderstück je nach Betrachter und dessen individueller Farbwahrnehmung entweder als blau/schwarz oder als weiss/gold wahrgenommen wird [12]. Daher ist es unter bestimmten Gegebenheiten auch möglich, dass unterschiedliche Personen aufgrund ihrer individuellen konstruktiven Verstandsfähigkeit unterschiedliche Tatsachenannahmen generieren.
Trotzdem reicht das Vorhandensein von individueller Wahrnehmung und Interpretation meiner Meinung nach auch nicht aus, die Existenz einer beobachtungsunabhängigen Realität zu verneinen. Die individuelle Wahrnehmung des Farbspektrums, tut der Existenz von Lichtwellen ja keinen Abbruch. Diese können schliesslich auch durch Verfahren und Messinstrumente, die keinen Verstand oder konstruktiven Anteil haben, identifiziert werden. Auch die Frage nach der tatsächlichen Farbe des Kleids konnte durch den Hersteller abschliessend beantwortet werden: nämlich schwarz/blau [13].
Fazit
Abschliessend bin ich der Ansicht, dass weder die Fehlbarkeit der wissenschaftlichen Erkenntnissuche, noch der konstruktive Anteil der menschlichen Auffassung dafür sprechen, dass Forschung nicht in der Lage wäre, Tatsachen zu erkennen. Wir sollten wieder anfangen anzuerkennen, dass wissenschaftliche Tatsachenannahmen in der Regel vertrauenswürdig sind, da sie empirisch gestützt sind und fortwährend überprüft und wo nötig angepasst werden.
Wichtig ist jedoch, dass wir wieder verstärkt zwischen Lügen und falschen Annahmen unterscheiden. Richtig geführte Wissenschaft lügt nicht. Sie kann lediglich auf falschen Annahmen basieren, welche für den wissenschaftlichen Fortschritt notwendig sind, jedoch verbessert werden können und sollen. Auch wenn wissenschaftliche Theorien daher oft bloss in ihren Paradigmenepochen gültig sind, sind sie währenddessen das beste Mittel, welches wir haben, um die Welt zu verstehen.
Darum sind wissenschaftliche Aussagen über die Umwelt als Tatsachen zu werten, auch wenn sich das Theoriegerüst, auf welches sich die Aussagen stützen, in der Zukunft wieder ändern könnte. Bloss weil Einsteins Theorie das Universum besser beschreibt, wurde die Theorie von Newton nicht plötzlich falsch und wir konnten damit vortrefflich zum Mond fliegen. Dass wir uns unsicher sind, wie endgültig momentane Theorien sind, bedeutet nicht automatisch die Abwesenheit von jeglicher Gewissheit. Ja, es gibt alternativlose Tatsachen in dieser Welt und die Wissenschaften sind der zuverlässigste Weg, diese zu ergründen.
«Facts are stubborn things.» (John Adams)
Referenzen
Reuters (2017): White House accuses media of playing down inauguration crowds (https://www.reuters.com/article/us-usa-trump-media-idUSKBN15600I).
CNN (2019): The flat-Earth conspiracy is spreading around the globe. Does it hide a darker core? (https://edition.cnn.com/2019/11/16/us/flat-earth-conference-conspiracy-theories-scli-intl/index.html).
Sascha Lobo, Spiegel (2012): Schneller als die Fakten erlauben (https://www.spiegel.de/netzwelt/web/post-truth-politics-sascha-lobo-ueber-die-luege-in-der-politik-a-865523.html).
Eine Liste zur Überprüfung findet sich beispielsweise hier: https://www.popsci.com/10-ways-you-can-prove-earth-is-round/.
Darrell Huff (1993): How to Lie With Statistics. Norton & Co.
Martin C. Michel, Ralf Dahm (2020): Die Reproduzierbarkeitskrise: Bedrohung oder Chance für die Wissenschaft? (https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/biuz.202070202?af=R).
T. S. Kuhn (1976): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Suhrkamp, S. 57
Hans Blumenberg (1965): Die kopernikanische Wende. Suhrkamp.
Karl R. Popper (1994): Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Aufgrund von Manuskripten aus den Jahren 1930–1933, 2. verbess. Auflage. Tübingen, S. XXI.
Ernst von Glasersfeld (1992): Konstruktion der Wirklichkeit und der Begriff der Objektivität. In: Heinz von Foerster u. a.: Einführung in den Konstruktivismus; Veröffentlichungen der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung, 5; Piper, ISBN 3-492-11165-3, S. 29.
Dario Corradini (2013): Der naive Realismus, in Philosophie Eph 10, Köln.
Lara Schlaffke, et al. (2015): The brain's dress code: How The Dress allows to decode the neuronal pathway of an optical illusion (https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0010945215003226?via%3Dihub).
Rujuta Pradhan (2019): Blue-Black Or White-Gold? What Color Is The Damn Dress!(https://www.scienceabc.com/humans/blue-black-white-gold-colour-damned-dress.html).
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