Unter dem Motto «Mit den Wissenschaften Krisen meistern, bevor sie entstehen» rief Reatch auf zum grossen Ideenwettbewerb 2020. Über 30 kreative Ideen sind zusammengekommen. Fünf davon haben wir fürs Finale am 24. Oktober ausgewählt. Vier der fünf Finalist*innen stellten ihre Ideen auf dem Reatch-Blog bereits vor. Wir möchten euch aber auch einige Ideen, die es nicht ins Finale geschafft haben, nicht vorenthalten.
Der vorliegende Blog-Beitrag wurde im Rahmen des Reatch-Ideenwettbewerbs eingereicht und wird mit dem Einverständnis der Autor*innen veröffentlicht. Der Beitrag durchlief nicht das übliche Reviewverfahren eines Reatch-Blogs.
Was ist das Problem heute, wieso führt es morgen zur Krise?
Die Digitalisierung erlaubt es Bürgerinnen und Bürgern innert Bruchteilen von Sekunden an eine Fülle an Information zu gelangen. Anders als man annehmen könnte, ist allein der Zugang zu Information noch kein Garant dafür, dass Bürgerinnen und Bürger sich im Internet zu politischen Diskussionen seriös informieren können. Vielmehr ist es so, dass eine Kakophonie von unterschiedlichsten Ansichten das Netz dominiert. Oft werden in Beiträgen (auch von anerkannten Leitmedien) keine Quellenangaben gemacht. Zudem wird nur sehr selten zwischen Meinungen und wissenschaftlich anerkannten Tatsachen differenziert. Für den Laien ist es deshalb sehr schwierig, wissenschaftlich erwiesene Tatsachen von Meinungen zu unterscheiden. Erschwerend kommt hinzu, dass der wissenschaftliche Fortschritt und die extreme Spezialisierung einzelner Wissenschaftsbereiche dafür sorgen, dass die Wissensschere zwischen «Ottonormalverbrauchern» und Spezialisten immer grösser wird, was die Kommunikation zwischen den beiden Lagern erschwert. Dies, zusammen mit fehlendem Wissen, wie die Wissenschaft funktioniert, verunmöglicht es Laien, sich einen seriösen Überblick zu einem Thema zu erarbeiten. Als Konsequenz finden wilde Verschwörungstheorien grossen Anklang, weil deren Vertreter es verstehen, in dem Chaos Ordnung zu schaffen (Impfgegner, Klimaskeptiker etc.).
Diese Entwicklung ist sehr gefährlich, besonders für eine direkte Demokratie wie die Schweiz. In einer direkten Demokratie ist es unerlässlich, dass sich die Bürgerinnen und Bürger seriös, umfangreich und schnell über ein wissenschaftspolitisches Thema informieren können, um dann entsprechend zu handeln und abzustimmen. Ansonsten werden aus falschen Überzeugungen demokratische Entscheidungen gefällt, mit denen das angestrebte Ziel nicht erreicht werden kann und die im schlimmsten Fall in einer Krise enden könnten. Damit ein solches Szenario verhindert wird, müssen die Wissenschaften eine aktivere Wissenschaftskommunikation betreiben.
Ein weiterer Faktor ist die Tatsache, dass sich Politiker/-innen, abhängig vom Beruf, in einem Themengebiet sehr gut auskennen, sie aber auch Entscheidungen zu Themen treffen müssen, bei denen sie nicht auf ein fundiertes Fachwissen zurückgreifen können. Damit politisch weitsichtige und lösungsorientierte Entscheidungen getroffen werden, ist jedoch ein fundiertes Wissen eine unverzichtbare Voraussetzung. Nur so können Politiker/-innen ihren Anforderungen gerecht werden.
Um ein Beispiel zu geben: CRISPR-Cas9 stellt eine der grössten Revolutionen in der Gentechnologie dar, die es bislang gegeben hat. Diese Technologie sprengt bisherige Grenzen und wird fast jeden Gesellschaftsbereich beeinflussen [1][2][3]. Damit diese Technologie möglichst verantwortungsbewusst eingesetzt wird, müssen Regeln aufgestellt werden. Diese Regeln werden von Politiker/-innen in Form von Gesetzen gemacht. Damit die Politiker/-innen aber in der Lage sind Gesetze so zu erlassen, dass sie auch den gewünschten Effekt haben, müssen sie genauso gut über CRISPR-Cas9 Bescheid wissen, wie die Wissenschaftler/-innen selber. Um dies zu erreichen, benötigen wir eine gut funktionierende Wissenschaftskommunikation, welche sich aktiv in die Debatte einbringt.
Damit es weiterhin möglich ist, kluge, weitsichtige Entscheidungen zu fällen und künftige Krisen zu verhindern, ist es deshalb für das direkt-demokratische System der Schweiz entscheidend, eine Plattform ins Leben zu rufen, die sowohl den Bürger/-innen als auch den Politiker/-innen als Informationsquelle dient. So können politische Diskussionen sachlicher geführt werden und für die Bürgerinnen und Bürger ist es einfacher, sich selbst eine fundierte Meinung zu komplexen wissenschaftlichen Themen zu bilden.
Wie können die Wissenschaften helfen, dieses Problem zu beheben?
Um die oben diskutierte Situation zu verbessern, schlage ich vor, eine vom Bund finanzierte digitale Infoplattform aufzubauen, die von Wissenschaftler/-innen auf eine sehr transparente Art und Weise geführt wird. Diese Plattform würde zwei Hauptziele verfolgen:
- Auf eine verständliche Art und Weise erklären, wie die Wissenschaft grundsätzlich funktioniert. Das heisst, es könnte erklärt werden, wie Wissen generiert wird. Zudem wird erklärt, welche Methoden verwendet werden, um bestimmte Informationen zu erhalten und wie diese Informationen interpretiert werden. Weiter würde ausgeführt, wie Publikationen entstehen, welche Standards gelten (z.B. peer review) und was deren Funktion ist. Es soll aber auch ein kritisches Bild gezeichnet werden, welches zeigt, dass es nicht die Wissenschaft und schon gar nicht die Wahrheit gibt, und dass es auch in der Wissenschaft noch viel Verbesserungspotential gibt. Z.B. hoher Publikationsdurck (publish or perish) und der damit einhergehende Qualitätsverlust vieler Publikationen.
- Fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse und aktuelle wissenschaftliche Diskussionen einem breiten Publikum zugänglich machen. Zu den unterschiedlichsten politisch relevanten Themen (z.B. Klimawandel, Impfungen, Energie, Gentechnologie etc.) gibt es je ein Gremium, welches aus 21 Fachleuten besteht, welche mindestens ein Jahr auf dem entsprechenden Gebiet geforscht haben. Diese erklären auf eine allgemein verständliche Art und Weise die grundlegenden Fakten ihres Themengebiets. Die Erklärung soll grundlegende Informationen beinhalten, zusammen mit einer Beschreibung wie die Wissenschaft zu dieser Erkenntnis gelangt ist. Weiter wird ausgeführt, was aktuell diskutiert wird, bzw. bei welcher Fragestellung die Meinungen unterschiedlicher Wissenschaftler auseinandergehen. Diese unterschiedlichen Ansichten können von den entsprechenden Vertretern erläutert werden. Damit die Erläuterungen trotz hohem Informationsgehalt gut verdaulich sind, können Animationen und Videos erstellt werden, welche die wichtigsten Punkte unterstreichen.
Diese Plattform sollte Seriosität und Transparenz verkörpern. Um dies zu erreichen, muss sie der Komplexität wissenschaftlicher Themen gerecht werden; soll heissen, dass nicht nur grundlegende Fakten vermittelt werden, sondern der Leser/die Leserin in aktuelle wissenschaftliche Debatten eingeführt wird. Damit dies gelingen kann, ist es entscheidend, dass die Wissenschaften einen Weg finden, wie komplexe Sachverhalte klar und ohne unnötige Fachbegriffe dargelegt werden können. Mit der Frage wie dies gelingen kann, beschäftigt sich unter anderem Dr. Jean-luc Doumont [4][5].
Seriosität
Um einseitige Darstellungen zu vermeiden, ist es notwendig, dass eine genügend grosse Anzahl an Wissenschaftler/-innen in den Gremien vertreten sind. Um eine herausragende Qualität zu garantieren, gibt es zu jedem Thema je ein Gremium, bestehend aus 21 Wissenschaftler/-innen, welche mindestens ein Jahr auf dem entsprechenden Gebiet geforscht haben.
Wenn wir das Thema Klimawandel als Beispiel nehmen, würde die Zusammensetzung des Gremiums wie folgt aussehen:
- 7 Klimaphysiker/Klimatologen/Atmosphärenchemiker, deren Aufgabe es ist, die grundlegenden physikalischen und chemischen Aspekte des Klimawandels zu beleuchten. Weiter zeigen sie auf, wo zurzeit noch Unklarheiten bestehen (z.B. ob und wann Kipppunkte erreicht werden und falls ja, welche Konsequenzen dies mit sich bringen würde). Weiter schlagen sie Massnahmen vor, die aus ihrer Sicht getroffen werden müssten.
- 7 Ingenieur/-innen, die aufzeigen, was technisch schon möglich ist, und was technisch noch möglich sein wird, um CO2-neutral zu werden (Brennstoffzellen, Solaranlagen, Geothermie etc.). Weiter schlagen sie Massnahmen vor, die aus ihrer Sicht getroffen werden müssten, damit die benötigte Technologie weiterentwickelt (gegebenenfalls auch reguliert) wird und so schlussendlich zum Allgemeinwohl beitragen kann.
- 7 Wirtschaftswissenschaftler/-innen, deren Aufgabe es ist, die wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels sowie die Folgen verschiedener Massnahmen zu erläutern.
Finanzen
Die Internetplattform wäre aus meiner Sicht eine Dienstleistung des Staates, der dafür sorgen muss, dass es eine Plattform gibt, mit deren Hilfe sich die Bürgerinnen und Bürger sowie Politiker/-innen zu politisch wissenschaftlichen Themen jederzeit informieren können. Aus diesem Grund, und um Interessenkonflikte zu vermeiden, sollte ein fixer Betrag an Steuergeldern verwendet werden (beschlossen durchs Parlament) und keine Privatinvestoren involviert sein. All jene Wissenschaftler/-innen, die mit Texten, Animationen etc. etwas zu dieser Plattform beitragen, erhalten eine finanzielle Entschädigung, welche in weitere Forschungsarbeit investiert werden soll.
Transparenz
Um eine möglichst hohe Glaubwürdigkeit zu erreichen, muss die Plattform sehr transparent organisiert sein. Zu diesem Zweck werden alle Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit Bild und kurzem Lebenslauf vorgestellt und es wird erklärt, weshalb sie sich eignen, um über dieses Thema zu schreiben. Weiter wird klar deklariert, wie viel ein Autor/eine Autorin für das Schreiben der Texte erhält und in welchen Forschungsbereich die Entlöhnung investiert wird.
Welche konkreten Veränderungen braucht es dazu in Politik und Gesellschaft?
Die beste Wissenschaftskommunikation ist nutzlos, wenn sie nicht auf Resonanz in der Bevölkerung stösst. Es ist somit wichtig, dass ein Grundinteresse für Wissenschaften und komplexe Sachverhalte in der Gesellschaft existiert. Zurzeit ist dieses Interesse zwar vorhanden, aber aus meiner Sicht zu wenig stark verbreitet, was allerdings auf die eher schlechte Wissenschaftskommunikation als auf eine Ablehnung der Wissenschaften im Allgemeinen zurückzuführen ist. Laut dem Wissenschaftsbarometer vertraut die Schweizer Bevölkerung der Wissenschaft stark bis sehr stark [6].
Es ist wichtig, dass sich die Gesellschaft bewusst wird, dass eine direkte Demokratie nur funktionieren kann, wenn die Bevölkerung mit dem Fortschritt mithält. Geschieht dies nicht, bringt sie nicht die notwendigen Kompetenzen mit, um Entscheide mit Weitsicht zu treffen. Somit müsste man konsequenterweise die direkte Demokratie in eine repräsentative Demokratie umwandeln, da die Einflussnahme des Volkes nicht durch Kompetenzen gerechtfertigt wird.
Weiter sollte der Bevölkerung bewusst werden, dass mangelnder Einbezug der Wissenschaften radikalere politische Sichtweisen begünstigt, die auf komplexe Fragestellungen einfache Antworten bieten. Diese Antworten scheinen zwar die Probleme zu lösen, führen jedoch oft nicht zum Ziel und sind auch nicht in der Lage, Krisen zu lösen. Um zukünftige Krisen zu verhindern oder deren Auswirkungen zu minimieren, ist es deshalb wichtig, dass eine Politik verfolgt wird, die die Komplexität der Herausforderungen unserer Zeit anerkennt und lösungsorientiert und weitsichtig agiert. Dies kann gelingen, wenn die Wissenschaftskommunikation es schafft, dass die Gesellschaft als Ganzes bereit ist, mehr Zeit und Energie in wissenschaftliche Themen zu investieren.
Hinzu kommt, dass eine verantwortungsvolle Wissenschaftskommunikation nur gelingt, wenn sie auch vorgelebt wird. Das heisst, dass sich nicht nur die Einstellung der Bevölkerung ändern sollte, sondern auch, dass in politischen Diskussionen auf polemische Sprüche und massive Übertreibungen verzichtet wird und stattdessen ausschliesslich faktenbasiert argumentiert wird.
Welche Akteure und Organisationen müssen dabei mithelfen?
Die wichtigsten Akteure sind hier die Wissenschaften selbst. Sie müssen bereit sein, mehr Zeit in Öffentlichkeitsarbeit zu investieren und sich überlegen, wie man komplexe Sachverhalte am besten in ein allgemein verständliches Format bringt.
Ich denke, dass die Wissenschaften dazu willens sind, denn das Feld den Politiker/-innen oder selbsternannten Experten/-innen zu überlassen, die verschiedene wissenschaftliche Erkenntnisse leugnen oder als Verschwörungstheorie abstempeln und damit die Arbeit der Wissenschaften beleidigen, darf keine Option sein. Zudem erhalten die Wissenschaftler/-innen eine finanzielle Zuwendung, welche es ihnen ermöglicht, weitere Forschungsarbeiten zu realisieren.
Damit organisiert werden kann, welche Wissenschaftler/-innen zu welchen Themen Texte verfassen und welche Kriterien die Wissenschaftler/-innen im Einzelnen erfüllen müssen, sollte die Zusammensetzung der Gremien von einer Akademischen Gesellschaft wie etwa der Swiss Academy of Science [7] oder einer ähnlichen Organisation bestimmt werden. Wichtig ist, dass die Organisation von allen Seiten akzeptiert wird und ein Bindeglied zwischen Forschung, Politik und Gesellschaft darstellt.
Referenzen
Max Planck Society (2016): Gen-editing mit CRISPR/Cas9 (online unter: www.youtube.com/watch?v=ouXrsr7U8WI).
Quarks (2018): Neue Gentechnik: Forscher lieben die CRISPR/Cas Methode (online unter: www.youtube.com/watch?v=jI4egsX27-Q).
Terra X Lesch & Co (2017): Gott spielen dank CRISPR? (online unter: www.youtube.com/watch?v=EXERMOAIyUE).
CTL Stanford (2012): CTL Lecture «Communicating Science to Nonscientists» (online unter: www.youtube.com/watch?v=IFu3jaLmse0).
Principiae (online unter: www.principiae.be/X0000.php).
Wissenschaftsbarometer (online unter: www.wissenschaftsbarometer.ch).
Swiss Academy of Sciences (online unter: www.naturalsciences.ch/organisations/scnat).
Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.
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