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Stoppen wir lügende Politiker

Der führende AfD-Politiker Björn Höcke behauptet, dass das Reproduktionsverhalten der Afrikaner Europa bedrohe. Das ist nicht nur rassistisch, sondern auch wissenschaftlich unhaltbar.

«Die Länder Afrikas, sie brauchen die europäische Grenze, um zu einer ökologisch nachhaltigen Bevölkerungspolitik zu finden. […] In Afrika herrscht nämlich die sogenannte r-Strategie vor, die auf eine möglichst hohe Wachstumsrate abzielt. Dort dominiert der sogenannte Ausbreitungstyp. Und in Europa verfolgt man überwiegend die K-Strategie, die die Kapazität des Lebensraums optimal ausnutzen möchte. Hier lebt der Platzhaltertyp. Die Evolution hat Afrika und Europa vereinfacht gesagt zwei unterschiedliche Reproduktionsstrategien beschert – sehr gut nachvollziehbar für jeden Biologen.»

Wer spricht so? Björn Höcke, Gymnasiallehrer, verheiratet, Vater von vier Kindern (und damit nach seiner eigenen Definition ein r-Stratege) sowie Fraktions- und Parteivorsitzender der «Alternative für Deutschland» in Thüringen.

In einer kürzlich auf Youtube veröffentlichen Rede (mittlerweile auf «privat» gestellt) klärt er sein Publikum darüber auf, dass Europa endlich seine internationale Verantwortung wahrnehmen solle – und zwar indem es seine Grenzen schliesse: «Der Bevölkerungsüberschuss Afrikas beträgt etwa 30 Millionen Menschen im Jahr. Solange wir bereit sind, diesen Bevölkerungsüberschuss aufzunehmen, wird sich am Reproduktionsverhalten der Afrikaner nichts ändern.»

Denn – das wussten schon die bayrische Fürstin Gloria von Thurn und Taxis und die Schweizer Ecopopper – der Schwarze schnackselt gerne.

Doch beginnen wir von vorne.

K- und r-Strategen

Höcke bezieht sich bei seinen Ausführungen auf eine Theorie der beiden Ökologen Robert MacArthur und Edward Wilson, welche damit die Populationsdynamiken bei der Besiedlung von Inseln beschreiben wollten. Die (vereinfachte) Grundannahme: Eine Population wächst mit der Rate r, bis sie an ihre Kapazitätsgrenze K stösst.

Arthur und Wilson stellten nun die Hypothese auf, dass eine instabile Umwelt jene Arten bevorzuge, welche eine höhere Wachstumsrate r aufwiesen. Anders gesagt: Wenn Umweltkatastrophen häufig sind und damit stets das Risiko besteht, dass die Zahl der Individuen in kurzer Zeit stark dezimiert wird, dann sind jene Arten im Vorteil, welche ihre Population danach schnell vergrössern können, weil sie eine hohe Wachstumsrate aufweisen.

Wenn die Umweltbedingungen jedoch stabil sind, dann sind jene Arten im Vorteil, welche sich optimal an eben diese Bedingungen anpassen – und damit die Kapazitätsgrenze K ausweiten.

Der Biologe Eric Pianka führte diese Idee 1970 in seinem Paper «On r- and K-Selection» weiter aus und beschrieb eine Reihe von Eigenschaften, welche «r-selektierte» von «K-selektierten» Arten abgrenzen sollen:

Individuen von r-selektierten Arten würden sich eher schnell entwickeln, früh zur Fortpflanzung schreiten und dabei viele Nachkommen produzieren. Sie hätten überdies eine geringe Körpergrösse und würden früh sterben. Dem gegenüber stünden die K-selektierten Arten mit langsamer Entwicklung, später Fortpflanzung, geringer Nachkommenzahl, mächtigerem Körperbau und einem späten Ableben.

Eine Daumenregel – mehr nicht

Als grobe Daumenregel mögen die beschrieben Zusammenhänge eine gewisse Gültigkeit besitzen, aber als Erklärung für das Fortpflanzungsverhalten des Menschen taugt der r-/K-Ansatz nun wirklich nicht – zu gross sind die theoretischen Widersprüche und praktischen Mängel des Ansatzes.

Nilkrokodile legen beispielsweise eine grosse Anzahl an Eiern, wobei nur wenige Jungtiere tatsächlich schlüpfen und noch weniger das Erwachsenenalter erreichen – was eher für eine r-Selektion spricht. Auf der anderen Seite kümmern sich die Krokodile um ihren Nachwuchs und können bis zu 100 Jahre alt werden. Zudem werden sie erst nach mehr als einem Jahrzehnt geschlechtsreif – alles Eigenschaften, welche eher auf K-Selektion hindeuten.

Ähnliches gilt für Galapagos-Schildkröten: Diese werden ebenfalls sehr alt, sehr gross und legen zudem vergleichsweise wenige Eier (K-typisch). Auf der anderen Seite kümmern sich die Eltern nicht um ihre Nachkommen, und die Jungtiere sterben auch sehr häufig vor Erreichen des Erwachsenenalters (r-typisch).

Biologische Theorien und der Mensch

Doch selbst wenn wir für einmal annehmen, dass die r-/K-Theorie eine nützliche Beschreibung der Selektionsstrategien von Tieren sei, dann heisst das noch lange nicht, dass wir damit unterschiedliche Fortpflanzungsraten beim Menschen erklären können.

Erstens würde die r-/K-Theorie sämtliche Menschen als K-Strategen klassifizieren, schliesslich investiert kaum eine andere Art derart viel Zeit und Energie in die Erziehung des eigenen Nachwuchses – wobei es keine Rolle spielt, ob es sich bei den Eltern um Deutsche, Tansanier oder Chinesen handelt.

«Richtige» r-Strategen wie Fruchtfliegen legen hingegen hunderte von Eiern und suchen danach das Weite, ohne auch nur einen Gedanken an den Nachwuchs zu verschwenden. Demgegenüber ist selbst der grösste menschliche Rabenvater ein fürsorglicher K-Stratege.

Zweitens ist die Unterteilung in «europäische» und «afrikanische» Reproduktionsstrategien schlicht unhaltbar. Das würde nämlich bedingen, dass sich afrikanische und europäische Populationen klar voneinander abgrenzen liessen. Doch dazu sind wir uns – genetisch gesehen – schlicht zu ähnlich. Europa hat deshalb auch keine wie auch immer geartet «phylogenetisch vollständig nachvollziehbare» Reproduktionsstrategie, wie das Höcke behauptet.

Und drittens gibt es weitaus plausiblere Erklärungen, um unterschiedliche Geburtenraten in verschiedenen Ländern erklären zu können – beispielsweise Wohlstandsunterschiede.

Evolution ist kein bewusster Prozess

Und selbst wenn wir nun auch all diese Punkte ungeachtet lassen, macht Höcke einen ganz entscheidenden Denkfehler: Er geht davon aus, dass die r- oder K-Strategie eine bewusste Entscheidung der jeweiligen Individuen ist.

Damit offenbart er, dass er das Prinzip der Evolution nicht verstanden hat: Keine Art «entscheidet sich» für eine der beiden Strategien, um in der jeweiligen Umwelt bestehen zu können. Es ist gerade umgekehrt: Die Umwelt bestimmt, welche Strategie erfolgreich ist. Sie übt einen Selektionsdruck aus, welche jene Arten begünstigt, die aufgrund ihrer bisherigen evolutionären Geschichte gerade die beste Fortpflanzungsstrategie an den Tag legen.

Sollten die Afrikaner also tatsächlich eine andere «Reproduktionsstrategie» haben als die Europäer (was nicht der Fall ist), dann würden sie diese auch dann nicht ändern, wenn Deutschland seine Grenzen schlösse – zumal evolutionäre Selektionsmechanismen nur über mehrere Generationen hinweg ihre Wirkungen entfalten. Wenn Höcke in irgendeiner Weise die «evolutionäre Reproduktionsstrategie» der Afrikaner beeinflussen möchte, bräuchte es mindestens eine Grenzschliessung der tausendjährigen Art.

Weniger Empörung, mehr Fakten

Nun könnte man sich berechtigterweise fragen: Wieso sollte uns das Ganze kümmern? Handelt es sich dabei nicht bloss um die wirren Aussagen irgendeines deutschen Politikers, der im Biologieunterricht nicht genügend aufgepasst hat?

Das wäre verkürzt gedacht: Björn Höcke ist kein Dummkopf und er gibt sich auch nicht so. Er will mit seinen Aussagen gehört und ernst genommen werden. Und um das zu erreichen, bedient er sich des Deckmantels der Wissenschaft, um seinen verqueren Thesen zum Durchbruch zu verhelfen.

Das Problem liegt nicht darin, dass er ein Rassist ist. Das Problem liegt darin, dass er ein Rassist ist, der die Wissenschaft für seine Ideologie einspannen will – im Wissen darum, dass ein solches Vorgehen seine Aussagen stützt.

Es reicht deshalb nicht aus, ihn als Rassisten zu bezeichnen, denn auch die härteste Nazikeule zersplittert, wenn sie ununterbrochen zum Einsatz kommt. Und auch das feine Skalpell der Satire stumpft irgendwann ab, wenn es nicht mit Fakten nachgeschliffen wird.

Falsch in der Art, falsch in der Sache

Was wir inmitten von Empörung und Verhöhnung nicht vergessen dürfen: Nicht wenige Kommentarschreiber finden, dass «der Herr Höcke ja nur die Wahrheit sage».

Nein, das tut er eben nicht. Und genau das gilt es immer und immer wieder klarzustellen. Doch wenn sich niemand die Mühe macht, Höckes Thesen Aussage um Aussage auseinanderzunehmen und ihnen die harten Fakten der wissenschaftlichen Realität entgegenzusetzen, dann geht sein pseudowissenschaftliches Gerede einfach weiter.

Rassismus ist deshalb falsch und verachtenswert, weil er Menschen aufgrund willkürlicher Kriterien in unterschiedliche Wertekategorien einteilt. Wenn wir nun zulassen, dass die Vertreter solcher Kategorisierungen ungestraft die Wissenschaft zur Untermauerung ihrer Ansichten missbrauchen dürfen, dann untergraben wir damit langfristig die Wirksamkeit unserer Gegenargumente.

Damit das nicht geschehen kann, sind alle Beteiligten in der Pflicht. Einerseits müssen die Medien noch viel stärker als bisher dafür sorgen, dass Lügen also solche entlarvt und Falschaussagen gebrandmarkt werden. Fakten- und Realitätschecks sollten die Regel, nicht die Ausnahme sein. Das gilt nicht nur im vorliegenden Fall, sondern ganz generell.

Wenn Politiker ungestraft Unwahrheiten verbreiten können, ohne dass diese Unwahrheiten auch geahndet werden, dann verschaffen wir ihnen einen Freipass zum Lügen. Die Tatsache, dass die beiden republikanischen Präsidentschaftskandidaten in den USA, welche zurzeit den grössten Zuspruch geniessen, gleichzeitig auch die beiden Kandidaten sind, welche die meisten Lügen und Unwahrheiten verbreiten, spricht Bände.

Auf der anderen Seite braucht es aber auch mehr Engagement von Seiten der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Wenn in Zukunft irgendein Politiker von unterschiedlichen Fortpflanzungsstrategien zwischen Europäern und Afrikaner spricht, dann sollten sich nicht nur Rassismusexperten zu Wort melden, wie das im vorliegenden Fall geschehen ist. Ebenso müssten sich die Populationsbiologen in die Debatte einschalten und gnadenlos die fachlichen Fehler in Höckes Argumentation aufzeigen.

Ich gebe mich hier keinerlei Illusionen hin: Ein Höcke wird sich auch davon nicht überzeugen lassen. Aber vielleicht – nur vielleicht – muss ich in Zukunft einen Kommentar weniger lesen, der findet, dass der Höcke «in der Sache Recht hat». Nein, hat er nicht. Weder in der in der Sache, noch in der Art.

Dieser Artikel wurde ursprünglich am 12. Dezember 2015 auf dem Science-Blog von NZZ Campus veröffentlicht.

Autor*innen

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Präsidium, Fundraising

Servan Grüninger ist Mitgründer und Präsident von Reatch. Er hat sein Studium mit Politikwissenschaften und Recht begonnen und mit Biostatistik und Computational Science abgeschlossen. Zurzeit doktoriert er am Institut für Mathematik der Universität Zürich in Biostatistik. Weitere Informationen: www.servangrueninger.ch.

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