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Sind wir gefangen in Geschlechterrollen?

Stereotypes geschlechterspezifisches Verhalten muss nicht zwingend schlecht sein. Möchten wir uns aber von den Geschlechterrollen befreien und Gleichberechtigung der Geschlechter realisieren, tun wir gut daran, internalisierte Geschlechterrollen aufzudecken.

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Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Sommerakademie «Geschlecht, Geschlechtsrollenverhalten und gesellschaftliche Entwicklung» der Schweizerischen Studienstiftung und wurde redaktionell begleitet von reatch.

Gestern beim Fahrradfahren: mein Fahrrad müsste dringend wieder mal gepumpt werden. Wie mühsam! Zum Glück sehe ich bald meinen Freund, der mir helfen kann, das Rad zu pumpen. Kaum habe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, frage ich mich: Was ist da gerade passiert? Warum denke ich automatisch an meinen Freund? Ganz einfach, ich bin gerade in die Falle der Geschlechterrollenbilder getappt.

Geschlechterrollen prägen und bestimmen unser Verhalten im Alltag. Es scheint, als hätten wir die stereotypen Bilder derart internalisiert, dass wir oft nicht einmal merken, wenn unserem Verhalten ein internalisiertes Geschlechterrollenbild zugrunde liegt.

«Ich würde ja gerne mehr im Haushalt helfen, aber immer wenn ich die Küche sauber mache, wischt meine Frau nochmals nach.» Oder: «Wenn ich unserer Tochter beim Anziehen helfe und ihr grüne Socken anziehe, dann meint meine Frau, die roten würden besser zum Kleid passen.» Aussagen wie diese hört Markus Theunert, Generalsekretär des Dachverbands Schweizer Männer- und Väterorganisationen «männer.ch», in Gesprächen immer wieder. Resigniert berichten Männer, wie die von ihnen angebotene Hilfe im Haushalt von ihren Partnerinnen abgelehnt werde.

Die Macht der Stereotype

Offenbar haben auch Frauen das männliche Rollenbild so sehr verinnerlicht, dass sie ihrem eigenen Partner nicht zutrauen, die Kinder anzuziehen oder die Küche richtig zu putzen. Wenn Frauen Männer anweisen, wie sie «typisch weibliche» Aufgaben zu erledigen haben, tragen sie dazu bei, das eigene Rollenbild zu zementieren. Mehr noch, sie tragen – oft ohne sich dessen bewusst zu sein – auch dazu bei, das männliche Rollenbild zu reproduzieren.

Das Verhalten von Frauen und Männern ist also nicht nur durch die Internalisierung des eigenen «weiblichen» beziehungsweise «männlichen» Stereotyps geprägt, sondern auch durch die Internalisierung des jeweils anderen Geschlechterideals. Aber woher kommen diese geschlechtsspezifischen Rollenbilder? Und warum sind sie bis heute wirksam?

Ein ungeschriebenes Regelwerk für unser Verhalten

Um diese Fragen zu beantworten, kann der sogenannte «Habitus» herangezogen werden. Als Habitus definierte der französische Soziologe Pierre Bourdieu das «System von Dispositionen, die im Alltagsleben als Denk-, Wahrnehmungs-, und Beurteilungsschemata fungieren». Damit umfasst der Habitus unsere Einstellungen und Verhaltensweisen, mit denen wir uns in unseren Alltag strukturieren und uns darin zurechtfinden. Bourdieu sieht den Habitus als Resultat einer «Inkorporation von gesellschaftlichen Strukturen». Durch das soziale Umfeld, die Familie und die Medien lernen wir, wie wir uns in der Gesellschaft bewegen müssen und was von uns erwartet wird. Das so generierte System von Wahrnehmungs- und Denkmustern leitet unsere individuellen Handlungen wie ein unsichtbares Regelwerk an.

Das Besondere am Habitus ist, dass es sich um «strukturierte Strukturen» handelt, die gleichzeitig auch als «strukturierende Strukturen» wirken. Damit bringt Bourdieu die zwei Seiten des Habitus zum Ausdruck: Einerseits ist er ein Produkt der Vergangenheit und wird durch diese strukturiert. Andererseits prägt er unser Verhalten und unsere Wahrnehmung der Gegenwart und wirkt damit strukturierend. Wie zeigen sich diese zwei Seiten bei den Geschlechterrollen?

Historisch gewachsene Rollenbilder

Die Geschlechterrollen, die in unserem Habitus verwurzelt sind, finden ihren Ursprung in der Verbürgerlichung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Als Verbürgerlichung kann die Bildung des städtischen Mittelstandes (das Bürgertum) verstanden werden, zu der es im Zuge der Industrialisierung kam. Die Industrialisierung ermöglichte es einem grossen Teil der Bevölkerung, wirtschaftlich und sozial aufzusteigen. Anders als in der Ständegesellschaft definierte nicht mehr die Geburt das Lebensschicksal: durch Fleiss und Mühe konnte man es «zu etwas bringen» – zumindest als Mann.

Für Frauen war das anders. Als Frau war man vor allem Mutter und Ehefrau. Das änderte sich auch mit der Industrialisierung nicht. Im Gegenteil: Weil sich durch die Industrialisierung Erwerbs- und Privatleben räumlich trennten, wurden auch die typischen Tätigkeiten von Männern und Frauen zu scheinbar unvereinbaren Gegensätzen.

Zwar gab es auch in der vorindustriellen Zeit unterschiedliche Tätigkeiten für verschiedene Familienmitglieder, aber grundsätzlich halfen alle Familienmitglieder mit, den Lebensunterhalt zu finanzieren. Mit der Industrialisierung löste sich das sogenannte «Ganze Haus» auf und das Berufs- wurde vom Familienleben getrennt. Der Mann war für das Einkommen und alles, was sich ausserhalb des Hauses abspielte, verantwortlich. Die Frau bildete das Gegenstück zum Mann und war für den «ganzen Rest» zuständig. Sie kümmerte sich um alles, was innerhalb der eigenen vier Wände stattfand: den Haushalt, die Kinder und den Ehemann, der am Abend müde von der Arbeit heimkehrte.

Welche Arbeit ist wie viel wert?

Durch die klare, räumlich markierte Aufgabenteilung der Geschlechter erhielt Arbeit einen neuen Charakter. In der vorindustriellen Zeit wurde nicht wertend zwischen Erwerbs- und Hausarbeit unterschieden. Grundsätzlich galt jede Tätigkeit, die dem Lebensunterhalt diente als Arbeit. Dies änderte sich in der neuen kapitalistischen Welt: Neu galten nur noch Tätigkeiten, die entlohnt wurden, als Arbeit. Hausarbeit bedeutete «Liebe, Aufopferung, Aufgehen in den Bedürfnissen der Familie» und verlor den Charakter von Arbeit.

Diese Assoziierung der Geschlechter mit verschiedenen Aufgabenbereichen bedingte die Typisierung der «bürgerlichen» Geschlechterideale. Diese Ideale prägten sich in die Gesellschaft ein und sind bis heute wirksam: Der Mann als Vernunftwesen und die Frau als Gefühlswesen. Diese Ideale wurden nicht bloss durch die Arbeitsteilung im Alltag gepflegt, sondern durch biologische Erklärungen zusätzlich legitimiert.

Beispielsweise wurden Frauen ausdrücklich davor gewarnt Rad zu fahren, da die starke Erschütterung des Unterleibes zu Geburtskomplikationen und die beim Radeln eingenommene Haltung zu einem hässlichen Katzenbuckel führe. Solche Vorurteile und Angstvisionen schreckten viele Frauen ab. Gerade solches Verhalten zeigt, wie die Geschlechterrollen den Habitus der Menschen prägen und dieser wiederum zu deren Bekräftigung und Erhaltung führt.

Wer pumpt nun den Reifen?

Heute, gut 150 Jahre später, fahre ich zwar selbstverständlich Fahrrad. Dass ich aber automatisch davon ausgehe, dass Fahrradpumpen keine «weibliche» Tätigkeit sei und mein Freund das besser könne, zeigt, wie stark die bürgerlichen Geschlechterideale heute noch in unserem Habitus verwurzelt sind auch wenn sich die Umwelt stark verändert hat. Warum ist das so?

Die Ursache liegt in der Trägheit des Habitus. Durch Sozialisierung und Erziehung bleiben erworbene Einstellungen und Verhaltensweisen über die Zeit hinweg weitgehend stabil und leiten das individuelle Verhalten selbst dann noch an, wenn es eigentlich gar nicht mehr zur Umwelt passt.

Weil der Habitus so allgegenwärtig und selbstverständlich erscheint, geht teilweise vergessen, dass er nicht Schicksal, sondern Folge einer Gewohnheit ist. Einerseits prägt der Habitus, wie wir uns verhalten, andererseits formen wir den Habitus aktiv mit unserem Verhalten. Dass auch heute noch klare Vorstellungen darüber herrschen, was typisch männlich und was typisch weiblich ist, hängt damit zusammen, dass wir mit unserem Verhalten die bürgerlichen Geschlechterideale stets aufs Neue bestätigen und so über Generationen hinweg erhalten. Zum Beispiel, wenn Frauen ihre Männer anweisen, wie sie die Kinder anzuziehen oder die Küche zu putzen haben. Oder wenn ich das Fahrradpumpen automatisch meinem Freund überlasse.

Solche Verhaltensmuster können erklären, warum die vielen Bestrebungen, bestehende Geschlechterrollen aufzubrechen, nur bedingt erfolgreich sind. Möchten wir uns aus den bestehenden Geschlechterrollen befreien, müssen wir aktiv daran arbeiten, geschlechterspezifisches Verhalten aufzubrechen. Dies ist keine leichte Aufgabe, aber eine mögliche. Schwierig ist sie, weil die Geschlechterideale in unserem Habitus internalisiert sind und dadurch oft unbewusst und automatisch wirken. Möglich ist sie, weil sie durch unseren Habitus bedingt und nicht angeboren sind.

Am Sinnvollsten ist es hier, zunächst das eigene Verhalten zu hinterfragen. Wenn wir uns unseres eigenen geschlechterspezifischen Verhaltens bewusst sind, können wir versuchen etwas daran zu verändern. Aus diesem Grund werde ich jetzt in den Keller steigen und meine Fahrrad-Pumpe suchen.

Den Original-Beitrag gibt es hier zu lesen.

Dieser Beitrag ist in verkürzter Form bei higgs erschienen.

Quellen

[1] Bourdieu, Pierre (1978): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Aus dem Französischen von Cordula Pialoux und Bernd Schwibs. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[2] Joseph, Jurt. (2010): Die Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu. LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie, 5-17.

[3] Joris, Elisabeth/Witzig, Heidi (1987): Frauengeschichte(n). Zürich: Limmat Verlag.

[4] Maierhof, Gudrun/Schröder, Katinka (1992): Sie radeln wie ein Mann, Madame: Als die Frauen das Rad eroberten. Dortmund: Edition Ebersbach

[5] Müller, Hans-Peter (2014): Pierre Bourdieu. Eine Systematische Einführung. Berlin: Suhrkamp.


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Redaktion

Autor*innen

Lena Greil

Autor*in

Kommunikation Franxini-Projekt und PPS Team Basel

Lena ist Geförderte der Schweizerischen Studienstiftung und studiert in Basel im Master European Global Studies. Bei Reatch unterstützt sie die Kommunikation des Franxini-Projekts und wirkt beim Format «Pizza, Philosophy & Science» mit.

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