Das Projekt «Opfer sexualisierter Gewalt im Fokus» will einen Beitrag zur verbesserten Betreuung von Opfern sexualisierter Gewalt in der Schweiz leisten. Unsere Vision ist es, alle involvierten Stakeholder miteinander ins Gespräch zu bringen und zusammen wirkungsvolle Lösungen für die dringlichsten Probleme zu erarbeiten.
Foto: «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» 2021 von Nathalie Jufer, https://www.frieda.org/de
Dringender Handlungsbedarf wurde erkannt
Der Augenblick ist günstig, denn das Thema wird endlich auch im nationalen Parlament diskutiert. Im vergangenen Dezember hat der Nationalrat für die Revision des Sexualstrafrechts im Sinne einer “Ja ist Ja” Lösung gestimmt. Der Ständerat hingegen sprach sich im Januar für eine “Nein ist Nein” Lösung aus mit Zusatzklauseln. Bemerkenswert ist, dass zeitgleich zu dieser Diskussion über das im internationalen Vergleich veraltete schweizerische Sexualstrafrecht eng verknüpfte Themen debattiert werden. SP Nationalrätin Tamara Funiciello ist federführend und hat in Zusammenarbeit mit Ratskolleginnen über die Parteigrenzen hinweg im März 2023 einen Coup gelandet: Mittels drei Motionen, allesamt von beiden Kammern angenommen und nun an den Bundesrat weitergeleitet, soll die Betreuung von Opfern sexualisierter Gewalt über die Kantonsgrenzen hinweg verbessert werden. Konkret werden Massnahmen wie die Errichtung von Krisenzentren, die 24/7 Bereitschaft eines Nottelefons sowie Präventions- und Täterarbeit vorgeschlagen.
Der dringende Handlungsbedarf für die Verbesserung der Betreuung von Opfern sexualisierter Gewalt wurde somit national erkannt. Unter der Federführung von Bundesrätin Baume-Schneider soll dies in den kommenden Jahren auf höchster politischer Ebene umgesetzt werden. Unser Projekt siedelt sich nun an in der Befähigung der kantonalen Umsetzung der kommenden nationalen Beschlüssen - seien dies Gesetzesänderungen oder konkrete Aufträge zur Errichtung von Strukturen. In unseren Augen ist dies ein äusserst wichtiges Geschäft, da die Schweiz den Kriterien der im Jahr 2019 ratifizierten Istanbul Konvention (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) in erheblich vielen Punkten nicht gerecht wird und hierfür international angeprangert wird.
Kantone sollen proaktiv vorgehen
Das vorgesehene Massnahmenpaket wird wahrscheinlich den Vollzug zu einem wesentlichen Teil den Kantonen überlassen. Bis dieses Massnahmenpaket geschnürt ist, sollen die Kantone aber nicht passiv abwarten. Vielmehr sollten sie sich proaktiv vorbereiten, um eine möglichst effiziente und opferzentrierte Umsetzung der nationalen Vorgaben nach deren Beschluss gewährleisten zu können. Um dies zu erreichen, ist eine ganzheitliche und wissenschaftliche Betrachtung der Situation von Nöten, um abschätzen zu können, welche Massnahmen unter welchen Voraussetzungen und in welchen Kontexten griffig sein könnten. Als Beispiel: In einem Bergkanton wäre ein städtisches Krisenzentrum bezüglich der Zugänglichkeit für Opfer aus abgelegenen Tälern suboptimal. Solche Diskussionen müssen faktenbasiert diskutiert werden und dies bringt uns zu einer weiteren Kernaufgabe: Es erscheint uns von grosser Wichtigkeit, dass die schwache Datenlage rund um das Thema sexualisierte Gewalt verbessert wird – eine Aufgabe, die frühstmöglich angegangen werden muss, um auf eingangs erwähnter Faktenbasis zwischen verschiedenen umsetzbaren Massnahmen entscheiden zu können.
Interdisziplinäres Team
In diesem Momentum wollen wir einen Mehrwert leisten. Im Rahmen unseres Projektes treten wir – ein interdisziplinäres Team junger Fachpersonen aus Medizin, Rechtswissenschaften, Ökonomie und Politikwissenschaften – mit den verschiedensten Stakeholdern in Kontakt: Ärzteschaft, Opferhilfe, Polizei, Fachpersonen der Rechtsprechung, Politiker*innen und auch ehemalige Opfer, welche Auskunft geben über ihren (Irr-)weg durch die verschiedensten Institutionen im Status Quo. Das Projekt ist dreigeteilt: Zuerst werden Stakeholder-Interviews geführt, um herauszufinden, wie die Betreuungslage von Opfern sexualisierter Gewalt in der Praxis aussieht. Probleme und Stärken des Systems werden so unilateral identifiziert und laufend im Team besprochen. Im zweiten Schritt ist ein offener Austausch zwischen involvierten Stakeholdern geplant, bei welchem diese – für viele zum ersten Mal – miteinander in Kontakt treten. An der Veranstaltung sollen, auf Basis der identifizierten Hürden der Interviewphase und unter unserer Moderation, konkrete und konstruktive Lösungsansätze ausgearbeitet werden. Die Resultate aus der ersten (Stakeholder-Interview) und zweiten (Veranstaltung) Phase werden anschliessend im dritten Schritt in Form eines White Papers festgehalten. Dieses White Paper wird öffentlich publiziert und soll insbesondere kantonalen Politiker*innen für politische Diskussionen und die Ausarbeitung von Gesetzen auf kantonaler Ebene dienen.
Aufgrund unseres interdisziplinären Hintergrunds und der starken Verbindung zur Wissenschaft können wir eine analytische und problemorientierte Arbeit gewährleisten. Durch die Begleitung unseres Projektes vom Franxini Innovation Hub (vom Think-Tank Reatch) können wir von dessen Netzwerk profitieren, bei gleichzeitiger Unabhängigkeit – dies im Gegensatz zu staatlichen oder berufsverbandsnahen Organisationen.
Mit viel Enthusiasmus, Kreativität, kritischer Analyse und offener Interdisziplinarität sind wir sechs mitten auf der Reise, dieses Projekt voranzubringen. Gerade befinden wir uns im fliessenden Übergang zwischen Phase eins und zwei. Wir sind gespannt auf die Veranstaltung, welche am 4. Juli stattfinden wird, und freuen uns dann auch, alle Erkenntnisse im White Paper zu kondensieren - stay tuned, ihr werdet im Frühherbst von uns hören!
Die rechtliche Regelung der Opferhilfe
Erster Anhaltspunkt für die rechtliche Regelung der Opferhilfe in der Schweiz ist die Bundesverfassung. Sie bestimmt, dass Bund und Kantone zusammen angemessene Hilfe für Opfer von Straftaten bereitstellen. Grundsätzlich verfolgt die Norm hier einem bewährten Vorgehen: Der Bund gibt die Regeln vor, in unserem Fall mit dem Opferhilfegesetz, und die Kantone vollziehen diese Regeln. Einschränkend zu diesem Prinzip gilt vorliegend jedoch, dass auch den Kantonen Raum für eigenständige Aufgaben gelassen werden müssen. Das erklärt nun zumindest teilweise, dass die Behandlung von Opfern sexueller Gewalt zwischen verschiedenen Kantonen sehr unterschiedlich sein kann. Im Unglücksfall auch schlechter.
Rahel Schmidt hat mit ihrem Projekt "Vergewaltigungsopfer im Fokus" den Reatch Ideenwettbewerb 2022 gewonnen. Der Reatch Ideenwettbewerb hat das Ziel, konkrete Ideen und Ansätze zu entwickeln, um die Krisen von heute und morgen zu meistern. Die Umsetzung der Idee von Rahel Schmidt wird nun vom Franxini-Projekt gefördert. Dieses Projekt fördert eine Gesellschaft, in der Akteure aus Wissenschaften und Politik zusammenarbeiten, um gesellschaftliche Herausforderungen effektiv zu bewältigen.
Der Ideenwettbewerb wurde u.a. unterstützt durch die Stiftung Mercator Schweiz, die Gebert Rüf Stiftung und den Schweizerischen Nationalfonds (SNF).
Das Franxini-Projekt wird unterstützt von einer Reihe von renommierten Persönlichkeiten aus Wissenschaften, Politik und Gesellschaft und wird gefördert von der Stiftung Mercator, der Gebert Rüf Stiftung, der cogito foundation, der Universität Zürich, dem ETH Rat, der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz und weiteren Partnern.
Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.
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