Schweiz

Schweizer Nachhaltigkeit auf dem Prüfstand

Das Bundesamt für Statistik verschafft mehr Klarheit in Sachen Nachhaltigkeit mit dem Indikatorensystem MONET 2030. Ist die Schweiz bei der Erreichung der Nachhaltigkeitsziele auf einem guten Weg?

Bevor wir der Schweizer Nachhaltigkeit auf den Zahn fühlen, steht zunächst die Frage im Raum: Was bedeutet Nachhaltigkeit überhaupt? Die Zahl nebeneinander existierender Ansätze zur Nachhaltigkeit zeigt, dass es bis heute an einer einheitlichen und klaren Begriffsbestimmung mangelt. Konstrukte werden teilweise synonym verwendet und deren inhaltliche Verbindung oder Abgrenzung bleibt unklar. So werden beispielsweise ökologische Bemühungen als «Nachhaltigkeitsinitiativen» bezeichnet, obwohl dazu streng genommen zusätzlich soziale und ökonomische Anstrengungen nötig wären. Denn transdiziplinär sind WissenschaftlerInnen übereingekommen: Für eine nachhaltige Entwicklung ist nicht nur die Bewahrung natürlicher Ressourcen ausschlaggebend; es braucht auch eine leistungsfähige Wirtschaft und ein lebenswertes soziales Umfeld. Die drei Dimensionen Gesellschaft, Umwelt und Wirtschaft sind eng miteinander verknüpft, wobei die Schnittstellen als auch die Wechselwirkungen von grosser Bedeutung sind.

Für eine praxisbezogene Umsetzung der Nachhaltigkeit folgen gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Akteure mehrheitlich den Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030. Mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDG) haben die Vereinten Nationen 17 übergeordnete Ziele definiert, welche runtergebrochen auf einzelne Massnahmen bzw. Indikatoren erhoben werden können. Dadurch lässt sich ein Fortschritt, Rückschritt oder Stillstand hinsichtlich der Zielverfolgung in den drei Dimensionen der Nachhaltigkeit messbar machen.

MONET 2030 [1], das vom Bundesamt für Statistik konzipierte Indikatorensystem, umfasst 100 dieser Indikatoren. 100 Parameter wurden definiert, die zusammengenommen das umfangreiche Konstrukt Nachhaltigkeit für die Schweiz messbar machen. Welche Indikatoren bzw. Parameter bestimmt werden, hängt jeweils vom Projektziel, aber auch von der Machbarkeit ab. Eine vollumfängliche Messung mit allen erdenklichen Aspekten der nachhaltigen Entwicklung ist nicht möglich. Deshalb werden repräsentativ Indikatoren herausgearbeitet, die datenbasiert die gestellte Frage beantworten. Ausserdem muss aus praktischen Gründen bedacht werden, welche Daten vorhanden sind, welche erhoben werden können und zu welchem Zeitpunkt. Können mehrere Messzeitpunkte zur Zeitreihenanalyse herangezogen werden? Liegen Vergleichsdaten oder eine Baseline vor? Können die Daten extrapoliert werden? Muss eine Messung erst noch eingeführt werden? Themenspezifisch für die Schweiz hat das Bundesamt für Statistik von den 100 Parametern 23 Schlüsselindikatoren festgelegt und den SDGs zugeordnet, die nachfolgend aufgeschlüsselt sind und einen guten Überblick erlauben, wie weit die Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 in der Schweiz fortgeschritten ist.

SDG 1: Keine Armut

Insgesamt leben in der Schweiz rund 8% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Das Konzept der Armutsgrenze basiert auf dem Existenzminimum. 2019 betrug die durchschnittliche Armutsgrenze 2’259 Franken (Einzelperson) bzw. 3’990 Franken (2 Erwachsene, 2 Kinder) pro Monat. Ab 2007 (9.30%) bis 2013 (5.88%) liess sich ein negativer Trend feststellen, jedoch steigen die Zahlen seit 2014 (6.66%) bereits wieder etwas an [2].

SDG 2: Kein Hunger

Früchte und Gemüse sind ein wichtiger Bestandteil einer gesunden Ernährung. Über 20% der Schweizer Bevölkerung konsumieren mindestens fünf Portionen Früchte und Gemüse pro Tag. Ob sich daraus ein positiver Trend ableiten lässt, werden zukünftige Erhebungen zeigen [3].

Der von der Schweizer Landwirtschaft erzeugte Stickstoffüberschuss hat seit 1990 (134.4 Tsd. Tonnen) kontinuierlich abgenommen (2017: 99.6 Tsd. Tonnen). Somit wird ein Beitrag zur Verringerung des ökologischen Fussabdrucks geleistet [4].

SDG 3: Gesundheit und Wohlergehen

Die altersstandardisierte Rate der verlorenen potenziellen Lebensjahre auf 100’000 Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz nimmt weiter ab. Die Abnahme frühzeitiger Todesfälle weist auf eine positive Entwicklung des gesamtgesellschaftlichen Gesundheitszustands hin [5].

SDG 4: Hochwertige Bildung

Die Lesefähigkeit der 15-Jährigen hält sich seit dem Jahr 2000 stabil bei rund 80%. Das heisst, dass 80% der Schülerinnen und Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit über Lesefähigkeiten verfügen, die zur Bewältigung des modernen Lebensalltags mindestens erforderlich sind [6].

SDG 5: Geschlechtergleichheit

Mit rund 15% ist der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern in der Schweiz nach wie vor beträchtlich. Jedoch ist dieser Unterschied kontinuierlich rückläufig (1994: 23.79%) [7].

Erste Zahlen lassen darauf deuten, dass es pro Jahr 100 polizeilich registrierte Opfer von schwerster physischer häuslicher Gewalt gibt. Diese Zahlen sind zum jetzigen Zeitpunkt allerdings nicht qualifizierbar [8].

SDG 6: Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen

Der Anteil an Messstationen, bei denen die erfasste Nitratkonzentration im Grundwasser über den gesetzlich festgelegten Bestimmungen (25 mg/l) liegt, hat bisher nicht bedeutend abgenommen. 2002 lag der Anteil bei 15.41% und 2017 bei 11.38% [9].

SDG 7: Bezahlbare und saubere Energie

Heutzutage werden in der Schweiz rund 23% (1990: 15.84%) des Energieverbrauchs aus erneuerbaren Energien gewonnen. Durch die Reduktion fossiler Energien zugunsten erneuerbarer Energie wird die nachhaltige Entwicklung gefördert [10].

SDG 8: Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum

Die Arbeitsproduktivität der Schweiz, gemessen nach dem Verhältnis zwischen Bruttowertschöpfung und Arbeitsstunden, ist seit 1991 (100) kontinuierlich gesteigert worden und liegt nun bei 136 [11].

Positiv im Sinne der nachhaltigen Entwicklung lässt sich ein Rückgang an nichterwerbstätigen Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren feststellen. Im Jahr 2018 sind 6% der Jugendlichen nicht erwerbstätig und absolvieren auch keine Aus- oder Weiterbildung [12].

SDG 9: Industrie, Innovation und Infrastruktur

Die Rohstoffmenge, die pro volkswirtschaftlich erwirtschafteten Franken verbraucht wurde, ist bis 2016 auf 85 gesunken. Somit ist der inländische Rohstoffverbrauch im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt ganz im Sinne der nachhaltigen Entwicklung zurückgegangen [13].

Aufwendungen für Forschung und Entwicklung sind weiter angestiegen. Im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt wurden 2017 3.4% (1996: 2.5%) in Forschung und Entwicklung der Schweiz investiert, wodurch ein innovationsförderndes Umfeld geschaffen und die Wettbewerbsfähigkeit gesteigert wird [14].

SDG 10: Weniger Ungleichheiten

In der Verteilung der verfügbaren Äquivalenzeinkommen lässt sich keine bedeutende Veränderung feststellen. Das verfügbare Einkommen der einkommensreichsten 20% der Schweizer Bevölkerung ist rund 5-mal grösser als dasjenige der einkommensschwächsten 20% der Bevölkerung [15].

Aus Ländern mit mittleren Einkommen werden rund 80% der eingeführten Güter (ohne Kriegsmaterial) in die Schweiz zollfrei importiert. Bei Ländern mit niedrigem Einkommen waren es 2017 etwa 95% und bei den am wenigsten entwickelten Ländern liegt der Anteil bei gerundet 85% [16].

SDG 11: Nachhaltige Städte und Gemeinden

Der Anteil der Wohnkosten (inkl. Nebenkosten) am Bruttohaushaltseinkommen hat sich in der Schweiz nicht wesentlich geändert und liegt zwischen 30-10% [17].

SDG 12: Verantwortungsvoller Konsum und Produktion

Negativ im Hinblick der nachhaltigen Entwicklung lässt sich feststellen, dass die Gesamtmenge verursachter Siedlungsabfälle auf 6 Millionen Tonnen angestiegen ist (1980: 2.83 mio. Tonnen) [18].

SDG 13: Massnahmen zum Klimaschutz

Obwohl die jährlich ausgestossene Menge Treibhausgase in der Schweiz ganz leicht rückläufig ist, wird das angestrebte Nachhaltigkeitsziel für 2030 (43 Mio. Tonnen) vielleicht nicht erfüllt werden. 2017 wurden 47 Millionen Tonnen Treibhausgasemissionen gemessen (1990: 54 Mio. Tonnen) [19].

SDG 14: Leben unter Wasser

Die Gesamt-Stickstofffracht im Rhein bei Basel ist seit 1977 (67.0 tsd. Tonnen) zugunsten der nachhaltigen Entwicklung rückläufig. Im Jahr 2017 gelangen durch menschliche und landwirtschaftliche Aktivitäten rund 41 tausend Tonnen Stickstofffracht in die Fliessgewässer [20].

SDG 15: Leben an Land

Der Anteil an versiegelten Flächen an der Gesamtfläche hat in der Schweiz von 3.60% auf 4.65% zugenommen. Die Bodenversiegelung trägt nicht zur Zielverfolgung der nachhaltigen Entwicklung bei [21].

Die Brutvogelbestände sind seit 1990 um die Hälfte geschrumpft. Durch die Reduktion der Bestandsveränderung der Brutvögel, die auf der Roten Liste verzeichnet sind, nimmt die Biodiversität der Schweiz ab, was einer nachhaltigen Entwicklung widerspricht [22].

SDG 16: Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen

Durchschnittlich sind Gewaltdelikte in der Schweiz rückläufig. 2018 wurden 935 polizeilich registrierte Opfer von vollendeten schweren Gewaltdelikten gemeldet. 2009 waren es noch 1'067 Fälle [23].

SDG 17: Partnerschaften zur Erreichung der Ziele

Die öffentliche Entwicklungshilfe im Verhältnis zum Bruttonationaleinkommen hat seit 1990 (0.28%) bis 2018 (0.44%) zugenommen, wodurch sich ein positiver Trend hinsichtlich des Nachhaltigkeitszieles feststellen lässt [24].

Die aufgeführten 23 Messeinheiten stehen stellvertretend für die 100 erhobenen Indikatoren des Systems MONET 2030, welche die Nachhaltigkeit der Schweiz abbilden. Insgesamt weisen 47% der Indikatoren auf eine positive nachhaltige Entwicklung der Schweiz hin. Bei einigen Punkten besteht jedoch Luft nach oben und andere Indikatoren müssen erst noch festgelegt werden. Die Vermessung von Nachhaltigkeit ist ein stetiger Entwicklungsprozess. Er hängt in erster Linie von der Zielsetzung, den vorliegenden Daten und möglichen Erhebungen ab.

Vergleichbar zur Datenerhebung des Bundesamtes für Statistik lassen sich Indikatoren bestimmen, welche die Nachhaltigkeit eines Unternehmens, einer Institution, einer Wohngemeinschaft und vieles mehr verifizieren. Zunächst müssen die Parameter festgelegt werden, die das übergeordnete Ziel der nachhaltigen Entwicklung messbar machen. In einem zweiten Schritt werden die entsprechenden Daten erhoben, um so Stärken und Mängel fassen zu können. Die Wirksamkeit des Nachhaltigkeitsengagements ist nicht nur ein blosses Gefühl, sondern lässt sich in konkreten Zahlen überprüfen.

Referenzen

[1]

Bundesamt für Statistik (2020): MONET 2030 (https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/nachhaltige-entwicklung/monet-2030.html, abgerufen am 13.07.2020)

[4]

Bundesamt für Statistik (2020): Stockstoffbilanz der Landwirtschaft (https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/nachhaltige-entwicklung/monet-2030/alle-nach-themen/2-hunger/stickstoffbilanz-landwirtschaft.html, abgerufen am 13.07.2020)

[6]

Bundesamt für Statistik (2020): Lesefähigkeit der 15-Jährigen (https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/nachhaltige-entwicklung/monet-2030/alle-nach-themen/4-bildung/lesefaehigkeit-15-jaehrigen.html, abgerufen am 13.07.2020)

[16]

Bundesamt für Statistik (2020): Zollfreie Importe aus Entwicklungsländern (https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/nachhaltige-entwicklung/monet-2030/alle-nach-themen/10-ungleichheiten/zollfreie-importe-entwicklungslaender.html, abgerufen am 13.07.2020)

Autor*innen

Friederike Vinzenz promovierte 2019 an der Universität Zürich in Medienpsychologie und Medienwirkung im Bereich Nachhaltigkeitskommunikation. Sie ist externe Lehrbeauftragte der Universität Zürich und gründete 2020 RoomFor, das für eine umfangreiche, individuell zugeschnittene und hochstehende wissenschaftliche Begleitung steht.

Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.

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