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Opfer sexualisierter Gewalt im Fokus: Mit dem Protokoll «KONZIL / COINVITAL» zu einer holistischen Betreuung und Begleitung von Opfern

Das Franxini Innovation Hub Projekt «Opfer sexualisierter Gewalt im Fokus» hat zum Ziel, die Betreuung von Opfern sexualisierter Gewalt in der Schweiz systematisch zu verbessern. Nicht nur die rechtlichen Grundlagen müssen überarbeitet, sondern auch die aktuellen Abläufe in der Betreuung von Opfern sexualisierter Gewalt müssen überdacht werden. Mit dem Protokoll «KONZIL/COINVITAL» wird nun eine holistische Betreuung und Begleitung vorgeschlagen, welches aktuelle Herausforderungen angeht und als Grundlage für die Umsetzung von Massnahmen in den Kantonen dienen kann.

Zusammenfassung

Auf die Reform des Sexualstrafrechts 2022/23 folgten wichtige parlamentarische Vorstösse, um die Betreuung von Opfern sexualisierter Gewalt in der ganzen Schweiz zu verbessern. Der dringende Handlungsbedarf in diesem Bereich ist national erkannt, die Umsetzung von Massnahmen liegt nun in der Verantwortung der Kantone. Dabei ist zentral, dass über die Kantonsgrenzen hinweg die Qualität der Betreuung sichergestellt wird. Denn das mangelnde Vertrauen der Opfer in die Anlaufstellen verschärft die traumatisierende Erfahrung von sexualisierter Gewalt: Wenn eine Person Hilfe sucht, muss sie aktuell mit unterschiedlichsten Fachpersonen und Anlaufstellen Kontakt aufnehmen und sich selbst um die einzelnen Konsultationen kümmern. Dabei fallen Erfahrungen mit Polizei, Justiz, Opferhilfestelle und Medizin sehr unterschiedlich aus.

In Stakeholder-Interviews und einem «Franxini Fireside Chat» mit Vertreter*innen aus Wissenschaften, Politik, Verwaltung, Medizin, Wirtschaft und Zivilgesellschaft wurden neben der beschriebenen unzureichenden Zusammenarbeit der Betreuungsakteur*innen weitere Schwachstellen identifiziert: fehlende Aus- und Weiterbildung der involvierten Fachpersonen, fehlende Daten für eine evidenzbasierte Betreuung der Opfer und eine unzureichende Sensibilisierung der Gesellschaft. Dazu kommt, dass die Betreuung und Begleitung von Opfern momentan primär auf erwachsene weibliche Personen ausgerichtet ist. Männliche, nicht-binäre sowie minderjährige Personen werden als Ausnahme betrachtet und entsprechend sind die Fachstellen nicht oder nur begrenzt auf deren Behandlung und Begleitung vorbereitet. Das heisst, nicht nur die rechtlichen Grundlagen müssen verbessert, sondern auch die aktuellen Abläufe in der Betreuung von Opfern sexualisierter Gewalt sowohl in wie auch zwischen den Anlaufstellen und Akteur*innen müssen überdacht werden.

Hier setzt das Projekt «Opfer sexualisierter Gewalt im Fokus» an: Das Opfer benötigt eine Begleitung über den gesamten Aufarbeitungs-und Behandlungsprozess von spezifisch ausgebildetem Personal und nicht lediglich einzelne Konsultationen in spezialisierten Fachbereichen. Mit dem holistischen Protokoll «KONZIL/COINVITAL» wird eine Betreuung vorgeschlagen, die in Zukunft konsequent opferzentriert ist, um die Betroffenen bei der Selbstermächtigung zu unterstützen und Vertrauen zu schaffen: klar geregelte, evidenzbasierte Abläufe stellen die Koordination zwischen den Betreuungsakteur*innen sicher und bieten einen niederschwelligen Zugang für das Opfer.

5 Kernherausforderungen

  • Fehlendes Vertrauen in die betreuenden und involvierten Akteur*innen
  • Fehlende Zusammenarbeit zwischen den Akteur*innen und die damit verbundene Verantwortungsdiffusion
  • Ungenügende Kompetenz durch fehlende Weiterbildung, z.B. bei der Spurensicherung und der Gesprächsführung mit dem Opfer
  • Schlechte Datenlage rund um das Thema sexualisierte Gewalt in der Schweiz
  • Eine falsch informierte Gesellschaft: Vergewaltigungsmythen behindern eine optimale Betreuung

Das Protokoll «KONZIL/COINVITAL»

Das Protokoll schlägt eine holistische Betreuung und Begleitung von Opfern vor und richtet sich an folgenden Grundsätzen aus:

  • Kollaborativ: Die im Prozess involvierten Akteur*innen arbeiten zusammen und koordinieren.
  • Opferzentriert: Ziel des gesamten Prozesses ist es immer, die Situation des Opfers zu verbessern sowie das Vertrauen von betroffenen Personen und der breiten Bevölkerung in die Institutionen zu stärken.
  • Niederschwellig: Die Hürden für den Eintritt in den Prozess müssen so niedrig wie möglich gehalten werden. Das Opfer darf nicht davor abgeschreckt werden, sich die benötigte Hilfe zu holen.
  • Zeitflexibel: Der Eintritt in den Prozess soll nicht nur direkt nach dem Vorfall, sondern jederzeit nach der Viktimisierung möglich sein, selbst wenn dies Schwierigkeiten bezüglich der Spurensicherung birgt. Insbesondere das verzögerte Einschlagen des Rechtsweges soll durch die längere Aufbewahrung von Beweisen ermöglicht werden.
  • Individuell: Die einzelnen Schritte des Prozesses und der Gesamtprozess müssen so weit flexibel sein, dass auf die individuellen Bedürfnisse jedes Opfers bestmöglich eingegangen werden kann.
  • Langfristig: Das Opfer soll nicht nur ambulant und kurzfristig betreut werden, sondern, wenn gewünscht, auch Anschluss an längerfristige (psychologische) Betreuung erhalten.

Änderungen und Verbesserungen sind an mehreren Stellen gleichzeitig notwendig. Es gilt nun für alle relevanten Akteur*innen, das Momentum der Reform des Sexualstrafrechts zu nutzen, um Massnahmen in den Kantonen anzugehen. Dabei gilt:

  • Die Opferbetreuung nach der Erfahrung sexualisierter Gewalt muss als ein Gesamtbetreuungsprozess konzipiert werden.
  • Eine Koordination zwischen den einzelnen Betreuungsakteur*innen ist zwingend notwendig und sollte nicht Aufgabe des Opfers sein. Die einzelnen Akteur*innen müssen sich ihrer Kompetenzen und Verantwortlichkeiten innerhalb des Gesamtbetreuungsprozesses bewusst sein.
  • Alle Akteur*innen brauchen Grundkenntnisse von Psychotraumatologie und der juristischen Rahmenbedingungen: Nur wenn alle für den Betreuungsprozess relevanten Akteur*innen sexualisierte Gewalt und ihre Auswirkungen verstehen, kann die Qualität der Betreuung sichergestellt werden.

Dies ermöglicht nicht nur, eine qualitativ hochstehende Betreuung der Betroffenen sicherzustellen, sondern fördert auch das Vertrauen in die betreuenden Akteur*innen.

Grundlage für dieses Whitepaper waren Stakeholder-Interviews und ein «Franxini Fireside Chat» mit Vertreter*innen aus Wissenschaften, Politik, Verwaltung, Medizin, Wirtschaft und Zivilgesellschaft im Rahmen des Innovation Hub Projektes «Opfer sexualisierter Gewalt im Fokus» vom Verein Reatch. Das Verfassen des Whitepapers und die Entwicklung von konkreten Lösungsvorschlägen oblag der Verantwortung und Entscheidungskompetenz der beteiligten Autor*innen unter der Leitung von Rahel Schmidt.

Am «Franxini Fireside Chat» nahmen folgende 14 Vertreter*innen aus der Politik, der Wirtschaft, der Hochschulen und der Verwaltung teil: Prof. Dr. rer. pol. Dirk Baier (Institutsleiter für Delinquenz und Kriminalprävention ZHAW), Barbara Dettwiler (Leiterin Opferhilfe Vista Thun und Lantana Bern), Dr. med. Gian Erni (Leitender Arzt Notfall Spital Sursee), Dr. med. Susanne Fasler (Leitende Ärztin Frauenklinik und Leiterin Ambulatorium Frauenklinik Kantonsspital Aarau), Prof. Dr. iur. em. Marianne Heer (ehemalige Oberrichterin Luzern), Valeria Kägi (Studiengangsleiterin Forensic Nurse UZH), Cindy Kronenberg (ehemaliges Opfer und Aktivistin), Dr. phil. Melanie Nussbaumer (Grossrätin Basel-Stadt), Dr. med. Emanuel Plüss (Leitender Arzt Notfallzentrum Spital Solothurn), Silvia Rigoni (Kantonsrätin Zürich), Dr. iur. Peter Rüegger (Strafverfolgungsexperte und Opferberatung, goldbach law), Jasmin Sangiorgio (Bundesamt für Justiz, Direktionsbereich Öffentliches Recht), Prof. Dr. iur. Brigitte Tag (Professorin für Strafrecht UZH), Eva Zimmermann (Psychotherapeutin Psychotraumatologie).

Für die Stakeholder-Interviews wurden Gespräche mit folgenden Personen geführt: Prof. Dr. rer. pol. Dirk Baier (Institutsleiter für Delinquenz und Kriminalprävention ZHAW), Dr. med. Lamyae Benzakour (Leitende Ärztin und Leiterin der Psychiatrischen Dienste der Psychiatrie Unispital Genf), Cindy Kronenberger (ehemaliges Opfer und Aktivistin), Barbara Dettwiler (Leiterin Opferhilfe Vista Thun und Lantana Bern), Christoph Erdös (Anwalt im Opferhilferecht), Simone Eggler (Politische Arbeit bei BRAVA), Tamara Funiciello (Nationalrätin), Prof. Dr. med. Maria Luisa Gasparri (Oberärztin mit Leitungsfunktion Tessiner Kantonsspital), Prof. Dr. iur. em. Marianne Heer (ehemalige Oberrichterin Luzern), Valeria Kägi (Studiengangsleiterin Forensic Nurse UZH), Agota Lavoyer (Opferhilfeberaterin und Expertin sexualisierte Gewalt), Simona Materni (Kampagnenleiterin «Sexual Harassment Awareness Day»), Dr. phil. Melanie Nussbaumer (Grossrätin Basel-Stadt), Dr. med. Emanuel Plüss (Leitender Arzt Notfall Spital Solothurn), Silvia Rigoni (Kantonsrätin Zürich), Anna-Béatrice Schmaltz (Gemeinderätin Zürich), Prof. Dr. iur. Brigitte Tag (Professorin für Strafrecht UZH), Prof. Dr. med. Michael Thali (Leiter Institut für Rechtsmedizin UZH), Linda De Ventura (Kantonsrätin Schaffhausen), Anonym (ehemaliges Opfer), Anonym (Polizist), Anonym (ehemaliges Opfer).

Der Text spiegelt nicht zwingend die Meinung der einzelnen Teilnehmenden wider.

Foto: «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» 2021 von Nathalie Jufer, https://www.frieda.org/de

Autor*innen

Autor*in

Dipl. Ärztin mit MSc Humanmedizin Università della Svizzera Italiana und BSc ETH Zürich, Initiantin und Leiterin des Projekts, Host vom Fireside-Chat und verantwortlich für den Abschlussbericht. Fasziniert vom Schnittpunkt Medizin-Wissenschaften-Gesellschaft-Politik.

Autor*in

MLaw UZH UNIL. Projekt-Ressort Rechtswissenschaften, speziell juristische Rahmenbedingungen und Konsequenzen. Begeistert von der Gestaltungswirkung des Rechts.

Janina Inauen

Autor*in

Masterstudentin Comparative and International Studies, ETH Zürich. Projekt-Ressort Politikwissenschaften und Protokoll-Entwicklung. Enthusiastisch über inklusive und deliberative Politikformate.

Leon Guggenheim

Autor*in

MSc Humanmedizin Università della Svizzera Italiana und BSc ETH Zürich. Projekt-Ressort Medizin und wissenschaftliche Aufarbeitung der Datenlage und der geforderten Massnahmen. Interessiert an stichhaltigen Ergebnissen in der Medizin, wie auch für die Gesellschaft.

Fabienne Odermatt

Autor*in

Finanzen / Entwicklung

MSc Internationale Zusammenarbeit und Entwicklung (Unige / SOAS / ETH Zürich), Sozialunternehmerin und Partizipationsexpertin. Projekt-Ressort Sozialwissenschaften, insbesondere gesellschaftlicher Kontext. Brennt für den Aufbau und Ausbau von sozialen Innovationen. Spezialisiert in Fundraising, Entwicklung von Programmen, M&E und systemverändernden Prozessen.

Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.

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