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Open Science: Die Demokratisierung der Wissenschaft darf nicht Science Fiction werden

Trotz einer Demokratisierung der Massenkommunikation ist die öffentliche Wahrnehmung der Forschung durch private Organisationen gesteuert, welche den Zugang zu oft aus öffentlicher Hand finanzierten Studien kontrolliert. Die Schweiz, als bedeutende wissenschaftliche Nation, sollte deshalb eine Vorreiterrolle in der Förderung von Open Science übernehmen.

Dieser Text ist im Rahmen des Reatch Ideenwettbewerbs 2023 entstanden. 2023 war ein besonderes Jahr für die Schweiz: Wir feierten 175 Jahre Bundesverfassung und damit 175 Jahre Schweizer Bundesstaat. Das nahmen wir zum Anlass, um nach Ideen für die Zukunft der Schweiz zu suchen. Welche Weichen müssen wir heute stellen, damit im Jahr 2198 die Menschen mit dem gleichen Stolz auf 2023 zurückblicken, wie wir heute auf die Entwicklungen seit 1848? Eine Auswahl der eingereichten Ideen wird auf www.reatch.ch veröffentlicht.

Science-Fiction reflektiert seit über 175 Jahren die ethischen und philosophischen Fragen des wissenschaftlichen Fortschritts und unterstreicht immer wieder das Argument, dass die Konzentration von Wissen in wenigen Händen oft zu einem Desaster führt. Genauso ist in Anbetracht realer globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel eine Demokratisierung des Zugangs zu Forschung für die internationale Zusammenarbeit zentral. Beides ist als Appell an die Wissenschaft zu verstehen: Erkenntnisse sollten gemäss Open Science Prinzipien der Allgemeinheit zur Verfügung stehen. Trotz einer Demokratisierung der Massenkommunikation ist die öffentliche Wahrnehmung der Forschung durch private Organisationen gesteuert, welche den Zugang zu oft aus öffentlicher Hand finanzierten Studien kontrolliert. Die Schweiz, als bedeutende wissenschaftliche Nation, sollte deshalb eine Vorreiterrolle in der Förderung von Open Science übernehmen. Eine solche Bewegung verspricht nicht nur eine Steigerung von Transparenz und Kollaboration in der wissenschaftlichen Gemeinschaft, sondern auch eine Stärkung des Vertrauens der Öffentlichkeit und die Gestaltung einer gerechteren, aufgeklärten und vernetzten Welt.

Die historische Rolle von Science Fiction

Die Geschichte der Science-Fiction, die vor 175 Jahren mit Werken wie Mary Shelley's "Frankenstein" begann, diente stets als Spiegelbild für unsere Beziehung zur Wissenschaft. Das Genre dient dem kollektiven Zeitgeist bis heute, die philosophischen und ethischen Implikationen von wissenschaftlichen Durchbrüchen zu verarbeiten. Wie Shelley selbst sagte: «Nichts ist für den menschlichen Geist so schmerzhaft wie eine grosse und plötzliche Veränderung». Und noch nie war die Menschheit diversen immer schneller werdenden und weitreichenden Wandeln unterworfen, wie heute. (Brantlinger, 1980)

Reaktionen auf diese «grossen Veränderungen» haben sich im Laufe der Zeit verändert, geformt von den individuellen technologischen Fortschritten und den damit verbundenen gesellschaftlichen Perspektiven. Shelley's "Frankenstein" war eine Reaktion auf die Fortschritte in der Elektrizität und Biologie. Das Buch warnte vor den möglichen Konsequenzen, wenn der Mensch mit dem Gedanken spielt, Gott zu spielen. Es stellte Fragen nach der Ethik und der Verantwortung der Wissenschaft. Heute ist die Idee, das Herz des Menschen mit Elektrizität wieder Tag für Tag zum Schlagen zu bringen Realität

Zwischen Optimismus und Nihilismus

Im späten 19. Jahrhundert wurden mit Jules Verne's Werken wie "20.000 Meilen unter dem Meer" die grenzenlosen Möglichkeiten der Wissenschaft gefeiert. Diese Werke vermittelten den Optimismus einer Ära, in der technologische Durchbrüche und Entdeckungsreisen Hand in Hand gingen.

Im 20. Jahrhundert reflektierte die Science-Fiction die sich wandelnde Beziehung zur Wissenschaft. H.G. Wells' "Krieg der Welten" spiegelte die Ängste vor einer Invasion und der Erkenntnis wider, dass die Menschheit möglicherweise nicht das mächtigste Wesen im Universum ist. Nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und den nuklearen Katastrophen entstanden dystopische Werke wie Aldous Huxleys "Schöne neue Welt" und Ray Bradburys "Fahrenheit 451". Sie warnten nicht nur vor der Entmenschlichung durch Fortschritt, sondern auch davor, dass der Zugang zu Wissen und Lernen nicht in die Hände undemokratischer Mächte fallen darf.

Von Cyberpunk hin zu post-apokalyptischen Weltanschauungen

Mit dem Aufstieg der Informationstechnologie in den 1980er Jahren kam das Subgenre Cyberpunk ins Rampenlicht. "Neuromancer" von William Gibson und ähnliche Werke vermittelten eine Mischung aus Faszination und Beklemmung angesichts einer digitalen Zukunft. Sie verkörperten die Sorgen einer Generation, die sich mit Fragen von Transhumanismus und der Verschmelzung von Daten und Bewusstsein auseinandersetzte. Erneut sind es aber die Mächte, welche Informationen aus den Händen der Leute halten wollen, welche den Missbrauch derselben überhaupt ermöglichen.

Aktuelle post-apokalyptische Werke, wie "The Road" von Cormac McCarthy, reflektieren unsere tiefsten Ängste im Angesicht globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel. Sie mahnen uns, dass wir, wenn wir nicht handeln, schon bald am Rande des Abgrunds stehen werden. In eine ähnliche Argumentationslogik, aber mit einem stärkeren Fokus auf die Gefahren der technologischen Entwicklungen für die Menschheit, baut Yuval Harari’s “Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen” auf. Er ist auch einer der über 1000 Autoren, die sich im März 2023 für erhöhte Vorsicht bei der weiteren Entwicklung von KIs wie beispielsweise ChatGPT eingesetzt hatten, da dies ohne klare Regeln und ohne die Einbeziehung der Öffentlichkeit zu einer Gefahr für die Menschheit werden könnte (Welt, 2023).

Die Rolle der Schweiz in der globalen Wissensgenerierung

Inmitten dieser literarischen Reflexionen steht die Schweiz: Der Geburtsort des Werkes und der fiktionalen Familie Frankenstein. Ein Land, das seit jeher eine zentrale Rolle in der wissenschaftlichen Gemeinschaft spielt, könnte eine Vorreiterrolle spielen bei der Demokratisierung der Wissenschaft.

Viele schweizerische Erfindungen sind sowohl zentrale Bestandteile vieler Science Fiction Geschichten als auch ein Beispiel für den Triumph des offenen Datenaustausches. Die Erfindung des World Wide Webs in Genf am CERN war getrieben von dem Bedürfnis, Forschungsdaten schneller und international zur Verfügung zu stellen. In vielen Science Fiction Büchern ist das Internet, Cyberspace oder andere globale Netze ein zentraler Bestandteil der Welt. Von “Neuromancer” zu “Snowcrash”, bis hin zum "Three Body Problem" ist es die Kontrolle des Internets in den Händen weniger mächtiger Antagonisten, welche die Handlung treiben. Unser World Wide Web ist ebenfalls auf dem Weg dahin. Daten werden von den Massen gesammelt und in “walled gardens” verstaut. Allerdings kann sowohl die Wissenschaft als auch die Schweiz dieser Entwicklung noch entgegenwirken.

Mit Ausgaben von 3.4 % des Bruttoinlandsprodukts (EU-Schnitt liegt bei 2.1%) in die Forschung (Bundesamt für Statistik, 2023) belegt die Schweiz laut dem Global Innovation Index 2023 weltweit den ersten Rang hinsichtlich der Innovationskraft (World Intellectual Property Organization, 2023). Als Heimat zahlreicher internationaler wissenschaftlicher Institutionen, wie beispielsweise das CERN, trägt die Schweiz eine besondere Verantwortung. Mehr denn je sollte diese Rolle darin bestehen, den freien und unbeschränkten Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen zu fördern. Das traditionelle Modell, in dem wissenschaftliche Arbeiten oft hinter den Paywalls grosser Verlage verborgen sind, hemmt die Verbreitung des Wissens und steht im Widerspruch zu den Grundsätzen der wissenschaftlichen Gemeinschaft.

Wissensfreiheit für alle: Die Bedeutung von Open Science in einer vernetzten Welt

In einem Zeitalter, in dem Informationen leicht zugänglich sind und Literatur in Sekundenschnelle geteilt werden kann, muss wissenschaftliche Literatur genauso einfach zugänglich und verbreitbar sein. Das aktuelle System, in dem profitorientierte Verlage und restriktive Urheberrechtspraktiken dominieren, muss reformiert werden zugunsten eines Open-Access-Systems, in dem Wissen für alle frei verfügbar ist. Dies würde nicht nur die Transparenz und Zusammenarbeit in der wissenschaftlichen Gemeinschaft erhöhen, sondern auch das Vertrauen in die Wissenschaft stärken.

Es gibt bereits erste (globale) Initiativen, die Open-Access leben und unterstützen. Dazu zählt die Public Library of Science (PLOS), welche mit dem expliziten Ziel erschaffen wurde, die Barrieren zwischen Forschenden und Lesern komplett aufzulösen (Chenette, 2021). Doch auch Organisationen wie «Creative Commons» oder «Wikipedia» welche sich schon seit über zwanzig Jahren für die flexible Kontrolle von Schaffenden über Ihre Werke einsetzen, sind ein zentraler Bestandteil eines modernen Wissenschaftsverständnisses (Plotkin, 2002).

Eine Reform hin zu einer stärkeren Open-Science-Kultur kann wesentlich dazu beitragen, das Misstrauen gegenüber der Wissenschaft in der Bevölkerung abzubauen. Erstens ermöglicht ein offener Zugang zu Forschungsergebnissen eine transparente und nachvollziehbare Präsentation wissenschaftlicher Erkenntnisse. Wenn Forschungsdaten, Methoden und Ergebnisse öffentlich zugänglich sind, können sowohl Fachleute als auch Laien die Gültigkeit und Relevanz der Forschung überprüfen. Diese Transparenz beseitigt die Schatten des Zweifels, die oft durch intransparente Forschungspraktiken entstehen und können auch hilfreich sein im Kampf gegen FakeNews und Desinformationen.

Zweitens fördert Open Science die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen und geografischen Standorten. Ein solches kollaboratives Umfeld kann Innovationen beschleunigen und die Qualität der Forschung verbessern. Wenn Forscher ihre Ergebnisse und Daten teilen, entsteht ein Umfeld des Vertrauens und der gegenseitigen Unterstützung. Dies wiederum kann zu einer positiveren öffentlichen Wahrnehmung der wissenschaftlichen Gemeinschaft führen.

Drittens, wenn Wissenschaftler ihre Arbeit frei zugänglich machen können, sind sie motivierter, ihre Erkenntnisse zu verbreiten und zu teilen. Sie wissen, dass ihre Arbeit ein breiteres Publikum erreichen und grössere Auswirkungen haben kann, was zu mehr Anerkennung und Engagement führt. Dies könnte indirekt dazu führen, dass die Wissenschaftskommunikation professionalisiert wird und Forschungserkenntnisse so präsentiert werden, dass sie auch außerhalb von Expertengruppen leichter verständlich sind. Für die breite Öffentlichkeit bedeutet dies einen leichteren Zugang zu aktueller und qualitativ hochwertiger Forschung, wodurch das Bild der Wissenschaft als exklusives und schwer verständliches Feld aufgelöst wird. Das Ergebnis ist eine Bevölkerung, die besser informiert ist und der Wissenschaft mehr vertraut. Insgesamt kann eine Bewegung hin zu Open Science dazu beitragen, die Kluft zwischen der wissenschaftlichen Gemeinschaft und der allgemeinen Öffentlichkeit zu überbrücken.

Es ist an der Zeit, dass wir gemeinsam handeln. Die Wissenschaft allein kann die grossen Herausforderungen unserer Zeit zwar nicht allein lösen, aber sie kann - und muss - ein Schlüsselakteur sein. Indem wir auf unsere ethischen Grundwerte zurückgreifen und die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft stärken, können wir eine neue Ära des Optimismus einläuten. Eine Ära, in der die Wissenschaft nicht als Bedrohung, sondern als Hoffnungsträger gesehen wird. Die Schweiz hat die Möglichkeit, an vorderster Front dieses Wandels zu stehen. Swissuniversities (2017) setzt sich schon seit Jahren für Open Science ein, aber die entsprechenden politischen Rahmenbedingungen sollten entschlossener gesetzt werden. Wissenschaftliche Erkenntnisse, welche mit Steuergeldern mitfinanziert wurden, sollten ausschliesslich unter eine Open Access Lizenz veröffentlich werden.

Schlussbemerkungen

In einer Welt, die sich ständig verändert und von ständiger Unsicherheit geprägt ist, kann und sollte Wissenschaft ein Leuchtfeuer der Klarheit und Richtung sein. Die Bemühungen um eine transparentere, offene und zugängliche Wissenschaft sind nicht nur notwendig, sondern essenziell, um das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen und den Wissensdurst kommender Generationen zu stillen. In dieser Neugestaltung der wissenschaftlichen Landschaft kann die Schweiz die Führung übernehmen und ein Vorzeigemodell für andere Nationen sein.

Die Investition in Open Science ist eine Investition in die Zukunft - eine, die eine gerechtere, aufgeklärtere und vernetzte Welt verspricht. Es ist an uns, diesen Weg entschlossen zu beschreiten und die nächste Seite in der Geschichte der Wissenschaft zu schreiben. Keine dystopische Science Fiction, wo Erkenntnis hinter Mauern gehalten wird, sondern eine Gemeinschaft, in der Wissen mit allen geteilt wird und davon alle profitieren.

Quellen

Brantlinger, P. (1980). The Gothic Origins of Science Fiction. NOVEL. A Forum on Fiction. 14, 1. p. 30-43

Bundesamt für Statistik (2023). Forschung und Entwicklung in der Schweiz 2021, Finanzen und Personal, Neuchâtel: BFS. Chenette, Emily. (2021). Fifteen Years of PLOS ONE. PLOS Blogs. Online unter: https://everyone.plos.org/2021...

Plotkin, Hal. (2002). All Hail Creative Commons / Stanford professor and author Lawrence Lessig plans a legal insurrection. Special to SF Gate. Online unter: https://www.sfgate.com/news/ar...

Swissuniversities (2017). Nationale Open-Access-Strategie für die Schweiz, Aktionsplan, Bern: Swissuniversities.

Welt (2023). Elon Musk und 1000 Tech-Experten fordern Pause bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz, online unter: https://www.welt.de/wissenschaft/roboter/article244562658/Elon-Musk-und-1000-Tech-Experten-fordern-Pause-bei-der-Entwicklung-kuenstlicher-Intelligenz.html

World Intellectual Property Organization (WIPO) (2023). Global Innovation Index 2023: Innovation in the face of uncertainty. Geneva: WIPO. DOI:10.34667/tind.48220

Autor*innen

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Dr. Florian Gasser ist der Program Manager des Masters in Marketing Management und Dozent an der Universität St. Gallen. Zusätzlich ist er externer Dozent an der Freien Universität Bozen. Seine Forschung fokussiert sich auf das Kundenverhalten in den sozialen Medien, bei Nachhaltigkeits- und Tourismusentscheidungen sowie auf technologische Entwicklungen wie KI und Robotik und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft. Zudem ist er Preisträger des DGT-ITB-Wissenschaftspreises 2024.

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Dr. Mauro Gotsch ist Forscher und Dozent am Institut für Tourismus und Freizeit (ITF) an der Fachhochschule Graubünden. Seine Forschungs- und Industriekooperationen konzentrieren sich auf Datenstrategien und andere Herausforderungen der digitalen Transformation in der Tourismusbranche. Zudem unterrichtet er Konsumentenverhalten und Forschungsmethoden an der Fachhochschule Graubünden.

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