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Notfallstation - Zwischen Normalität und Extremen

Weisse Kittel wehen hinter gehetzten Schritten durch die Gänge, im Hintergrund übertönen knallende Helikopterrotoren gerade die Sirenen einer ausfahrenden Sanität. In der Luft liegt eine generelle Anspannung – und der beissende Duft von Desinfektionsmittel. Es werden Brüche gegipst und Spritzen gesetzt, das leichte Stöhnen aus einer Kabine vermischt sich mit den Tönen eines hitzigen Telefongesprächs – ein alltägliches Erscheinungsbild auf der Notfallstation.

In etwa so habe ich mir das zumindest vorgestellt. Doch wie sieht es wirklich hinter den Kulissen aus? Was für eine Atmosphäre herrscht tatsächlich? Und inwiefern manifestieren sich hier womöglich auch grössere gesellschaftliche Thematiken?

Drei Tage auf der Notfallstation sollen Klarheit schaffen – oder zumindest einen ersten Eindruck vermitteln.

Das Herz des Geschehens

Es ist kurz vor 15:00 Uhr als ich die Notfallstation betrete. Die Security führt mich vorbei an Empfang und wenig besetztem Wartezimmer direkt zum Herzstück der Station, dem sogenannten „Stützpunkt“. Hier laufen alle Informationen zusammen und erscheinen als Textfelder auf Monitoren oder als Piepstöne im Hintergrund. Die Patientenzimmer sind in rechteckiger Form um den Stützpunkt angelegt. Während der Pandemie sei die Personalküche zu einem zusätzlichen Zimmer umfunktioniert worden, wird mir erklärt, zudem stehen nun vier weitere Betten im Korridor. Corona hat hier Spuren hinterlassen – und man möchte gewappnet bleiben.

Als ich den Stützpunkt betrete ist gerade Schichtwechsel. Patientendaten werden ausgetauscht und weitere Vorgehen besprochen. Das Ganze geht konzentriert und professionell vonstatten, dennoch ist die Stimmung gelassen und ruhig. Die Routine ist regelrecht spürbar – eine Erkenntnis, die mich während des ganzen Aufenthalts begleiten wird.

Sogleich beginnt eine erste Untersuchung: Eine aus der Hand geglittene Motorsäge hat den Fuss eines jungen Waldarbeiters unglücklich getroffen. Die daraus resultierende Schnittwunde ist beträchtlich, hat aber grosse Blutgefässe verschont und ist somit ungefährlich. „Glück im Unglück“, bestätigt der gefasste Patient, und darf das Spital 14 Nadelstiche später wieder verlassen. Wie andere angesichts einer solchen unschönen Verletzung wohl reagiert hätten? Oder ich selbst? Schmerzempfinden sei extrem subjektiv, erklärt mir die Ärztin, genau wie die Persönlichkeiten der Patienten und Patientinnen auch – eine der ganz grossen Herausforderungen im jeweiligen Umgang.

Von Ressourcen und Technologie

Ansonsten verläuft der Tag eher ruhig. Die überwiegende Mehrheit der Kojen von betagten Personen besetzt, nicht selten mit mehreren Erkrankungen gleichzeitig – man spricht von Multimorbidität. Dies macht die Fälle zusätzlich komplex. Eine Behandlung, die ein Leiden lindert, verstärkt möglicherweise ein anderes. Bei der ersten Triage sind solche Phänomene allerdings noch nicht abschätzbar. Hier geht es darum, innert Minuten abzuschätzen, wie gefährlich ein Beschwerden ist. Score 1 steht für akute Lebensgefahr, bei einer 5 kann Wartezeit in Kauf genommen werden.

Ein solche Einteilung soll den möglichst effizienten Ressourceneinsatz gewährleisten. Zeit und Personal sind begrenzt, entsprechend kann nicht jeder Fall gleich schnell behandelt werden. Dies, so wird mir klar, macht den Alltag hier auf dem Notfall besonders aus. Ständig müssen Situationen gegeneinander abgewogen und Prioritäten gesetzt werden. Das Vorziehen einer Person führt zu verlängertem Leiden einer anderen. Dies macht viele Entscheide zur schwierigen Abwägung – und das alles unter Zeitdruck.

Ein nächster Fall ruft: Ein älterer Herr mit plötzlich aufgetretenem Schwindel. Score 2. Die zwei Ärzte suchen bei ihren vielseitigen Untersuchungen nach etwas Bestimmtem, den sogenannten „Red Flags“. Gemeint sind damit Anzeichen einer Hochrisikosituation, die eine Person sofort in Lebensgefahr bringen könnte – in diesem Fall ein Hirnschlag, also einer hochgefährlichen Verstopfung eines Gefässes im Gehirn. Um die Red Flag auschliessen zu können, braucht es moderne Technologie. Röntgen, Ultraschall oder Computertomographie gehören zu den meistgenutzten Hilfsmittel auf der Notfallstation. Im Fall unseres Patienten zeigt das CT-Bild jedoch keine Auffälligkeiten. Der Schwindel hat andere, weniger akute Ursachen, für deren Untersuchung nun mehr Zeit bleibt.

Abgestürzt

Tag 2 beginnt mit einem Paukenschlag. Gleichzeitig mit mir trifft folgende knapp gehaltene Meldung ein: Junge Patientin, Sturz aus zwei Metern Höhe, direkt in den Schockraum.

Der Schockraum ist der grösste und am besten ausgerüstete Raum der ganzen Station. Hier finden sich ausschliesslich die bedrohlichen Fälle wieder; auch Stürze aus grosser Höhe gehören hier dazu. Die Organisation im Schockraum ist noch strikter, die Aufgaben noch enger zugeteilt, jede Vorgehensweise klar definiert. In der lebensbedrohlichen Situation kann man sich keine verlorenen Sekunden leisten, jeder Handgriff muss zwingend sitzen.

Die junge Frau schwebt glücklicherweise nicht in akuter Lebensgefahr. Dennoch sind die Schmerzen stark und selbst das ungeübte Auge erkennt, dass ein gesunder linker Arm anderes auszusehen hat; wo der Ellbogen sein sollte hat es eine Delle, dafür eine Beule mitten am Unterarm. Ein unschönes Bild. Und doch ist der Arm offenbar nicht der erste Grund zur Sorge für die gerade eingetretene Ärztin. Ein derartiger Sturz birgt andere Gefahren – diese müssen zuallererst ausgeschlossen werden. Schmerzen auf der Wirbelsäule? Nicht vorhanden. Verletzungen oder Schmerzen am Kopf? Ebenfalls negativ. Grosser Blutverlust? Nein. Es scheint tatsächlich nur eine isolierte Verletzung des Armes vorzuliegen – ein gutes Zeichen.

Nun muss ein Röntgenbild her. Dieses zeigt den Ursprung des Übels: Ober- und Unterarmknochen haben Kontakt verloren, das Gelenk ist luxiert, also ausgerenkt. Der Kontakt muss wieder hergestellt werden. Das Mittel dazu scheint rudimentär, ist äusserst schmerzhaft und unschön anzusehen, aber effektiv. Das Gelenk muss von Hand eingerenkt, „reponiert“ werden. Die Patientin bekommt davon glücklicherweise nicht viel mit. Starke Schmerz- und Beruhigungsmittel haben Wirkung gezeigt. Nach erfolgreicher Reposition sind die Schmerzen dann auch sofort deutlich schwächer. Ich bin beeindruckt. Es folgen Gips und Kontrollröntgen, dann wird die Frau entlassen.

Ein erfreuliches Beispiel, wie ein Leiden schnell und vergleichsweise einfach behoben werden kann. So habe ich mir Notfallmedizin in erster Linie vorgestellt. Dieses Bild bleibt jedoch ein seltenes. Insbesondere bei langandauernden, chronischen Erkrankungen, so scheint es mir, ist der Weg steiniger. Schmerzen halten an, Funktionen bleiben beeinträchtigt und über Ursachen kann nur spekuliert werden. Dies scheinen die wirklich schwierigen Fälle zu sein, und ich habe diese in solchem Ausmass nicht erwartet. Gebrochene Glieder und ungestillte Blutmengen spielen hier in aller Regel nur eine Nebenrolle – es sind die unsichtbaren, leisen Dinge, die dem Personal wirkliches Kopfzerbrechen bereiten.

Leise Gefahren

Anschaulich dafür der letzte Fall, den ich hier noch miterleben darf. Es ist einer, der mir im Kopf bleiben wird. Ein einziges, simples Wort beschreibt die Symptomatik bei Eintritt: Dyspnoe – eine erschwerte Atmung. Ein sehr unspezifisches Anzeichen. Mögliche Ursachen reichen von Stress über raucherbedingte Lungenprobleme bis zu Hirnschlag. Die ältere Dame wird zur Sicherheit in den Schockraum gebracht bis gefährliche Ursachen hoffentlich ausgeschlossen sind.

Als erstes wird Blut entnommen und ein EKG (Elektrokardiogramm) gemacht, beides gleichermassen einfache wie nützliche Hilfsmittel. Ein Blutbild erlaubt einen direkten Blick in das Innenleben des Körpers. Bei Schädigungen von Leber, Herz oder Muskeln sind entsprechende Nachweise im Blut möglich. Gleiches gilt für Entzündungen. Wertvollste Informationen erscheinen so innert kürzester Zeit ausgedruckt auf einem kleinen Stück Papier. Eine riesige Unterstützung – und deshalb absoluter Standard bei einer grossen Mehrheit der Patienten.

Für das EKG werden einige Elektroden aufgeklebt und die Herzstromkurve aufgezeichnet. Das Resultat macht die Ärztin stutzig, es sind offenbar Auffälligkeiten sichtbar. Eine Red Flag. Bei einer Herzproblematik könnte das Ganze sehr schnell sehr gefährlich werden. Nach wie vor könnte die Lunge aber ebenso Ursache sein – schliesslich leidet die Frau an Atemnot. Ein CT-Bild soll Klarheit schaffen. Und so wird das Bett in Richtung Radiologie gestossen.

Minuten später kommt die Patientin zurückgefahren. Es zeigt sich nun ein ganz anderes Bild. Nicht gewohnt gemächlich, sondern schnell und zielgerichtet wird die Liege zurück in den Schockraum gestossen. Die Haut der Frau ist bleich geworden und sie schnappt nun hörbar nach Luft. Schweiss bildet sich auf der kalten Haut und die Frau klagt über einen stechenden Schmerz im Brustbereich. Die Symptome lassen nun keinen Zweifel mehr übrig. Myokardinfarkt – ein herzversorgendes Gefäss ist verstopft. Die Pumpleistung des Herzens ist schwächer und schwächer geworden. Dadurch hat sich das Blut vor dem Herzen angestaut, Flüssigkeit tritt ins Gewebe über und wirkt wie eine Barriere zwischen der sauerstoffreichen Atemluft in der Lunge und den darumliegenden Blutgefässen. Der Sauerstoff kann nun nicht mehr richtig ins Blut übertreten, das Atmen fällt einem schwer: Dyspnoe.

Der Zustand der Patientin ist nun kritisch. Man spricht von Dekompensation – einer plötzlichen und rapiden Verschlechterung des Zustandes. Der Körper versucht nun mit allen Mitteln, die lebenswichtigen Funktionen aufrechtzuerhalten. Das Herz schlägt schwach, muss zum Ausgleich also schneller schlagen. Der Puls rast auf über 130 Schläge pro Minute. Der Kreislauf zentralisiert – alles Blut wird aus den Armen und Beinen zurückgezogen und versorgt nun nur die Organe. Die Beine werden noch kälter und nehmen ein gräuliche Farbe an.

Mit gleicher Energie versucht das Schockraumteam, den Körper bei seinen Anstrengungen zu unterstützen. Mit Medikamenten und Sauerstoff soll der Zustand stabilisiert werden. Denn das Ursprungsproblem, das verstopfte Herzgefäss, lässt sich hier nicht lösen. Dazu wäre ein sogenannter Herzkatheter nötig. Unter ständiger Durchleuchtung stösst man ein Kabel durch ein Blutgefäss bis ins Herz und versucht, den Pfropf zu durchbrechen. Ein aufwändiges sowie teures Unterfangen und deshalb nicht im Angebot jedes Spitals. Die Patientin muss also in ein grosses Zentrum verlegt werden. Und das ist nur in einigermassen stabilem Zustand möglich.

Plötzlich stoppt der Herzschlag. Sofort beginnt die Reanimation. Mit repetitivem Druck aufs Brustbein soll der Kreislauf aufrecht erhalten werden bis das Herz einen eigenen Rhythmus findet . Das gelingt tatsächlich. Vorerst zumindest. Die Patientin wird auf die Sanitätsliege verschoben, alles ist bereit für den Transport. Doch wieder versagt das Herz. Erneut wird reanimiert. Es ist still geworden im Raum. Anweisungen sind überflüssig, Geduld ist jetzt gefragt – und Durchhaltevermögen. 10 Minuten vergehen. Keine Herzaktivität messbar. 15 Minuten.

Wie lange ist eine Wiederbelebung noch realistisch? Der Teamleader hat dies einzuschätzen. Nur er kann über einen Reanimationsabbruch verfügen – eine Entscheidung, um die ihn hier drin wohl niemand beneidet. Glücklicherweise muss er sie nicht treffen, denn wie aus dem Nichts zeigt der Monitor wieder Aktivität. Eine erfolgreiche Verlegung scheint wieder in Reichweite. Unter Blaulicht und Sirene fährt die Ambulanz aus.

Der Transport ist ein Wagnis, die Überlebenschancen stehen wohl eher schlecht als recht. Bessere Alternativen gab es schlicht nicht. Dies wird in der anschliessenden Besprechung auch so festgehalten. Ansonsten haben die Abläufe gestimmt, reflektieren die meisten das Geschehen. Dann verlassen wir den Schockraum – der Alltag ruft.

Fazit

Reichen drei Tage für einen ganzheitlichen Eindruck in einem derart komplexen Kontext? Wohl kaum. Vieles ist unbemerkt an mir vorbeigegangen. Was ich erlebt habe, hat jedoch Eindruck hinterlassen und meinen Blick verändert – nicht nur auf die Notfallstation.

Konzepte wie „begrenzte Ressourcen“ oder „Priorisierung“ haben hier ein ganz anderes Gewicht als im sonstigen alltäglichen Erleben. Sie werden konkret und sichtbar wie sonst selten. Entscheide der härtesten Sorte sind an der Tagesordnung. Doch fast schon in einem Kontrast dazu steht die von Ruhe und Professionalität geprägte Atmosphäre. Besonders vom Personal wird dies richtiggehend ausgestrahlt. Das hat mich tief beeindruckt.

Was zudem deutlich sichtbar wird, sind die direkten Auswirkungen verschiedener gesellschaftlich heiss diskutierten Fragen, die Station fungiert als Brennpunkt verschiedener Themen. Stichwort Corona: Das vielgenannte „Gesundheitswesen“ findet unter anderem genau hier statt. Die aktuelle Diskussion um Gesundheitskosten wird hier ebenso konkret. Oder die Handhabung der sogenannten Lifestyle-Erkrankungen. Sind staatliche Lenkung oder informierte Eigeninitiative die Lösung? Fakt bleibt: Herzkreislauferkrankungen, um ein Beispiel zu nennen, halten sich wacker an der Spitze der Todesursachen in der Schweiz ( https://ind.obsan.admin.ch/de/indicator/obsan/myokardinfarkt). Einige dieser tragischen Verläufe finden ihr Ende auf dieser Notfallstation - oder im Rettungswagen. Die Nachricht erreicht uns circa eine halbe Stunde nach Abfahrt der Sanität. Wiederholte Reanimationsversuche sind leider fehlgeschlagen, die Patientin konnte nicht gerettet werden.

Die Diskussion gesellschaftlicher Fragen sind oft abstrakt und generell. Das müssen sie auch sein, schliesslich geht es um Konzepte und Einstellungen, um Strategie, Wirtschaft und Gesetzesartikel – um Politik eben. Und doch stehen an den Endpunkten immer Menschen mit ihren Schicksalen. Natürlich habe ich das irgendwo gewusst, so richtig bewusst wurde es mir wieder auf dieser Notfallstation, wo die beiden Realitäten aufeinanderprallen. Im Strom des Alltags wird die Erkenntnis wohl einmal mehr etwas untergehen. Ich werde sie immer wieder neu erfahren und begreifen müssen. Denn beide Blickwinkel gehören dazu.

Zuletzt: Meine ganz zu Beginn beschriebene „Hollywood“-Vorstellung konnte sich bedauernswerterweise nicht halten. Die Realität ist nüchterner. Zwar gibt es die Sirenen und Spritzen im Überfluss. Das Drama und die Plottwists, die entsprechende Serien so attrativ machen, konnte ich aber nirgends auffinden. Die Notfallstation ist ein Ort zwischen Normalität und Extremen – für Regie-Anweisungen bleibt keine Zeit.

Aus Gründen der Anonymisierung sind die beschriebenen Fallbeispiele abgeändert worden, dies um jegliche Rückschlüsse auf reale Fälle auszuschliessen.

Dieser Text ist im Rahmen des Scimpact Programms enstanden.

Autor*innen

Autor*in

Jankó studiert Humanmedizin an der Universität Basel. Neben den vielseitigen Facetten und Funktionsweisen des menschlichen Körpers interessiert er sich für aktuelles Weltgeschehen und grössere dahinterstehende Zusammenhänge.

Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.

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