«Ich würde unabhängig vom Fach nur Exzellenz priorisieren» – Nobelpreisträger Kurt Wüthrich im Gespräch

Ein Interview mit dem Nobelpreisträger für Chemie Prof. Dr. Kurt Wüthrich zum Verhältnis von Politik und Wissenschaft und darüber, wie die Politik der Forschung in Notlagen zuhören sollte. Darüber hinaus zieht Kurt Wüthrich eine Parallele zwischen der Covid-19 Pandemie und Mad Cow Disease, zu der er aktiv geforscht hatte.

Der folgende Beitrag ist am 30. August auf dem JetztZeit-Blog erschienen.

Prof. Dr. Kurt Wüthrich wurde am 4. Oktober 1938 in Aarberg geboren. Nach der Matura in Biel, studierte er zwischen 1957 bis 1962 in Bern Chemie, Physik und Mathematik. Danach absolvierte er an der Universität Basel das Eidgenössische Turn- und Sportlehrerdiplom und promovierte gleichzeitig in anorganischer Chemie. Später forschte er in Berkeley an der University of California und in den Bell Telephone Laboratories in Murray Hill (New Jersey). Kurt Wüthrich lehrt und forscht seit 1969 an der ETH Zürich. Seit 1980 ist er Professor für Biophysik. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten wurde er mit zahlreichen Preisen, Medaillen und Ehrendoktortiteln gewürdigt. Den Nobelpreis für Chemie erhielt Kurt Wüthrich 2002 zusammen mit John B. Fenn und Koichi Tanaka «für seine Entwicklung der kernmagnetischen Resonanzspektroskopie zur Bestimmung der dreidimensionalen Struktur von biologischen Makromolekülen in Lösung».

Tomas Marik: Herr Wüthrich, dank der Forschungsfreiheit ist die Forschung und die Politik voneinander, zumindest symbolisch, geteilt. Trotzdem greift die Politik in das wissenschaftliche Getriebe, vor allem über die Finanzierung der Forschung und die Priorisierung bestimmter Wissenschaftsfelder, massgebend ein. Wie stehen Sie dazu, schränkt es die Forschungsfreiheit ein, und verhindert dadurch möglicherweise die Erlangung neuer Erkenntnisse? Ist es ein notwendiges Übel oder spiegelt die Politik nur die Wünsche der Gesellschaft, die sich an der Finanzierung der Wissenschaft massgeblich beteiligt?

Kurt Wüthrich: Die Finanzierung der Wissenschaft setzt sich aus verschiedenen Teilen zusammen. Nicht nur die öffentliche Hand leitet die Wissenschaft Top Down durch Finanzierung der Forschung in gewisse Bahnen, es sind auch sehr viele private Unternehmen und Stiftungen, welche die Forschung unterstützen. Zum Beispiel verfügt die Bill & Melinda Gates Foundation über Milliarden von Dollars und investiert hohe Beträge in Projekte, die sie selbst aussuchen.

Es ist immer noch möglich, dass mit wenig Geld ein Durchbruch in der Forschung erzielt wird und dass sich dann mit Geld ausgestattete Organisationen darum streiten, wer die Fortsetzung bezahlen darf. Dies wäre eigentlich der richtige Weg.

Wie sollte idealerweise das Verhältnis zwischen der Politik und der Gesellschaft mit der Wissenschaft aussehen?

Idealerweise sollte die Politik viel Geld für hochbegabte Forscher sprechen und nichts dazu sagen. Dann könnten wir erwarten, dass sehr Grosses passiert, dessen Nutzen für die Gesellschaft aber möglicherweise erst nach Jahrzehnten abrufbar ist. Das ist politisch leider nicht möglich, denn die Steuerzahler möchten etwas unmittelbar Nützliches für ihr Geld bekommen und die Vertreter der Politik wollen wiedergewählt werden.

Sollten Ihrer Meinung nach alle Forschungsfelder einen Anspruch auf Finanzierung haben oder würden Sie manche priorisieren? Zum Beispiel Naturwissenschaften gegenüber den Geisteswissenschaften?

Ich würde unabhängig vom Fach nur Exzellenz priorisieren. Ich habe früher Fussball gespielt. Wenn ich eine Fussballmannschaft coachen müsste und ich keinen grossgewachsenen Mittelstürmer zur Verfügung hätte, dann würde ich ein ganz anderes System spielen, als mit einem Mittelstürmer, der über zwei Meter gross ist. Wenn Sie mit Fussball vertraut sind, sehen Sie die Parallele: Ich kann in der Forschung nichts mit Leuten erzwingen, die nicht geeignet sind für eine bestimmte Arbeit. Die Schwierigkeit ergibt sich bei gewissen nationalen Projekten, die praktisch ausschliesslich von Seiten der Politik entwickelt werden. Hier erwartet die Politik eine Antwort von den Forschenden, um einen Notstand zu bewältigen, aber genau dann wird es schwierig. Dann wird das Ganze zu einer Ingenieurangelegenheit. Das ist nicht einfach schlecht, es ist nur ungünstig, wenn man dann vergisst, zwischen Grundlagenforschung und Angewandter Forschung zu unterscheiden und der Grundlagenforschung Mittel entzieht.

Wir hatten jetzt gerade in der COVID-Pandemie gesehen, wie gross die Antwort von Seiten der Forschenden war, die sich um das unerwartet zur Verfügung gestellte Geld rissen. Ein grosser Teil der Arbeit ist nutzlos, da man die Qualität in der Notsituation nicht sicherstellen konnte. Der Erfolg bezüglich der Impfungen beruht auf Jahrzehnten von Grundlagenforschung, deren Ergebnisse nun praktische Anwendung finden.

Selten wurde der Wissenschaft so viel Gehör geschenkt, wie seit dem Aufkommen von Covid-19. Glauben Sie, dass dies ein politisches Manöver war, um die Verantwortung für die unbeliebten Coronamassnahmen auf die Experten aus der Wissenschaft abzuschieben?

Das ist etwas bösartig ausgedrückt. Das würde ich nicht so auffassen. Ich war selbst sehr in der Mad Cow Disease-Krise involviert. Das ist schon sehr lange her. 1996 war ein riesiges Problem mit einer Krankheit bei den Rinderherden aufgekommenen – eben Mad Cow Disease (Rinderwahnsinn). Unser Beitrag zu dieser Krise war wohl unsere wichtigste Zeit, wenn wir es im Hinblick auf den Nutzen für die Gesellschaft ansehen. Da hatte jeder und jede der Wissenschaft zugehört. Zum Beispiel musste bei einer speziellen Gelegenheit die halbe französische Regierung unseren Prionenvorträgen (Anm.d.Red. Prionen, falsch gefaltete Proteine, können neurodegenerative Krankheiten wie Creutzfeldt-Jakob-Krankheit oder Rinderwahnsinn verursachen.)[1] zuhören, um die Bevölkerung zu beruhigen.

Die Politik hatte da grosse Angst. Da hatten Englische Modellierer vorausgesagt, dass allein in Grossbritannien 30 Millionen Menschen an Mad Cow Disease sterben würden. Diese in der Zeitschrift Nature publizierten Studien wurden sehr ernst genommen. Es war eine der vielen Prognosen aufgrund von Modellen, die sich am Ende zum Glück nicht bewahrheitet haben.

Bei Mad Cow Disease hat man den Teufel an die Wand gemalt und es folgten starke Massnahmen. Man hat über mehrere Jahre die Grenzen für den Rindfleischhandel zugemacht, bis man einen effektiven Weg gefunden hatte, die weitere Verbreitung dieser Krankheit zu stoppen; dies war nur möglich mit politischen Entscheiden. Die Menschen, inklusive die Politik, hatten Angst und haben deshalb auf die Wissenschaft gehört.

Herr Wüthrich, glauben Sie, dass sich das Verhältnis zwischen der Wissenschaft und der Politik verändert hat und die Politik in Zukunft besser der Forschung zuhören wird?

So schlimm ist es gar nicht. Meine Erfahrung ist nicht, dass uns die Politik nicht zuhören will. Ich habe vor allem die Zeit vom Rinderwahnsinn vor Augen. Da hatten wir Gelegenheit, einer Nationalratskommission und Ständeratskommission den Rinderwahnsinn zu erklären. Man hat uns nicht nur Gehör geschenkt, sondern auch die richtigen Massnahmen getroffen. Auch die Zusammenarbeit mit der Presse war zu jener Zeit sehr gut.

Wie erklären Sie sich, dass die Reaktion bezüglich Klimaerwärmung oder Antibiotikaresistenz eindeutig langsamer ist?

Das sind andere Situationen. Rinderwahnsinn war sehr akut und machte Angst. Die getroffenen Massnahmen haben, mit Ausnahmen bei der Landwirtschaft, das tägliche Leben kaum beeinflusst.

Könnte die nahe Zusammenarbeit zwischen der Wissenschaft und der Politik nicht einen Kredibilitätsverlust für die Wissenschaft bedeuten? Man kann schliesslich in der Coronakrise beobachten, dass viele Menschen die Forschung für die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie verantwortlich machen.

Die Zusammenarbeit zwischen Politik und Wissenschaft ist nicht so eng. Schliesslich hat sich die Politik gerade bei Covid-19 oft über Ratschläge der Forschung hinweggesetzt, in mehreren Ländern mit scheusslichem Ergebnis.

Auch in der Schweiz haben Mitglieder der «Taskforce» bereits im September 2020 darauf hingewiesen, dass es knallen würde, wenn man nichts unternimmt. Trotzdem hat die Politik im Oktober 2020 ein Fussballspiel mit 17 000 Zuschauern in Basel erlaubt.

Da hat die Politik der Wissenschaft überhaupt nicht zugehört und sich über ihre Ratschläge hinweggesetzt. Ich habe dazu ein Tagebuch geführt, das dann für die Weltwoche (Ausgabe vom 7. Januar 2021) übersetzt wurde. Bereits im Juni 2020, als die Zahlen noch sehr tief waren, hatte ich geschrieben, dass wir uns wieder im exponentiellen Wachstum befänden. Zwei Monate später war schon die Katastrophe da und die Politik hat trotzdem weiterhin Massnahmen gelockert.

Wie würden Sie sich eine ideale Zusammenarbeit zwischen der Politik und der Wissenschaft vorstellen?

Ich verbleibe hier bei den Erfahrungen mit Covid-19 während den vergangen 18 Monaten. Wir haben hier ein Problem, das mit Biologie und Medizin zu tun hat. Trotzdem wurden unterschiedlichste Fachrichtungen in eine Taskforce eingebunden, die dann alle Facetten abbilden soll. Harte wissenschaftliche Erkenntnisse kamen so nur nach Filterung durch Vertreter der Philosophie, der Wirtschaftswissenschaft usw. an die Öffentlichkeit. Nach meiner Ansicht sollten die Vertreter dieser Fachrichtungen in einem zweiten Gremium ihre Meinung einbringen und denjenigen der hier «harten» Wissenschaftszweige gegenüberstellen, so dass die naturgemäss unterschiedlichen Gesichtspunkte klar einsehbar sind.

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Tomas Marik ist Redaktor von JetztZeit.Blog und studiert im Master European Global Studies an der Universität Basel. Er ist Geförderter der Schweizerischen Studienstiftung.

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