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Kopfweh geht vorüber – das ist noch kein Placebo-Effekt

Die Komplementärmedizin soll mit dem Placebo-Effekt Werbung machen, um ihr Image zu verbessern, meint Sabine Kuster. Doch oftmals ist der Placebo-Effekt bloss ein «Gar-Nichts»-Effekt.

Kann der Placebo-Effekt Kopfschmerzen zum Verschwinden bringen? Man könnte es bei der Lektüre von Sabine Kusters Kommentar bei «CH Media» zur unterschätzten Wirkung des Placebo-Effekts meinen. Sie verweist auf eine Studie, bei der 24 Prozent der Migräne-Patienten 2 Stunden nach der Einnahme eines Aspirins schmerzfrei waren. Bei der Placebo-Gruppe waren es 11 Prozent, was «die eigentliche Sensation» sei. Doch bei näherer Betrachtung ist die Sache komplizierter.

Wer nachweisen will, dass etwas medizinisch wirkt, braucht einen langen Atem. Gute medizinische Studien – zum Beispiel, um die Wirkung eines Medikaments zu testen – sind ausgeprochen aufwändig, weil sichergestellt werden muss, dass tatsächlich das Medikament und nicht irgendetwas anderes für die beobachtete Wirkung verantwortlich ist.

Es würde zu weit gehen, hier all das zu beschreiben, was es für eine solche Studie braucht, aber eines braucht es fast immer: eine Vergleichsgruppe. Oftmals erhält diese Gruppe ein sogenanntes Placebo. Im Falle einer Medikamentenstudie wäre das zum Beispiel eine Pille, die keinerlei Wirkstoffe enthält. Die Behandlungsgruppe, d.h. jene Patienten, die das richtige Medikament erhalten haben, wird dann mit der Placebo-Gruppe verglichen, d.h. mit jenen Patienten, die das Placebo erhalten haben.

So will man sicherstellen, dass der Effekt, den man misst, tatsächlich auf das fragliche Medikament zurückzuführen ist – und nicht auf irgendwelche anderen Einflussfaktoren. Einer dieser Faktoren ist der natürliche Heilungsprozess. Gerade bei leichten Erkrankungen werden viele Menschen ganz ohne Medikamente wieder gesund, wenn die Zeit vergeht. Sprich, selbst wenn man nichts machen würde, würde man eine «Wirkung» beobachten. Doch das allein ist noch kein Placebo-Effekt. Von einem Placebo-Effekt kann man genau genommen erst dann sprechen, wenn der Heilungsprozess besser ist, als wenn man gar nichts machen würde.

Die meisten von uns hatten schon einmal Kopfschmerzen. Und bei vielen gehen die Schmerzen nach einiger Zeit wieder von sich aus vorbei. Ein Medikament, dass behauptet, Kopfschmerzen lindern zu können, muss also zeigen, dass es die Kopfschmerzen signifikant besser lindert als es einfaches Abwarten tun würde.

Nun, dieselbe Logik lässt sich auch auf den sogenannten Placebo-Effekt anwenden. Die Placebo-Gruppe dient dazu, die Wirkung eines Medikaments zu prüfen. Wer aber die Wirkung des Placebos prüfen möchte, braucht dafür ebenfalls eine Vergleichsgruppe, nämlich die «Gar-Nichts»-Gruppe. Diese erhält weder das Medikament noch das Placebo, sondern: gar nichts.

Nur dann, wenn die Placebo-Gruppe bessere Ergebnisse erzielt, als die «Gar-Nichts»-Gruppe, könnte man von einem Placebo-Effekt reden. Ansonsten ist es einfach ein «Gar-Nichts»-Effekt. Auch dieser kann freilich eine «eigentliche Sensation» sein, wenn es um den Heilungsprozess geht.

Heisst das, dass es den Placebo-Effekt gar nicht gibt? Nein, es heisst bloss, dass auch der Placebo-Effekt, wie jeder therapeutische Effekt, schwierig nachzuweisen ist. Nur, weil es einer Person nach der Einnahme eines Placebos besser geht, ist das noch kein Placebo-Effekt. Es könnte einfach ein «Gar-Nichts»-Effekt sein. So oder so hat Sabine Kuster jedoch recht, wenn sie fordert: «[E]twas, was nicht besser wirkt als ein Bonbon, sollte auch nicht mehr kosten als ein Bonbon».

Box 1: Der Placebo-Effekt: Nur ein statistisches Artefakt?

Der oben beschriebene «Gar-Nichts»-Effekt kann potentiell auch mit dem statistischen Phänomen der «Regression zum Mittelwert» (engl. «regression to the mean») erklärt werden. Vereinfacht gesagt beschreibt die Regression zum Mittelwert die Beobachtung, dass über die Zeit hinweg viele extreme Werte wieder zum Mittelwerte tendieren. Ein Beispiel sind die Körpergrössen zwischen zwei Generationen: In der Tendenz sind die erwachsenen Kinder grosser Eltern auch selber vergleichsweise grossgewachsen. Dennoch werden die Nachkommen von grossen Menschen nicht immer grösser. Im Gegenteil: Die erwachsenen Kinder von Eltern, die überdurchschnittlich gross waren, sind in der Tendenz zwar immer noch grösser als der Durchschnitt der Bevölkerung, aber dennoch kleiner als ihre Eltern. Wer sich für die statistischen Details interessiert: Dieser wissenschaftliche Artikel fasst das Phänomen der Regression zum Mittelwert im Zusammenhang mit dem Placebo-Effekt gut zusammen.

Autor*innen

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Präsidium, Fundraising

Servan Grüninger ist Mitgründer und Präsident von Reatch. Er hat sein Studium mit Politikwissenschaften und Recht begonnen und mit Biostatistik und Computational Science abgeschlossen. Zurzeit doktoriert er am Institut für Mathematik der Universität Zürich in Biostatistik. Weitere Informationen: www.servangrueninger.ch.

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