Der folgende Artikel ist am 15.12.2022 in der Medienwoche erschienen.
Klimaaktivismus bewegt – wenn nicht die Politik, dann sicher die Gemüter. In den vergangenen Monaten haben sich in ganz Europa Aktivisten an Strassen geklebt, Flughäfen blockiert, Suppen auf Gemälde geworfen oder Läden besetzt. Mit dabei sind auch viele Forschende: Doktorandinnen, wissenschaftliche Mitarbeiter und Professorinnen. Sie sind nicht nur als Bürger an den Protesten beteiligt, sondern explizit auch als Wissenschaftler. So gab Julia Steinberger, Professorin an der Universität Lausanne und Leitautorin beim jüngsten Klimabericht der Vereinten Nationen, in einer Medienmitteilung an, sie nehme «als Mutter, als Bürgerin, als Lehrerin und als Wissenschaftlerin» an den Strassenblockaden teil. Auch der Hochschuldozent Claus Noppeney tritt nicht nur als Bürger, sondern auch als Professor der Berner Fachhochschulen aktivistisch in Erscheinung. Und die Gruppe «Scientist Rebellion» hebt den wissenschaftlichen Status ihrer Mitglieder explizit hervor und lässt sie bei Protestaktionen in Laborkitteln in Erscheinung treten. Medial schreit halt wenig «Wissenschaft!» wie ein weisser Kittel. Also tragen ihn auch die, die ihn sonst nie tragen.
Nun kann man sich fragen, warum das überhaupt erwähnenswert ist. Schliesslich verwenden auch Sportler, Schauspieler, Musiker oder Künstler ihre Prominenz, um mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen und einem Anliegen Reichweite zu verschaffen. Das stimmt. Doch im Gegensatz zu ihnen erheben viele Wissenschaftler den Anspruch, mehr zu bieten als eine beliebige Meinung: nämlich eine Einschätzung, die sich durch Unabhängigkeit, Unvoreingenommenheit, ja sogar Universalität auszeichnet. Kein Wunder, dass innerhalb und ausserhalb der Wissenschaften intensiv darüber diskutiert wird, wie Aktivismus mit wissenschaftlicher Arbeit zusammengeht. Auffällig ist, dass sich solche Diskussionen meist auf jene Formen des Aktivismus beschränken, die klar als solchen erkennbar sind: Teilnahme an Demonstrationen, Protestaktionen oder Formen des zivilen Ungehorsams. Doch Aktivismus kann sich nicht nur in Taten, sondern auch in Worten manifestieren – nur ist er dann weniger einfach zu erkennen.
So kommt es, dass heftig über den Aktivismus von Klimaklebern gestritten wird, während der Aktivismus von jenen Wissenschaftlern, die ihre Forderungen im Feuilleton positionieren, in Kolumnen darlegen oder auf Twitter verbreiten, kaum als solchen erkannt, und stattdessen für wissenschaftliche Aufklärungsarbeit gehalten wird. Solche «Schreibtischaktivisten» entsprechen nicht dem Klischee von Aktivisten als lärmige Demonstranten, sondern wirken in Rhetorik und Auftreten vergleichsweise nüchtern und sachlich. Doch wie ihre Pendants auf der Strasse suchen sie die Öffentlichkeit und haben eine klare Vorstellung davon, wie die Welt sein sollte. Auch Schreibtischaktivisten wollen Debatten bestimmen und Veränderungen anstossen – nicht wie Lobbyisten aus monetären Interessen, sondern weil sie überzeugt sind von der Sache, für die sie sich einsetzen. So überzeugt, dass sie ihren medial privilegierten Status als Wissenschaftler dazu nutzen, die eigenen Wertvorstellungen als objektive und wissenschaftlich erhärtete Tatsachen zu verkaufen. Sie nehmen dabei Wissenschaftlichkeit in Anspruch, ohne diesen Anspruch tatsächlich zu erfüllen. Dass sie damit durchkommen, liegt in erster Linie an den medialen Privilegien, die sie vor wirksamer Kritik schützen. Sie werden in den Medien nicht als Aktivisten, sondern als Wissenschaftler vorgestellt: Als Biologinnen oder Ökonomen, seltener als Soziologen und fast nie als Geschlechterforscherinnen. Drei Fallbeispiele sollen im Folgenden erkunden, warum das so ist.
Da wäre zuerst der Ökonomieprofessor Reiner Eichenberger aus der Schweiz zu nennen, der es bei seinem Einsatz für Kostenwahrheit mit den Berechnungen nicht immer so genau nimmt, aber anderen «kreative Buchführung» vorwirft. Auch das Beispiel der Biologin Marie-Luise Vollbrecht aus Deutschland bietet Anschauungsunterricht in Schreibtischaktivismus: In kulturkämpferischer Manier zieht sie gegen «‹woke› Trans-Ideologie» ins Feld und reduziert dabei komplexe biologische und soziale Fragen zum menschlichen Geschlecht auf knackige Schlagworte – alles verbunden mit dem Anspruch, bloss die Wissenschaft zu verteidigen. Und in Grossbritannien hat der Pharmakologe David Nutt sich im Namen der Wissenschaft öffentlich mit der britischen Regierung angelegt und behauptet, die «Wahrheit über Drogen» zu kennen, bis ihn die medialen Geister, die er rief, selber zu Fall brachten
Fallbeispiel 1: «Der lärmigste Professor der Schweiz»
Reiner Eichenberger eckt gerne an: «Wenn man Bedeutung haben will, dann sollte man nicht dasselbe sagen wie alle anderen», sagte der Ökonomieprofessor in einem Porträt in der «Republik». Erst jüngst machte er wieder Schlagzeilen, indem er Äpfel mit Birnen, bzw. Autos mit Velos verglich und zum Schluss gelangte: Die Velofahrer sind klimaschädlicher als die Autofahrer, weil sie mehr essen müssen. Damit erntete er natürlich Kritik, sorgte für eine Replik und gab Eichenberger die Gelegenheit zu einer Duplik. Kein Wunder nennt ihn die «Republik» «den lärmigsten Professor der Schweiz». Interessant ist dabei, dass er in den Medien stets als «Professor» und nie als «Aktivist» dargestellt wird. Dabei lässt sich in Eichenbergers Voten viel Aktivistisches erkennen. Für ihn ist klar: «Die richtige Klimapolitik heisst: Kostenwahrheit.» Damit wäre die Klimakrise «erstaunlich leicht zu bewältigen», wie er im deutschen «Handelsblatt» schreibt. «Die zukünftigen Schäden müssen wissenschaftlich geschätzt und den heutigen Verursachern über eine CO2-Steuer in Rechnung gestellt werden.» So einfach geht das also.
Auch die oben erwähnte Kolumne, in der Eichenberger Velofahren als klimaschädlicher darstellt als Autofahren, dreht sich um Kostenwahrheit: Würde man diese für Velofahrer herstellen, stünden sie gegenüber Autofahrern schlechter da, so Eichenberger. Er geht aber von einer Reihe von Annahmen aus, die reichlich gewagt sind. So werden zum Beispiel klimafreundliche Autos mit vier Personen auf der einen Seite mit ausschliesslich Fleisch essenden Velofahrern auf der anderen Seite verglichen – und das über eine Distanz von 100 km hinweg. Ausgeblendet wird dabei Vieles: dass auch Autofahrer etwas essen müssen; dass die wenigsten Autos in der Schweiz mit vier Personen unterwegs sind; dass auch bei der Produktion von Kraftstoffen CO2 anfällt; dass kaum ein Velofahrer mehr als ein paar Kilometer pro Tag zurücklegt, – und so weiter. Die erkennbaren Schwächen in Eichenbergers Annahmen wurden dann auch im Nu öffentlich zerpflückt. Die vielen detaillierten Berechnungen Eichenbergers erwecken zwar den Anschein, dass seine Aussagen auf einer soliden wissenschaftlichen Basis stehen. Doch ganz offensichtlich hat er seine Thesen nicht unvoreingenommen geprüft, sondern alles, was nicht passte, passend gemacht. Damit versucht er, mit kreativer Buchführung zu belegen, dass Velos nur deshalb klimafreundlicher dastünden, weil die Behörden «kreative Buchführung» betreiben würden. Schreibtischaktivist Eichenberger spricht damit anderen die Wissenschaftlichkeit ab, ohne sich selbst daran zu halten.
Ebenso stellt er Behauptungen auf, die nicht einmal von seinen eigenen Berechnungen gestützt werden. So erklärt er am Anfang der Kolumne pauschal, es sei «falsch», dass Velos die Gesellschaft weniger belasten würden als Autos. Doch seine Berechnungen zeigen höchstens, dass unter ganz bestimmten Annahmen – deren Belastbarkeit eher zweifelhaft ist – gewisse Velofahrer mehr CO2 verbrauchen als gewisse Autofahrer. Auch hier zeigt sich ein Merkmal von Schreibtischaktivismus: Er gibt sich in Rhetorik und Auftreten betont nüchtern und sachlich, gelangt aber zu Schlüssen, die viel weiter gehen als das, was sich aus den vorgebrachten Fakten und Annahmen tatsächlich schliessen lässt.
Die «Handelszeitung» reagierte auf die Kritik an Eichenbergers Kolumne übrigens mit einer Stellungnahme. Sie zeigt, dass man auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen will. Einerseits versucht die Redaktion, Eichenbergers Wissenschaftlichkeit in den Vordergrund zu rücken. So wird betont, dass er «sich in der Forschung und in unserer Kolumne ‹Freie Sicht› regelmässig mit Verkehrsfragen [beschäftige]» und die Themen aus «ökonomischer Optik analysieren» würde. Andererseits sei die Kolumne aber «persönlich gehalten» und «soll zum Denken und zur Debatte anregen». Man will also ökonomische Verlässlichkeit beanspruchen, ohne die dafür notwendigen Qualitätsstandards erfüllen zu müssen. Es ist eine ausgesprochen geschickte Immunisierung gegen Kritik: Wer wissenschaftliche Ansprüche an Eichenbergers Kolumne stellt, wird mit dem «persönlichen» Blick abgespeist. Wer diesen persönlichen Blick ernst nimmt und die Wissenschaftlichkeit von Eichenbergers Thesen anzweifelt, wird mit Verweis auf Eichenbergers «Beschäftigung» mit Verkehrsfragen gekontert.
All das heisst nicht, dass Eichenbergers Einsatz für Kostenwahrheit in Klimafragen zwangsläufig falsch wäre. Aktivistisch tätig zu sein, bedeutet nicht zwingend, falsch zu liegen. Aber man kann als Aktivist keinen wissenschaftlichen Anspruch für den eigenen Aktivismus erheben. Das gilt für Strassen blockierende Klimaaktivisten genauso wie für zahlenakrobatische Schreibtischaktivisten. Um das zu verstehen, lohnt es sich, die Unterschiede von Aktivismus und Wissenschaft genauer zu betrachten.
Wissenschaft: Eine Tätigkeit mit (zu) hohen Ansprüchen an sich selbst
Wissenschaft ist anmassend und bescheiden zugleich. Sie ist anmassend, weil sie Anspruch erhebt auf Unabhängigkeit, Unvoreingenommenheit, Universalität. Sie will unabhängig von anderen Teilen der Gesellschaft Wissen schaffen, dabei unvoreingenommen an ein Problem herangehen und letztlich zu universell gültigen Aussagen über die Welt gelangen. Solche Ansprüche zwingen aber auch, bescheiden zu sein. Wer unabhängig sein will, muss sich bei Engagements zurückhalten, die ihn in politische oder wirtschaftliche Abhängigkeiten bringen könnten. Wer Unvoreingenommenheit reklamiert, darf nicht nur die eigenen Vorlieben fördern, sondern muss Selbstkritik üben können und auch konkurrierende Erklärungen anerkennen. Und wer universell gültige Aussagen machen will, kann das höchstens zu theoretisch eng umrissenen und empirisch streng geprüften Sachverhalten bieten.
Wissenschaft müsste deshalb auch ein bescheidenes Unterfangen sein, wenn es darum geht, politische Empfehlungen abzugeben. Denn ohne Annahmen und Mutmassungen, die sich der unmittelbaren wissenschaftlichen Überprüfung entziehen, lässt sich kaum eine politische Frage sinnvoll diskutieren. So kann die Wissenschaft zwar gewisse Grenzen des Möglichen aufzeigen, Handlungsszenarien präsentieren oder mit Kritik politisches Wunschdenken zerplatzen lassen. Sie ist jedoch nicht in der Lage, der Politik eindeutige Anweisungen zu geben, was zu tun ist – zumindest dann nicht, wenn sie den eigenen Ansprüchen an Unabhängigkeit, Unvoreingenommenheit und Universalität genügen möchte.
Nun ist es fraglich, ob Wissenschaft die eigenen hohen Ansprüche überhaupt erfüllen kann. Unabhängigkeit, Unvoreingenommenheit und Universalität sind wohl eher wirkungsmächtige Ideale als tatsächliche Eigenschaften von Wissenschaft. Dennoch werden diese Ideale gerade von Wissenschaftlern dazu benutzt, um sich von anderen gesellschaftlichen Kräften abzugrenzen: Welche Wissenschaftlerin behauptet schon von sich, sie sei fremdbestimmt und voreingenommen, ihre Aussagen bloss eine beliebige Meinung unter vielen? Ob zutreffend oder nicht: Der Anspruch an Unabhängigkeit, Unvoreingenommenheit und Universalität gehört fest zum Selbstbild von Wissenschaft und prägt auch den Blick von aussen, wie beispielsweise die Umfragen des Wissenschaftsbarometers in Deutschland und in der Schweiz zeigen.
Deshalb nimmt Wissenschaft in den Medien einen überaus privilegierten Status ein. In Debattensendungen gehört die wissenschaftliche Expertin zum lebenden Inventar und erhält dabei eine klar umrissene Rolle zugewiesen: Sie wird eingeladen mit dem Anspruch, unabhängige und verlässliche Einordnungen zu liefern und damit ein Gegengewicht zum rhetorischen Hickhack der anderen Gäste zu bieten. Auch bei den Print- und Online-Medien ist eine solche Rollenzuteilung erkennbar: Der Experte «ordnet ein», «erklärt» oder «zeigt auf». Oft «warnt» er auch vor nahenden Gefahren oder «schlägt Alarm». Bisweilen stellen Medienschaffende sogar quasi-prophetische Ansprüche an Forschende – zum Beispiel während der Corona-Pandemie. Kurz: Der (übertriebene) Anspruch an Wissenschaftler, eine «objektiv richtige» Einschätzung der Sachlage bieten zu können, ist medial weit verbreitet.
Wissenschaftler geniessen dadurch einen Vertrauensvorschuss, der ihnen den Zugang zu medialen Plattformen vereinfacht und ihnen zu mehr Resonanz verhilft als anderen gesellschaftlichen Gruppen. Dieses Privileg ist aber an die Bedingung geknüpft, dass die Einschätzungen von Wissenschaftlern tatsächlich verlässlicher, unabhängiger und unvoreingenommener sind als rein interessen- oder meinungsgeleitete Aussagen. Wenn sie ihre Privilegien nutzen, um aktivistische Ziele zu verfolgen, aber gleichzeitig den Eindruck erwecken, nur als Wissenschaftler zu sprechen, dann verletzen sie die Voraussetzungen für eben diese Privilegien.
Aktivismus will Wirkung erzielen, nicht Wissen schaffen
Aktivismus wird demgegenüber anders dargestellt und wahrgenommen: als Ausdruck einer gesellschaftlichen Bewegung, die mit politischen Aktionen und zugespitzten Forderungen für ihre Anliegen eintritt und konkrete Veränderungen bewirken will. Der Aktivist übernimmt in den Medien wahlweise die Rolle des fordernden Anklägers, des gerechten Kämpfers für die gute Sache oder des weltfremden Idealisten. Das sind freilich mediale Verzerrungen, doch wie beim öffentlichen Bild der Wissenschaften orientieren sie sich am Selbstbild und der Kommunikation des Verzerrten: Die Wirkung, nicht das Wissen, motiviert den aktivistisch Tätigen. Vorausgesetzt wird dabei, dass die angestrebte Wirkung auch tatsächlich wünschenswert ist, was den Aktivismus in einen offensichtlichen Konflikt mit den beschriebenen Idealen der Wissenschaft bringt. Zwar kann sich aktivistisches Reden und Handeln auf wissenschaftliche Evidenz beziehen, um die eigenen Forderungen zu begründen. So ist «Hört auf die Wissenschaft!» eine zentrale Forderung der Klimaschutzbewegung, die sich bisweilen sogar als Sprachrohr der Klimaforschung versteht.
Dennoch kann Aktivismus nicht jene Ansprüche erfüllen, die gemeinhin an die Wissenschaft gestellt werden. Erstens, weil aktivistische Forderungen als politische Forderungen zwangsläufig Voraussetzungen umfassen, die sich der unmittelbaren wissenschaftlichen Überprüfung und damit auch dem Anspruch auf universelle Gültigkeit entziehen. Zweitens, weil sich im Moment des Aktivismus keine unabhängige und unvoreingenommene Distanz zu den eigenen Zielen herstellen lässt. Stattdessen erfolgt eine Zuspitzung der eigenen Forderungen auf wenige Kernbotschaften und gleichzeitig eine Immunisierung gegen Kritik daran. Selbstverständlich ist auch eine Aktivistin in der Lage, ihre Ziele immer wieder selbstkritisch zu prüfen. Bloss kann das nicht in dem Moment geschehen, in dem sie aktivistisch tätig ist, weil sie sonst im medialen Rauschen und dem Klein-Klein der politischen Debatte untergeht. Ein Tierversuchsgegner, der beim Protest die historische Bedeutung von Tierversuchen für die wissenschaftliche Forschung würdigt, bringt sich selbst um den Erfolg.
Kurz: Als Tätigkeiten gehen Wissenschaft und Aktivismus nicht zusammen – weder in Bezug auf ihre eigenen Ansprüche noch in Bezug auf die Wahrnehmung von aussen. Dennoch können gute Aktivisten auch gute Wissenschaftler sein. Der vermeintliche Widerspruch löst sich auf, wenn man die Tätigkeiten gesondert betrachtet vom Tätigen: Wer als Schauspielerin vor der Kamera steht, kann zwar in diesem Moment nicht hinter der Kamera Regie führen. Trotzdem gibt es Menschen, die gut schauspielern und gut Regie führen können. So kann auch eine Wissenschaftlerin an der Universität forschen und auf der Strasse protestieren, ohne in einen Widerspruch zu den Ansprüchen der beiden Tätigkeiten zu gelangen. Problematisch wird es erst, wenn sie die beiden Tätigkeiten vermischt, also wenn sie für ihren Aktivismus einen wissenschaftlichen Anspruch erhebt oder wenn sie Wissenschaft nach aktivistischer Logik betreibt.
Immerhin ist der «Asphaltaktivismus» von Forschenden wie Steinberger oder Noppeney klar als solcher gekennzeichnet: Wer sich auf einer Autobahn klebt, kann das schwerlich als «wissenschaftliche» Tätigkeit verkaufen. Insofern ist die Trennung von wissenschaftlicher und aktivistischer Tätigkeit zumindest so weit vollzogen, dass es für Aussenstehende einfach zu erkennen ist, ob jemand als Wissenschaftler oder als Aktivist spricht. Bei Schreibtischaktivisten ist das Gegenteil der Fall: Ihr Aktivismus bleibt weitgehend verborgen, weil sie medial in erster Linie als Wissenschaftler dargestellt werden. Was uns zurückbringt zu Reiner Eichenberger.
Journalisten und Wissenschaftler als Geschäftspartner
Eichenberger gibt im «Republik»-Porträt selber zu, dass nicht hinter allen seiner Beiträge «ernsthafte wissenschaftliche Arbeit», aber stets «diszipliniertes Nachdenken» stecke. Das ist insofern problematisch, als das Publikum darauf vertraut, dass die fachliche Einschätzung von Wissenschaftlern verlässlicher ist als interessen- oder meinungsgeleitete Aussagen von Lobbyisten oder eben Aktivisten – so «diszipliniert» deren Nachdenken auch sein mag. Medienschaffenden käme hier eine entscheidende Rolle bei der Einordnung zu: Sie könnten mit kritischen Rückfragen dafür sorgen, dass Wissenschaftler ihre medialen Äusserungen nachvollziehbar begründen und deutlich machen, zu welchen Fragen sie fachlich kompetent Auskunft geben können und zu welchen nicht.
Auch das «Zwei-Quellen-Prinzip» könnte sich als nützlich erweisen beim Einordnen. Dieses besagt, dass Fakten von mindestens zwei verlässlichen und voneinander unabhängigen Quellen bestätigt werden sollten, bevor man als Journalist darüber berichtet. Wieso sollte diese Regel nicht auch für die Aussagen von Wissenschaftlern gelten? Und schliesslich könnten Medienschaffende dabei helfen, die wissenschaftlichen und politischen Diskussionen zu einem Thema besser voneinander abzugrenzen. Gerade bei grossen gesellschaftlichen Fragen wie dem Klimawandel sind diese nämlich eng miteinander verflochten. Ein «Aufdröseln» der argumentativen Stränge könnte dabei helfen, sowohl die politische als auch die wissenschaftliche Debatte dazu besser zu verstehen und dabei zu erkennen, ob ein Forscher sich gerade aktivistisch zu Wort meldet oder nicht.
All das ist einfacher gesagt als getan. Denn um aktivistische Aussagen unter dem Deckmantel der Wissenschaft zu entlarven, braucht es Zeit, Raum und wissenschaftliche Kompetenz – drei Ressourcen, die in der gegenwärtigen Medienlandschaft spärlich gesät sind. Mediale Debatten ermöglichen zwar Kritik, aber sie sind nicht auf wissenschaftlich fundierte Kritik ausgelegt. Sie werden nicht nach wissenschaftlichen Standards geführt und bieten so auch Aussagen eine unkritische Bühne, die wissenschaftlich längst überholt sind. Der mediale Raum ist damit kein öffentliches Forum, das innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft sonderlich ernst genommen wird, weshalb sich nur wenige die Mühe machen, sich als Wissenschaftler – mit allen dazugehörigen Ansprüchen – medial einzubringen. Damit überlassen sie aber den Schreibtischaktivisten unwidersprochen das Feld.
Und weil Wissenschaft medial nicht wie irgendeine gesellschaftliche Kraft behandelt wird, sondern aufgrund ihres Sonderstatus eine gewisse Immunität vor Kritik geniesst, ist es schwierig, Schreibtischaktivisten offen zu kritisieren, wenn sie als Wissenschaftler in Erscheinung treten. Wer es trotzdem tut, muss je nach Konstellation damit rechnen, pauschal in die wissenschaftsfeindliche Ecke gesteckt zu werden. Eine solche Abwehrreaktion ist verständlich, wenn man die mediale Sonderstellung der Wissenschaften wahren möchte. Doch sie erschwert seriöse Wissenschaftskritik, lädt ein zum Missbrauch und macht es damit Schreibtischaktivisten leicht, ihren Aktivismus medial einen wissenschaftlich seriösen Anstrich zu geben, ohne dass es jemand merkt.
In der Praxis werden die medialen Privilegien der Wissenschaft so immer wieder missbraucht – von Forschenden, aber auch von Journalisten. Denn sie wissen: Knackige Zitate von Wissenschafltern können Wunder wirken, um steilen These Gewicht zu verleihen. Eichenberger hat das erkannt: «Ich will meinen Geschäftspartnern – in dem Fall dem Journalisten – immer einen Mehrwert bieten», lässt er sich im «Republik»-Porträt zitieren. «Der Anruf soll sich lohnen, denn nur dann kommen sie später wieder zu mir».
Damit benennt er erfrischend ehrlich, wie die Zusammenarbeit zwischen Medien und Wissenschaft oft funktioniert: Es ist ein Geschäft, bei dem wissenschaftliche Legitimation gegen mediale Reichweite getauscht wird. Hätte ein weitgehend unbekannter Laie Eichenbergers Thesen zu den klimaschädlichen Velofahrern vertreten, hätten sie wohl weniger Menschen ernst genommen. Doch weil Eichenberger Professor der Ökonomie ist und medial auch klar erkennbar als solcher in Erscheinung tritt, erhalten auch weitgehend ungeprüfte Thesen wissenschaftliches Gewicht. Das liegt nicht an Eichenbergers Brillanz, sondern am privilegierten Status in den Medien, den er und viele seiner Kollegen geniessen.
Fallbeispiel 2: Vor den Medien sind nicht alle Wissenschaften gleich
Zu betonen ist, dass die erwähnten Privilegien innerhalb der Wissenschaften ungleich verteilt sind. Es gibt da eine relativ klare Hackordnung: Naturwissenschaftler, Ökonomen oder Juristen dürfen sich extrem viel erlauben, bevor sie in den Medien als unwissenschaftlich dargestellt werden. Die meisten Sozial- und Geisteswissenschaftler haben es da bedeutend schwerer – insbesondere Fachbereiche wie die Geschlechterforschung, die in den Medien pauschal als «ideologisch» oder «aktivistisch» gebrandmarkt werden.
Ein weiteres Fallbeispiel zeigt exemplarisch, wie Schreibtischaktivisten diese Privilegienhierarchie für sich ausnutzen können: Die Biologin Marie-Luise Vollbrecht wollte im Sommer 2022 an der Humboldt-Universität in Berlin im Rahmen der «Langen Nacht der Wissenschaft» einen Vortrag darüber halten, dass es in der Biologie nur zwei Geschlechter gebe. Eine Studierendengruppe hatte im Vorfeld zum Protest dagegen aufgerufen, mit dem erklärten Ziel, ihren Vortrag zu verhindern.
Solche Forderungen nach Sprechverboten könnte eine Universitätsleitung souverän mit dem Verweis auf die Freiheit von Wissenschaft und Lehre zurückweisen und dafür sorgen, dass der Vortrag störungsfrei gehalten werden kann, wie das beispielsweise der Rektor der Universität Genf in einem ähnlichen Fall getan hat. Oder sie macht sich die Mühe, überzeugend zu begründen, warum der Vortrag den wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügt, und sagt ihn deshalb ab. Die Humboldt-Universität tat jedoch weder das eine noch das andere, sondern machte «Sicherheitsbedenken» geltend, um den Vortrag zu verhindern.
Einige Tage später waren diese Bedenken aber offenbar ausgeräumt und der Vortrag wurde nachgeholt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich jedoch bereits ein Shitstorm über der Universität entladen, und zwar nicht nur in den sozialen Netzwerken, sondern auch in den etablierten Medien. Die Aufmerksamkeit verschob sich dabei vom Versagen der Universitätsleitung hin zu Vollbrecht und ihren Kritikern, wobei die meisten Medien die Rollen klar verteilten: Hier die Wissenschaftlerin, welche bloss «einen Grundkurs in Biologie» geben will. Da die (gewaltbereiten) «Trans-Aktivisten», die den «Diskurs [töten], bevor er überhaupt stattfindet». Berichte, die aus diesem medial gesetzten Rahmen ausscherten, waren selten.
Diese einseitige Darstellung ist in doppelter Hinsicht problematisch. Erstens, weil so sämtliche Kritik an Vollbrechts Vortrag pauschal in die aktivistische Ecke gedrängt wurde, obwohl es auch viele wissenschaftliche Kritikpunkte daran gab. Zweitens, weil Vollbrecht damit ausschliesslich als Wissenschaftlerin dargestellt wurde, obwohl sie nachweislich selbst aktivistisch in Erscheinung trat. So hatte sie im Vorfeld des Vortrags einen Aufruf unterzeichnet, der von den Medien eine «eine Abkehr von der ideologischen Betrachtungsweise zum Thema Transsexualität» forderte. Der «klar umrissene Begriff des Geschlechts [werde] mit psychologischen und vor allem soziologischen Behauptungen [vermengt]», war darin zu lesen. Die daraus entstehende «Bedeutungsverschiebung» ziele «letztlich auf die Durchsetzung von politischen Forderungen ab». Die Verfasser erklären mit ihrem Aufruf die eigene Verwendung des Begriffs «Geschlecht» in apodiktischer Manier zur allgemeingültigen «naturwissenschaftlichen Tatsache», die keinen Widerspruch duldet. Betrachtungen aus anderen wissenschaftlichen Fächern zum Thema Geschlecht werden demgegenüber zu blossen «Behauptungen» degradiert.
Zu dieser problematischen Haltung passt Vollbrechts Weigerung, sich wissenschaftlicher Kritik an ihrem Vortrag zu stellen. Dass ihre Ausführungen Fehler enthalten könnten, schloss sie nämlich kategorisch aus («Mein Vortrag war korrekt») und die vorgebrachte Einwände seien «keine ernstzunehmende inhaltliche Kritik». Von der unvoreingenommenen und selbstkritischen Haltung, mit der Forschende gemeinhin ihren Anspruch auf einen gesellschaftlichen Sonderstatus verteidigen, ist hier nicht viel zu spüren. Auch Fragen wollte Vollbrecht nicht im Vortragssaal, sondern nur im Chat annehmen und die auch nur zu biologischen Sachverhalten, obwohl sie selbst keine Hemmungen hatte, in ihrem Vortrag Behauptungen zu sozialwissenschaftlichen Sachverhalten aufzustellen. Mit Wissenschaft hat all das wenig zu tun, dafür ganz viel mit Aktivismus auf Kosten der Wissenschaft.
Biologie ist Wissenschaft, Genderforschung ist Aktivismus
Vollbrecht hatte vor ihrem Vortrag auch einen Meinungsbeitrag in der «Welt» mitverfasst, der die Kernaussagen ihres Aufrufs wiederholte, «Vielgeschlechtlichkeit» pauschal als «Fehlinformation» bezeichnete und den öffentlich-rechtlichen Sendern «ARD» und «ZDF» «Indoktrination» vorwarf. Der Chef des Axel-Springer-Verlags, dem Mutterhaus der «Welt», kritisierte den Text daraufhin als «intolerant und ressentimentgeladen». Auch anderweitig gab es mediale Kritik. Man hätte also meinen können, dass die Medien bei der Berichterstattung zur Vollbrechts abgesagtem Vortrag auch ihre aktivistischen Tätigkeiten beleuchten würden, da sie diese offensichtlich auf dem Radar hatten. Doch das Gegenteil war der Fall: Viele Medien zeichneten Vollbrecht nicht als Aktivistin, sondern ausschliesslich als Wissenschaftlerin. Ebenso übernahmen sie in der Berichterstattung Vollbrechts aktivistische Perspektive, dass Aktivisten sie mundtot machen würden. Die Universität sei vor «radikalen, gewaltbereiten Aktivisten [eingeknickt], die kein Verständnis von Biologie [hätten]», mit dem Resultat, «dass eine Wissenschaftlerin nicht über Biologie sprechen [dürfe]».
Deutlich zeigt sich die Übernahme dieser Perspektive in der Berichterstattung der «NZZ»: Dort kämpft «Biologin Vollbrecht» gegen «Trans-Aktivisten». Kritik an den aktivistischen Forderungen von Vollbrecht und ihren Mitstreitern seien ein «Beispiel für Cancel-Culture». Auch in anderen Zeitungen und Zeitschriften – von der «NZZ» und der «FAZ» über die «Welt», den «Cicero» und den «Tagesspiegel» bis zum «Spiegel», zur «Süddeutschen Zeitung» und der «taz» – wurde Marie-Luise Vollbrecht als Doktorandin oder Biologin, nicht als Aktivistin, dargestellt.
Dazu passt, dass viele Medien den Inhalt von Vollbrechts Vortrag als «banales» biologisches Basiswissen bzw. als «Biologie auf Grundstufenniveau» dargestellt haben. Damit stärkten sie das Narrativ, dass Kritik daran rein ideologiegetrieben sei. Denn: Wer derart Banales kritisiert, könne nicht wissenschaftlich redlich handeln, sondern müsse eine versteckte Agenda haben, so die Logik. Doch banal sind die Ausführungen nur, wenn man den engen Geschlechtsbegriff, den aktivistische Forschende wie Vollbrecht allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen aufzudrücken versuchen, als den einzig zulässigen betrachten, um die komplexen Phänomene zu beschreiben, die im wissenschaftlichen und alltäglichen Sprachgebrauch als «Geschlecht» bezeichnet werden. Begründete Kritik an solchen verabsolutierenden Ansprüchen auf Deutungshoheit – die es im Übrigen auch innerhalb der Biologie zu hören gab – gehört zum Wesen der Wissenschaft dazu. Unwissenschaftlich sind also nicht diejenigen, die solche Kritik üben, sondern jene, welche sich dagegen immunisieren und die eigene Sichtweise zur einzig massgeblich erheben wollen.
Das soll nicht heissen, dass jede Kritik an Vollbrechts Vortrag begründet gewesen wäre. Sie war nachweislich Anfeindungen ausgesetzt, die mit wissenschaftlichen Einwänden nicht das Geringste zu tun haben. Dass dies medial thematisiert und kritisiert wurde, ist richtig. Irritierend ist jedoch, dass die Medien den Kulturkampf, den Vollbrecht mit anderen Aktivisten ausficht, zu einem Konflikt zwischen Wissenschaft auf der einen und Aktivismus auf der anderen Seite umdeuten. Die tatsächlichen Konfliktlinien waren nämlich vielfältiger. Sie verliefen in erster Linie zwischen unterschiedlichen aktivistischen Positionen und nur zweitrangig zwischen Aktivismus und Wissenschaft, geschweige denn zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen Sichtweisen. Hätten Journalisten ihren Job ernst genommen, hätten sie versucht, die Komplexität der Debatte zu adressieren und ihrem Publikum die verschiedenen politischen und wissenschaftlichen Konfliktlinien aufzuzeigen. Stattdessen wählten sie einen medialen Rahmen, der den Schreibtischaktivismus Vollbrechts gekonnt zum Verschwinden brachte, sodass sie – im Gegensatz zu ihren Gegenspielern – eine medial privilegierte Position zugesprochen erhielt, aus der sie agieren konnte.
Fallbeispiel 3: Vom Partner zum Produkt des Geschäfts
Die Medienberichterstattung zu Vollbrecht ist ein Extremfall, in dem wesentliche Teile der Medien die eine Seite ausschliesslich als wissenschaftlich, die andere ausschliesslich als aktivistisch darstellen. Häufiger kommt es vor, dass dieselbe Person von gewissen Medien als Aktivist, von anderen als seriöser Wissenschaftler porträtiert wird. Ein illustrierendes Fallbeispiel dafür liefert der Wissenschaftshistoriker Caspar Hirschi in seinem Buch «Skandalexperten – Expertenskandale». Im ersten Kapitel beschreibt Hirschi den Fall des Psychopharmakologen Prof. Dr. David Nutt und seine Auseinandersetzungen mit der britischen Regierung[1].
Nutt, ein ausgewiesener Fachmann bei der Erforschung der Auswirkungen verschiedener legaler und illegaler Drogen auf die Gesundheit des Menschen, wurde 2008 zum Präsidenten des «Advisory Council on the Misuse of Drugs» ernannt. Doch schon im darauffolgenden Jahr musste er seinen Posten wieder räumen, weil er sich mit der britischen Regierung bezüglich deren Drogenpolitik überworfen hatte. Stein des Anstosses war dabei die von Nutt geplante Überarbeitung des Klassifikationssystems, das die Regierung benutzte, um die Gefährlichkeit von Drogen zu bewerten. Insbesondere Nutts Absicht, die Einordnung der Droge Ecstasy zu überprüfen und in eine niedrigere Gefährlichkeitsstufe einzuordnen, löste politischen Widerstand aus.
Die Auseinandersetzung kostete ihn zwar seinen Posten als politischer Berater, hielt ihn aber nicht davon ab, seinen Einsatz für ein überarbeitetes Klassifikationssystem von Drogen weiterzuführen. Er veröffentlichte entsprechende Fach- und Meinungsartikel in wissenschaftlichen Zeitschriften und meldete sich auch in den Massenmedien wiederholt zu Wort. Dabei verwischte er zusehends die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Beratungstätigkeit und Aktivismus, indem er seine Auseinandersetzung mit der Regierung nicht nur auf der Sachebene austrug, sondern sie laut Hirschi zu einem «Grundsatzkonflikt zwischen Wissenschaft und Politik» hochstilisierte [2]. Befreit von «jeglicher Art politischer Einflussnahme» nahm Nutt für sich nicht nur in Anspruch, den wissenschaftlichen Konsens zu vertreten, sondern sogar «die Wahrheit über Drogen» verbreiten zu können [3]. Der britischen Regierung warf er vor, «nicht logisch über Drogen [nachdenken zu können]», wohingegen seine eigenen Provokationen – er hatte Pferdereiten als «Sucht» bezeichnet, die gefährlicher sei als Ecstasy-Konsum – bloss ein Anstoss zu einer «rationalen Debatte» gewesen seien. Damit verliess Nutt die Ebene des wissenschaftlichen Experten und verwandelte sich in einen Schreibtischaktivisten.
Nutts Fall ist bemerkenswert, weil er zeigt, dass schreibtischaktivistische Wissenschaftler schnell vom Partner zum Produkt des von Eichenberger angedeuteten Tauschgeschäfts zwischen wissenschaftlicher Legitimation und medialer Reichweite werden. Laut Hirschi waren die britischen Medien an Nutt und seinen Auftritten aus zwei Gründen interessiert: Sie wollten einerseits ein Sensationsbedürfnis befriedigen und andererseits ein Skandalpotential ausschöpfen [4]. Das Sensationsbedürfnis bestand in Nutts Aussagen zur Gefährlichkeit verschiedener legaler und illegaler Drogen, die ihnen Schlagzeilen bereiteten wie «Alkohol gefährlicher als Heroin». Hier zeigen sich Parallelen zu Reiner Eichenbergers CO2-Thesen. Eichenbergers Behauptung, Velofahrer seien klimaschädlicher als Autofahrer, widerspricht genauso den allgemein verbreiteten Vorstellungen und ist damit ähnlich sensationswürdig wie Nutts Einschätzung, dass Alkohol gefährlicher sei als Heroin.
Das Skandalpotential von Nutts Geschichte lag laut Hirschi darin, dass sie sich «zu einem Konflikt zwischen Experten und Politikern aufbauen» liess [5]. Hier zeigen sich Parallelen zur medialen Berichterstattung rund um Marie-Luise Vollbrecht. Auch dort dienten ihre inhaltlichen Aussagen nur als mediales Sprungbrett, um von dort auf den Konflikt zwischen Wissenschaft und Aktivismus zu fokussieren. Die Berichterstattung fokussierte zu einem wesentlichen Teil auf die Frage, ob die Wissenschaftsfreiheit in Gefahr sei oder ob solche Vorträge zugelassen werden müssten. Von dort war es ein Leichtes, weitere Skandale anzuheizen, indem die üblichen Reizwörter wie «Cancel Culture» oder «Gender-Ideologie» bedient oder neue Provokationen wie «Umerziehungs-Terror» lanciert wurden.
Missbrauchte Wissenschaft
Nutts Fall zeigt gut auf, dass sich medialer Schreibtischaktivismus sehr schnell gegen denjenigen wenden kann, der ihn praktiziert. Denn die medialen Geister, die Nutt rief, wurde er nicht mehr los: «Diffamierten konservative Blätter Nutt als arroganten Verharmloser des Drogenkonsums, heroisierten ihn linksliberale Medien zum aufklärerischen Vorkämpfer einer rationalen Drogenpolitik», so Hirschi [6]. Er kommt zum ernüchternden Schluss, dass «Experten als Exponenten der Wissensgesellschaft an medialer Präsenz gewonnen» hätten [7], aber nun neben der Politik auch den Medien zuarbeiten, wodurch sie «leichter zwischen Hammer und Amboss» gerieten [8]. Nutts Fehler lag laut Hirschi nicht darin, öffentlich Kritik zu üben, sondern «die Rolle des offiziellen Experten mit jener des öffentlichen Kritikers zu fusionieren» [9]. Angelehnt daran kann man sagen, dass das Problematische des Schreibtischaktivisten nicht darin liegt, Aktivismus zu betreiben, sondern darin, dafür gleichzeitig einen wissenschaftlichen Anspruch zu reklamieren.
Für die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit von Wissenschaft als eine einordnende und selbstkritische Kraft ist das verheerend. Denn über kurz oder lang fallen auch die medialen Privilegien vieler Schreibtischaktivisten in sich zusammen. Hirschi beschreibt dies in Bezug auf David Nutt als «mediales Strohfeuer und rasches Verglühen» [10]. Wenn es aus der Medienperspektive keinen Sinn mehr ergibt, einen Schreibtischaktivisten als seriösen Wissenschaftler zu präsentieren, dann wird er im nächsten Artikel wahlweise als «umstritten», «aktivistisch» oder sogar «verschwörungstheoretisch» dargestellt. Solche Kategorisierungen erfolgen nicht willkürlich, aber sie folgen einer medialen und keiner wissenschaftlichen Logik. Für eine Wissenschaft, die in den Medien privilegiert behandelt werden will, ist das insofern gefährlich, als solche medialen «Umetikettierungen» auch dem Publikum nicht verborgen bleiben. Damit wird aber jenes Narrativ genährt, das die Wissenschaft bloss als eine beliebige Meinung unter vielen betrachtet, im Sinne von: Diese Experten behaupten mal dies, mal das und wissen selbst nicht, wovon sie sprechen.
Mit jedem «medialen Strohfeuer», das ein Schreibtischaktivist entfacht und das über kurz oder lang mit seinem «Verglühen» endet, verglüht auch ein Teil des Nimbus der wissenschaftlichen Unabhängigkeit, Unvoreingenommenheit und Universalität. Das kann durchaus wünschenswert sein, wenn dadurch jene Wissenschaftler verstärkt Gehör erhalten, die ein realistisches Bild davon vermitteln, was Wissenschaft kann oder eben nicht kann. In der gegenwärtigen Medienlandschaft scheint es jedoch wahrscheinlicher, dass es in den Medien zu einer Polarisierung zwischen populistischer Wissenschaftskritik auf der einen Seite und unreflektierter Wissenschafts-PR auf der anderen Seite kommt. Auch das bewegt die Gemüter, aber vermutlich nicht in eine Richtung, die Wissenschaft und Gesellschaft zuträglich ist.
Referenzen:
[1] Hirschi, C. (2018). Skandalexperten, Expertenskandale: Zur Geschichte eines Gegenwartsproblems. Matthes & Seitz Berlin Verlag. S. 47. Eine fast deckungsgleiche Rhetorik legten einige Jahre später einige Mitglieder der Schweizer Swisscovid-Taskforce bei ihrem Rücktritt an den Tag. Sie bemängelten das «politische Korsett» der Regierung und versprachen nach ihrem Rücktritt «ungefilterte wissenschaftliche Aufklärung». Siehe dazu: Servan Grüninger
(2021.04.28). Denn sie wissen was sie tun: warum Forschende aufhören sollten, Politiker zu unterschätzen. Neue Zürcher Zeitung.
[2] Ibid. S. 30-48
[3] Ibid. S. 47
[4] Ibid. S. 53
[5] Ibid. S. 54
[6] Ibid. S. 54
[7] Ibid. S. 55
[8] Ibid. S. 55
[9] Ibid. S. 58
[10] Ibid. S. 58
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