Digitalisierung6

Keine Digitalisierung ohne Wissenschaft!

Will die Schweiz die Chancen der Digitalisierung nutzen, müssen die Wissenschaften eine stärkere Rolle in politischen Diskussionen spielen. Aber wie?

Wir können in der aktuellen Digitalisierungs-Debatte viel von den Debatten über Globalisierung lernen. Zu spät wurden in dieser nämlich Fragen gestellt und beantwortet, zu schnell teilte sich die Politik in radikale Befürworter und radikale Gegner auf. Dasselbe droht nun auch mit der Digitalisierung. Zwei Parteien dominieren zurzeit die Diskussion rund um Digitalisierung: auf der einen Seite die Technikgegner, die am liebsten alles so bleiben lassen wollen, wie es ist, auf der anderen Seite die Technikeuphoriker, denen es nicht schnell genug gehen kann, bis jeder Politiker durch eine App ersetzt wurde. Wie bei der Globalisierung wird mit übertriebenen Vereinfachungen gearbeitet. Immer wieder tauchen in Diskussionen und selbst in Gesetzestexten Aussagen und Forderungen auf, die bei genauerem Hinschauen nicht wirklich Sinn ergeben und das Potenzial der Digitalisierung nicht nutzen oder sogar ausbremsen.

Bürger*innen wie Politiker*innen geraten in einen aussichtslosen Wettkampf um den nächsten Hype-Zyklus. Verursacht wird dies durch die rasante Geschwindigkeit des technologischen Wandels kombiniert mit einer auf Viralität ausgerichteten Debattenkultur über die sozialen Medien. Sofort soll man bereit sein, politische Forderungen zum neusten Trend anzubieten. Sofort müssen Gesetze und neue Regeln geschrieben oder abgebaut werden, je nach politischer Zugehörigkeit. Der Druck, sich sofort einigermassen kompetent zu neuen Technologien und deren Auswirkungen äussern zu müssen, führt zu den folgenden zwei Problemen.

Problem 1: Die Komplexität der Digitalisierung offenbart Wissenslücken

Im April dieses Jahres muss sich in den USA Facebook-Gründer Mark Zuckerberg dem Senat stellen. Es geht um die Daten von 87 Millionen Facebook-Profilen, die zur Beratungsfirma Cambridge Analytica durchsickerten. Bei der Anhörung zeigte sich schnell eine Schwäche des Politisierens rund um die digitale Welt: Die Senatoren haderten mit Zuckerbergs Geschäftsmodell und verpassten es aufgrund ihres fehlenden technischen Detailwissens, die wirklich wichtigen Fragen zu stellen. Was zeigt uns das? Erstens ist es aufgrund fehlender Informationen in verständlicher Form so gut wie unmöglich, sich einen ausgewogenen Überblick zu verschaffen. Politiker*innen aber auch deren Wähler*innen sind sich dieser Wissenslücken teilweise nicht bewusst oder ignorieren sie. Das Problem des fehlenden Wissens lässt sich anhand der hitzig geführten Diskussionen um die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt zeigen. Einige warnen vor der Vernichtung der Arbeitsplätze durch Roboter, andere setzen sich für Sondergesetzgebungen für einzelne Technologien ein – Stichwort Lex Booking. Klar ist, dass die Digitalisierung grundlegende Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat. Arbeitnehmer können durch Roboter oder künstliche Intelligenz ersetzt werden. Sie könnten aber auch in ihrer Arbeit unterstützt werden. Komplett neue Jobs könnten entstehen. Fakt ist: Es fehlt an verlässlichen Daten und dem nötigen Wissen. Die Folgerung daraus: Es braucht mehr Forschung für eine gute Entscheidungsgrundlage.

Problem 2: Der Blick fürs Ganze geht verloren

Das zweite Problem ist, dass eine politische Debatte, welche sich nur auf die konkreten Einsatzgebiete bestimmter Technologien fokussiert, die wichtigste Ebene verpasst. Genau wie es bei der Globalisierung um mehr ging als Zollschranken, so geht es bei der Digitalisierung um mehr als E-Voting oder die elektronische Unterschrift. Die zu Schlagworten avancierten Begriffe «Disruption» und «Transformation» sind keine Hirngespinste, sondern integrale Bestandteile einer richtig verstandenen Digitalisierung. Digitalisierung – dieses Wort mag im Deutschen verwirrend klingen, da es vorgibt, es ginge nur darum, das heute Bestehende zu digitalisieren. Es geht aber auch darum, das heute Existierende neu zu denken! Das betrifft sowohl wirtschaftliche Prozesse wie auch politische Institutionen. Spannend und gewinnbringend wird die Debatte über die Digitalisierung, wenn sie auf dieser grundsätzlichen Ebene stattfindet und Fragen stellt wie: Welche Aspekte des Zusammenlebens und Wirtschaftens könnten durch die Digitalisierung betroffen sein und auf welche Weise? Für welche gesellschaftlichen Ziele wollen wir die neuen Technologien einsetzen? Oder mit Blick auf das obige Beispiel des Arbeitsmarktes: Wie sieht Arbeit im 21. Jahrhundert aus? Eine digitale politische Philosophie könnte Antworten auf solche Fragen liefern! Dann würde z.B. die Diskussion um konkrete Fragen einzelner Technologien besser funktionieren. Diese Diskussion läuft nämlich heute Gefahr, zu einer inkohärenten Sammlung von Schnellschüssen zu führen, da die grundlegenden Fragen bisher unbeantwortet blieben.

Die Lösung: Eine informierte Debatte

Damit die Digitalisierung für alle zur Chance wird, müssen wir ihre potenziellen Vor- und Nachteile verstehen und herausarbeiten. Hierfür braucht es eine informierte Debatte. Damit diese stattfinden kann, braucht es wiederum drei Dinge: i) Wissen; ii) Szenarien; iii) die Bereitschaft zum Dialog.

Aufgrund des transformativen Charakters der Digitalisierung bieten sich transdisziplinäre Teams zur Generierung neuen Wissens an. Es geht schliesslich nicht nur um technische Fragestellungen, sondern auch um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen der Digitalisierung. In der Akademie wurde dies, auch in der Schweiz, erkannt und entsprechende Forschung wird bereits gefördert. Diese muss jedoch vom Elfenbeinturm in die politischen Diskussionen fliessen und hierfür bis zu einem bestimmten Grad „übersetzt“ werden. Genau wie bei der Globalisierung, wenn nicht noch mehr im Falle der Digitalisierung, werden Diskussionen schnell kompliziert und abstrakt. Datenströme sind noch schlechter fassbar als Warenströme. Indem konkrete Szenarien für die digitale Zukunft entwickelt werden, wird die Digitalisierung greifbarer. Konzepte, die heute noch abstrakt scheinen, wirken verpackt in eine Zukunftsgeschichte plötzlich konkreter. Wenn wir die Digitalisierung als Chance packen wollen, dann müssen wir hierfür die richtigen Worte und Geschichten finden.

Wer Wissen und Geschichten schafft, der braucht zum Erfolg aber ein Publikum. Deshalb geht es nicht ohne die Bereitschaft zum Dialog. Die Debatte wird dann fruchtbar, wenn sich Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik aktiv einbringen und die richtigen Fragen stellen und die wissenschaftlich fundierten Antworten darauf zur Kenntnis nehmen.

Was die Wissenschaft beitragen kann

Warum die Wissenschaft? Weil sie dazu da ist, sich vertieft mit den komplexesten Themen auseinanderzusetzen und der Rolle einer unabhängigen Beraterin für Politik und Gesellschaft am nächsten kommt. Wo Eigeninteressen vorhanden sind, müssen diese kritisch reflektiert werden.

Die Wissenschaften sind gleich mehrfach gefordert. Einerseits müssen möglichst schnell Fehlinformationen und Missverständnisse behoben werden, damit bereits laufende Debatten verbessert werden können. Andererseits gilt es, das nötige Wissen und die Fakten für künftige Diskussionen aufzubauen. Dabei darf die kritische Selbstreflexion über interne Anliegen und Normen nicht fehlen, um glaubwürdige Inputs zu liefern. Ausserdem muss das generierte Wissen in den politischen Prozess eingespeist und dabei so verpackt werden, dass es einen gewinnbringenden Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Diskussion leisten kann. Es gibt bereits viele engagierte Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftliche Akteure, doch politisches Gehör finden sie – nicht zuletzt aufgrund „schlechter Verpackung“ – meist nicht. Sie sind zu technologielastig, zu „nerdig“.

Wie bereits angetönt braucht es für die Einspeisung des Wissens nicht nur gute Erzählungen, sondern auch die Neugier und den Willen zum Zuhören und zur Debatte. Damit die Debatte um die Realisierung der Chancen der Digitalisierung weitergeführt wird, können sich die Wissenschaften für einen ernstgemeinten Dialog mit allen Beteiligten einsetzen. So könnten z.B. noch mehr öffentliche Podien zu Digitalisierungsthemen durchgeführt werden, welche nicht nur den aktuellen Stand der Forschung aufzeigen, sondern ausserdem Vertreter*innen der Wirtschaft und Politik die Möglichkeit geben, ihre Perspektiven darzulegen und sich den Fragen des Publikums zu stellen. Neben Universitäten und Fachhochschulen auch in Berufsschulen und an Gymnasien.

Bereits heute haben Forschende die Möglichkeit sich (bspw. im Rahmen von Vernehmlassungen oder speziellen Hearings) mit spezifischem Fachwissen in den politischen Prozess einzubringen. Dies ist jedoch stets mit viel Aufwand verbunden. Ganz zu schweigen davon, dass der Durchschnittsbürger oft keinen Nutzen aus solchen Beratungen ziehen kann. Eine Möglichkeit diesen Prozess zu verbessern, wäre ein öffentlicher Werkzeugkasten zur Digitalisierung. Er würde kollaborativ von den aktuell am Thema forschenden Wissenschaftler*innen erarbeitet und könnte die aktuellsten Erkenntnisse zusammenfassen. Der Werkzeugkasten könnte aktuell zur Debatte stehende Technologien verständlich erklären und möglichst viele Fakten zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkung jener Technologien beinhalten. Wie funktioniert das Internet? Was sind die grossen Fragen bei Internet-Governance? Was ist eine Blockchain und was ist ihre mögliche politische Bedeutung? Welche Rollen spielen Daten für künstliche Intelligenz und was unterscheidet Daten von anderen Rohstoffen? Diese und weitere konkrete Fragen soll der Digitalisierungs-Werkzeugkasten adressieren. Politiker*innen und deren Wähler*innen könnten dadurch unter anderem den Gesetzgebungsprozess verbessern. Wird z.B. eine Regulierung vorgeschlagen, die in bisherigen Märkten durchsetzbar war, allerdings nicht im Internet greift, können sowohl Politiker als auch Wähler solche Vorgänge mittels des Toolkits kritisch hinterfragen. Somit wird der Politik bzw. der Gesellschaft das Werkzeug in die Hand gegeben, sich bei Diskussionen um Digitalisierung nicht unwissend zu fühlen. Dabei geht es neben „technischem“ Wissen auch darum, die normativen Fragen besser identifizieren und diskutieren zu können.

Um die Debatte rund um die Digitalisierung voranzutreiben und deren Potenzial aufzuzeigen, sollte die Wissenschaft an Szenarien für die Zukunft arbeiten. Notwendig wäre hierbei insbesondere, dass die Forschungsfragen die Bedürfnisse der Gesellschaft widerspiegeln. Dies liesse sich bereits heute umsetzen. So wäre es beispielsweise denkbar, mittels Crowdsourcing abzuklären, wo der grösste Klärungsbedarf besteht. Die Forschungsarbeit könnte dann an diesen Wünschen ausgerichtet werden, um sicherzustellen, dass die produzierten Erkenntnisse einen Mehrwert für die politischen Debatten mit sich bringen. Genau wie beim Toolkit ist hier die Transdisziplinarität entscheidend. Informatiker arbeiten mit Philosophen und Künstlern an der digitalen Schweiz der Zukunft, in verschiedenen Versionen. Der Prozess der Szenariengenerierung ist dabei nicht ein isolierter, einmaliger Prozess: durch die Erarbeitung eines Szenarios werden weitere Fragen sichtbar, um deren Beantwortung sich Politik, Gesellschaft und Wissenschaft kümmern können. Erarbeiten wir zusammen eine Sammlung möglicher Szenarien für die digitale Schweiz!

Autor*innen

Nicolas Zahn

Autor*in

Vorstandsmitglied, Franxini-Projekt

Nicolas Zahn studierte in Zürich, Genf und Washington D.C. Politikwissenschaft und internationale Beziehungen. Nach ersten Beratungserfahrungen in der Finanzbranche widmete er sich im Rahmen des Mercator Kollegs für internationale Aufgaben der Fragestellung, wie der öffentliche Sektor von der Digitalisierung profitieren könnte. Seit 2019 arbeitet er als Berater bei der Schweizer IT-Firma ELCA Informatik AG.

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