Knoten

Irrungen, Wirrungen – Die Ursprünge der Knotentheorie

Die Knotentheorie, eines der aktivsten mathematischen Fachgebiete, entstand im 19. Jahrhundert aus einer gewagten - und völlig falschen - Theorie über die Grundbausteine unseres Universums. Ihre Geschichte zeigt, wie unvorhersehbar wissenschaftlicher Fortschritt sein kann.

Man nehme ein Stück Schnur, verknote es und klebe anschließend die beiden losen Enden zusammen, sodass man eine geschlossene Schlaufe erhält. Das Resultat nennt man in der Mathematik einen Knoten. Ein solcher Knoten besitzt keinen Anfang und kein Ende; geht man von einem bestimmten Punkt aus immer an der Schnur entlang, gelangt man unweigerlich wieder zum Ausgangspunkt zurück. Er lässt sich außerdem nicht entknoten, ohne dabei die Schnur mit einer Schere zu durchtrennen.

Die Knotentheorie, also das mathematische Fachgebiet, das sich mit Knoten und ihren Eigenschaften befasst, ist heute eines der aktivsten Forschungsfelder in der Mathematik.

Die Knotentheorie begann sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert zu einem eigenständigen mathematischen Gebiet herauszuformen. Die beiden britischen Wissenschaftler William Thomson und Peter Guthrie Tait hatten sich Grosses vorgenommen: Sie versuchten, eine allumfassende Theorie der Grundbausteine unseres Universums zu entwickeln.

William Thomson wurde 1824 als Sohn eines Mathematikprofessors in Belfast geboren. Wie sich schnell herausstellte, war er ein mathematisches Ausnahmetalent. Bereits im Kindesalter begann er, sich umfassende und tiefreichende mathematische, physikalische und technische Kenntnisse anzueignen. Mit 11 Jahren baute er mit seinem Bruder eine „elektrische Maschine“, mit der er den anderen Familienmitgliedern regelmäßig Elektroschocks erteilte. Mit 16 Jahren erschien sein erster Aufsatz in einer mathematischen Fachzeitschrift; mit 22 war er Professor für Natural Philosophy in Glasgow (Smith, 2004).

Thomson, später als Lord Kelvin in den Adelsstand erhoben, kennt man heute vor allem durch die Kelvin-Skala, eine Skala zur Messung von Temperatur, die er 1848 entwickelte.

Weniger bekannt ist sein Einfluss auf die Entwicklung der Knotentheorie. Es waren jedoch Thomsons Theorien zur Natur der Atome, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das mathematische Interesse an Knoten zum Aufflammen brachten.

Neue Entwicklungen in Chemie und Physik hatten Mitte des 19. Jahrhunderts den Atomismus, also die These, dass Materie aus winzigen Atomen aufgebaut ist, zur attraktiven Option für viele Wissenschaftler gemacht. Doch bei weitem nicht alle waren überzeugt. Es bestand Uneinigkeit: Was genau sollten Atome eigentlich sein?

Thomson gehörte zu jenen, die von der Vorstellung von Atomen als kleinen, festen Kügelchen nicht überzeugt waren. Er hatte sich bereits als junger Mann Gedanken über die Zusammensetzung der Materie gemacht, dazu zunächst allerdings nichts veröffentlicht (Kragh, 2002, S. 35). Den Anstoß zu einer erneuten Beschäftigung mit der Thematik gab ein Experiment, das Thomsons jüngerer Kollege Peter Guthrie Tait ihm im Januar 1867 in Edinburgh vorführte.

Tait war wie Thomson ein brillanter Mathematiker und Physiker. Er hatte in Cambridge am selben College wie Thomson studiert (allerdings einige Jahre später) und schloss dort als Jahrgangsbester ab. Die beiden verband eine enge persönliche und intellektuelle Beziehung. Tait war nicht nur ein außerordentlich talentierter Wissenschaftler – er war auch ein begnadeter Pädagoge. Seine Vorlesungen in Natural Philosophy, die er seit 1860 an der Universität Edinburgh hielt, waren packend und sprühten vor Energie. J. M. Barrie, Autor von Peter Pan und als junger Mann Student von Tait, sagte über ihn: «Nie kann es einen großartigeren Lehrer gegeben haben» (Silver, 2006, S. 160).

Bestandteil seiner Vorlesungen war ein Experiment, bei dem er mithilfe einer von ihm angefertigten Box Rauchringe produzierte. Die Box besaß auf der einen Seite eine Runde Öffnung, auf der anderen Seite eine Membran. In ihrem Inneren war sie mit Rauch gefüllt. Schlug Tait auf die Membran, trat aus der Öffnung ein Rauchring hervor, der heftig vibrierte, aber dennoch seine Form behielt, während er sich unter dem Staunen aller Anwesenden quer durch den Vorlesungssaal bewegte (Kragh, 2002, S. 38).

Zu seiner Rauchring-Vorführung inspiriert hatte Tait ein 1858 erschienener Aufsatz des deutschen Physikers Hermann von Helmholtz. Helmholtz untersuchte darin das Verhalten von Wirbelringen in einer sogenannten «idealen Flüssigkeit».

Einen Wirbelring erhält man, indem man eine um ihre eigene Achse rotierende Säule – diese kann aus einer beliebigen Flüssigkeit oder einem Gas bestehen – nimmt und diese zu einem Ring verformt. Auf der Innenseite dieses Rings bewegt sich die Flüssigkeit oder das Gas dadurch in die eine Richtung, auf der Außenseite in die andere.

Eine ideale Flüssigkeit ist die physikalische Modellvorstellung einer Flüssigkeit, die keinerlei Reibung besitzt. Helmholtz wies in seinem Aufsatz nach, dass sich ein Wirbelring in einer idealen, den gesamten Raum füllenden Flüssigkeit von selbst nie wieder auflöste, wenn er sich einmal gebildet hatte.

Taits Demonstrationen mit den Rauchringen, entfachten bei Thomson schlagartige Begeisterung. «Wirbelbewegungen haben gerade alles andere verdrängt, seit mir Tait vor ein paar Tagen eine großartige Art gezeigt hat, sie herzustellen», schrieb er 1867 in einem Brief an Helmholtz.

Bei der Betrachtung von Taits Rauchringen war ihm eine entscheidende Idee gekommen: «Wenn es eine ideale Flüssigkeit gibt, die den gesamten Raum füllt und die Substanz aller Materie bildet, dann wäre ein Wirbelring [aus dieser Flüssigkeit] ebenso dauerhaft wie die festen, harten Atome, die Lukrez und seine Anhänger (und Vorgänger) angenommen hatten, um die dauerhaften Eigenschaften von Körpern (wie Gold, Blei usw.) und die Unterschiede in deren Beschaffenheit zu erklären.» (Epple, 1999, S. 106)

Thomson kombinierte Helmholtz’ theoretisches Ergebnis, dass Wirbelringe in einer idealen Flüssigkeit unzerstörbar sind, mit der Annahme, dass der gesamte Raum von einer solchen idealen Flüssigkeit gefüllt sei. Das erlaubte es ihm, die Vorstellung von Atomen als kleinen, harten Kügelchen durch ein anderes Bild zu ersetzen: Atome als winzige Wirbelringe in jener idealen, raumfüllenden Flüssigkeit.

Für die Rolle der idealen Flüssigkeit hatte Thomson wohl den sogenannten Äther im Sinn, eine Substanz von der man unter anderem glaubte, sie sei das Medium, in dem sich Lichtwellen bewegten. Über die genaue Eigenschaften des Äthers herrschte zwar innerhalb der Wissenschaft einige Uneinigkeit – von seiner Existenz jedoch waren die meisten Wissenschaftler bis ins frühe 20. Jahrhundert überzeugt.

Tait, der Thomsons Wirbelring-Hypothese zunächst mit Skepsis begegnet war, entwickelte sich in den folgenden Jahren zum Anhänger und nahm sie als festen Bestandteil in seine Edinburgher Vorlesungen auf (Epple, 1999, S. 126).

Er beschäftigte sich außerdem mit der Frage, wie mit der Wirbelring-Hypothese erklärt werden konnte, dass die verschiedenen Elemente unterschiedliche Eigenschaften hatten. Thomson hatte vorgeschlagen, dass verschiedene Typen von Wirbelringen existierten, die auf unterschiedliche Art und Weise verknotet und ineinander verschlungen waren. Den verschiedenen Typen, so seine Vermutung, entsprachen die verschiedenen Elemente. Ihre unterschiedlichen Eigenschaften seien durch die unterschiedlichen Arten der Verknotung zu erklären.

Um diesen Gedanken zu einer wissenschaftlichen Theorie auszuarbeiten, brauchten Thomson und Tait einen Weg, die verschiedenen Arten, auf die ein Ring verknotet sein kann, mathematisch zu systematisieren. Das klingt nach einem Fall für die Knotentheorie. Nur, dass diese damals noch kaum existierte.

Was Tait in den folgenden Jahren leistete, kam einer Herkulesaufgabe gleich. Knotentheorie war größtenteils mathematisches Neuland; das meiste musste erst noch entwickelt werden.

Tait begann, Knotentabellen zu erstellen. Eine Knotentabelle gibt Auskunft darüber, welche Knoten mit einer bestimmten Anzahl an Fadenüberkeuzungen es überhaupt gibt. Zum Beispiel gibt es nur zwei (spiegelbildliche) Knoten, bei denen sich der Faden genau drei Mal kreuzt. Es gibt keine Knoten, bei denen sich der Faden nur ein oder zwei Mal kreuzt, denn diese lassen sich stets zu einem einfachen Ring, ähnlich einem Haushaltsgummi, aufdröseln. (Anregung: mit einem Stück Faden ausprobieren!)

In den Jahren ab 1876 veröffentlichten Tait und andere Mathematiker Knotentabellen, die Knoten mit immer mehr Kreuzungen auflisteten (Hoste et al, 1998). Die Zahl der Knoten bis zu einer gewissen Anzahl an Kreuzungen nimmt exponentiell mit der Anzahl der Kreuzungen zu. Deshalb wird es mit steigender Kreuzungszahl immer schwieriger, vollständige Tabellen zu erstellen (Adams, 2004, 34). Was Tait und seine Kollegen von Jahrzehnte an mühevoller Handarbeit kostete, machen heute Computer. 2003 gelang es einem Team von Mathematikern, eine Tabelle von Knoten mit bis zu 22 Kreuzungen zu erstellen. Sie enthält über 6 Milliarden Einträge; ein Computer brauchte eineinhalb Tage, um sie zu berechnen (Hoste et al, 2005).

Trotz der Bemühungen Thomsons, Taits und anderer Wissenschaftler begann sich gegen Ende der 1880er Jahre abzuzeichnen, dass sich Thomsons Theorie für die Physik als eine Sackgasse erweisen würde. Das lag zum einen daran, dass sich die mathematische Ausarbeitung der Theorie als zu schwierig erwies. Zum anderen widersprachen die Vorhersagen der Theorie zum Teil experimentellen Beobachtungen, wodurch Thomson und seine Mitstreiter dazu gezwungen wurden, immer kompliziertere Hilfshypothesen aufzustellen. 1887 musste Thomson zugeben, dass das günstigste Urteil, das er erwarten dürfte, wohl «nicht bewiesen» sei (Epple, 1999, S. 123).

Der Entwicklung der Knotentheorie als mathematisches Fachgebiet tat das allerdings keinen Abbruch mehr. Das Interesse der Mathematiker hatte sich ohnehin schon bald von Fragen der Anwendung gelöst und Problemen der reinen Mathematik zugewandt. Selbst Tait ging im zweiten und dritten Teil von On Knots, seinem Standardwerk über Knotentheorie, schon gar nicht mehr auf Thomsons Wirbelring-Hypothese ein. (Kragh, 2002, S. 48) Die Knotentheorie hatte sich zum eigenständigen mathematischen Gebiet entwickelt.

Es dauerte ein Jahrhundert, bis man erneut Anwendungen der Knotentheorie in den Naturwissenschaften fand. Heute reichen diese von der Genetik, wo Wissenschaftler*innen mithilfe der Knotentheorie untersuchen, wie bestimmte Enzyme die DNA verknoten, bis zur Quantenmechanik (Adams, 2004) (Silver, 2006, S. 158).

So führt uns die Knotentheorie die Unvorhersehbarkeit wissenschaftlichen Fortschritts vor Augen. Entstanden aus einer gewagten Hypothese, die sich als grundfalsch herausstellte, trägt sie heute Früchte in ganz anderen Anwendungsgebieten, auf die ihre Erfinder wohl nicht einmal im Traum gekommen wären.

Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Sommerakademie «Symmetrien – Mathematische Spielereien in Kombinatorik und Geometrie» der Schweizerischen Studienstiftung und wurde redaktionell begleitet von Reatch. Den Originalbeitrag findest du hier.

Adams, Colin. The Knot Book: An Elementary Introduction to the Mathematical Theory of Knots. Providence, R.I: American Mathematical Society, 2004.

Epple, Moritz. Die Entstehung der Knotentheorie: Kontexte und Konstruktionen einer modernen mathematischen Theorie. Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag, 1999. https://doi.org/10.1007/978-3-322-80295-8.

Hoste, Jim. ‘Chapter 5 - The Enumeration and Classification of Knots and Links’. In Handbook of Knot Theory, edited by William Menasco and Morwen Thistlethwaite, 209–32. Amsterdam: Elsevier Science, 2005. https://doi.org/10.1016/B978-044451452-3/50006-X.

Hoste, Jim, Morwen Thistlethwaite, and Jeff Weeks. ‘The First 1,701,936 Knots’. The Mathematical Intelligencer 20, no. 4 (1 September 1998): 33–48. https://doi.org/10.1007/BF03025227.

Kragh, Helge. ‘The Vortex Atom: A Victorian Theory of Everything’. Centaurus 44, no. 1–2 (July 2002): 32–114. https://doi.org/10.1034/j.1600-0498.2002.440102.x.

Silver, Daniel S. ‘Knot Theory’s Odd Origins: The Modern Study of Knots Grew out an Attempt by Three 19th-Century Scottish Physicists to Apply Knot Theory to Fundamental Questions about the Universe’. American Scientist 94, no. 2 (April 2006): 158–65.

Smith, Crosbie. ‘Thomson, William, Baron Kelvin (1824–1907), Mathematician and Physicist’. In Oxford Dictionary of National Biography. Oxford University Press, 23 September 2004. https://doi.org/10.1093/ref:odnb/36507.

Autor*innen

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Victor Joss studiert Philosophie am Clare College, Cambridge.

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