Dialog 16

Increase the Surface Area!

Wissenschaftler:innen und Menschen aus Politik und Verwaltung sind keine zwei verschiedene Spezies. Doch was einem nicht oft im Alltag begegnet, das bleibt einem häufig fremd. Wie können beide Seiten also verstehen, dass es sich bei der anderen Spezies auch einfach um Menschen handelt? Menschen mit anderen Fähigkeiten und Eigenheiten, mit anderen Perspektiven und anderem Wissen? Wie wäre es mit mehr geteilten Kaffeepausen, Flurgesprächen und gemeinsamen Über-die-Steuerrechnung-Beschweren?

Dieser Text ist im Rahmen des Reatch Ideenwettbewerbs 2023 entstanden. 2023 war ein besonderes Jahr für die Schweiz: Wir feierten 175 Jahre Bundesverfassung und damit 175 Jahre Schweizer Bundesstaat. Das nahmen wir zum Anlass, um nach Ideen für die Zukunft der Schweiz zu suchen. Welche Weichen müssen wir heute stellen, damit im Jahr 2198 die Menschen mit dem gleichen Stolz auf 2023 zurückblicken, wie wir heute auf die Entwicklungen seit 1848? Eine Auswahl der eingereichten Ideen wird auf www.reatch.ch veröffentlicht.

“Was regt dich auf und kannst du ändern?” – Rahel Schmidt, 1. Platz Ideenwettbewerb 2022

Darauf gebe ich gerne eine Antwort! Seit gut ein paar Monaten arbeite ich nun bei SPEED2ZERO an der ETH Zürich im Bereich der Wissenschaftskommunikation. Um mich zu akklimatisieren, habe ich viele Tage und Abende an Workshops, Podiumsdiskussionen, Apéros und dergleichen verbracht, um sowohl die Forschenden dieser Initiative in der Schnittstelle Klima, Energie und Biodiversität kennenzulernen als auch die Menschen aus Politik, Verwaltung und der breiten Öffentlichkeit, mit denen “wir Wissenschaftler:innen” besser kommunizieren sollen.

Was ist mir dabei aufgefallen? Trotz dieser Veranstaltungen sind sich beide Seiten nicht so ganz sicher, was die andere Seite denn eigentlich so macht im Alltag. Punktuell kommt man zusammen und doch bleibt man sich am Ende des Tages ein wenig fremd.

Des Weiteren habe ich mich immer wieder gefragt, wie viele der versammelten Wissenschaftler:innen mit den Beamt:innen und Politiker:innen etc. tatsächlich persönlich befreundet sind. Ich denke, diese Frage ist zentral, denn die eigene Meinung wird am stärksten durch das eigene soziale Umfeld geformt.

Die Idee

Aus Sicht einer Physikerin handelt es sich um ein Diffusionsproblem. Die Teilchen aus der Forschung und die Teilchen aus Verwaltung und Politk vermischen sich auf der Skala ihres alltäglichen Lebens nicht genug. Also was tun? Increase the surface area! Vergrössern wir die Kontaktoberfläche zwischen den Teilchensorten!

Aber wie? Das sind busy people, wird mir gesagt. Die kannst du nicht einfach so zu mehr informellen, lockeren Anlässen einladen. Schon gar nicht regelmässig. Na gut. Suchen wir also den gemeinsamen Nenner: Sowohl Wissenschaftler:innen als auch Menschen in Politik und Verwaltung müssen arbeiten. Mehrere Stunden jeden Tag. Zufälligerweise tun sie das des Öfteren auch im gleichen Stil: am Schreibtisch.[1]

Wie wäre es also nun, wenn ein Teil der jährlich Tausenden von Stunden, welche beide Seiten an Schreibtischen verbringen, nicht in unterschiedlichen Gebäuden verticken? Was wäre, wenn die Wissenschaftler:innen an ein paar Hundert Stunden im Jahr nicht ins home office wechseln, sondern an einen Schreibtisch in einem Regierungsgebäude? Und die Beamt:innen in ein Unigebäude?

Wie sähe solch ein Alltag aus? Gemeinsame Kaffeepausen. Flurgespräche. Gemeinsames Über-die-Steuerrechnung-Beschweren beim Anstehen an der Mikrowelle – geteiltes Leid schweisst zusammen. Es wäre ein Kennenlernen im stinknormalen Alltag.

Wenn man einen Moment mal seine eigene Arbeit satthat, dann kann man einfach mal so mutig sein und zehn Minuten am Nachbartisch über die Schulter schauen: Was machen Sie denn da? Was ist das für ein Graph? Woher haben Sie denn diese Zahl? Was meinst Du eigentlich zu dieser neuen Studie? Es wäre Wissenstransfer nicht in geballten Powerpoint-Slides, sondern im sachten Tröpfchenformat.

Der Kontext

Klar, dieses Durchmischungsproblem ist nicht ganz unbekannt. Vielmehr ist diese Erkenntnis ja gerade das, was nicht nur Organisationen wie reatch antreibt, sondern auch die ETH Domain dazu bewegt hat, Millionen von Franken in die sogenannten Joint Initiatives zu stecken, zu denen auch SPEED2ZERO zählt. Diese sollen nicht nur gesellschaftsrelevante Forschung, z.B. zu Nachhaltigkeit, betreiben, sondern auch explizit den Dialog mit der Gesellschaft fördern.

In der Praxis heisst das, dass Initiativen wie SPEED2ZERO oder ENGAGE zusammen mit Schnittstellen wie dem Science-Policy Interface der ETH Zürich sich den Kopf darüber zerbrechen, welche Kommunikationsformate und -kanäle denn effektiv sind, um diesen Dialog zu stärken.[2] Es soll ein Ökosystem wachsen von Blogs, Videos, Beiträgen auf sozialen Medien, interaktiven Karten und Daten, öffentlichen Veranstaltungen sowie persönlichen Kontakten, durch das sowohl mehr Information aus dem Elfenbeinturm heraus als auch in ihn hinein fliessen soll. So werden wissenschaftliche Einsichten in Zukunft besser in gesellschaftliche Realitäten eingebettet. Eine Zukunft, die sich laut der Umfrage des Science Barometer Switzerland 2019 ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung wünscht.[3]

Der Mehrwert

Wenn es schon all diese Initiativen gibt... Was ist dann der Mehrwert dieses Vorschlags?

Es braucht mehr regelmässige Möglichkeiten mit niedriger Hemmschwelle, durch die motivierte neugierige Menschen aus Forschung, Verwaltung und Politik einfach mal den gegenseitigen Kontakt suchen können.[4] Unkompliziert. Denn momentan finden zwar zahlreiche Stakeholder-Workshops statt, bei denen die Joint Initiatives gesellschaftliche Vertreter:innen an Universitäten einladen, um ihre Perspektiven zu hören und in die Entwicklung von Forschung und Kommunikationsformaten einzubinden. Doch diese Anlässe sind singulär und jedes Mal ein grosser Aufwand, sie zu organisieren.

Darum: Vergrössern wir die Kontaktoberfläche. Statt vereinzelten Stakeholder-Workshop-Informations-Wasserfällen gerne auch ein kontinuierliches Kennenlernen und Informationströpfchen-Diffusion im Alltag.

Umsetzung

Wie bekommen wir das hin? Zum Beispiel via eine simple Booking-Platform. Geht jemand in einem Bundesamt ins homeoffice oder auf Geschäftsreise, kann sie einfach ihren üblichen Schreibtisch online freischalten. Ein:e neugierige:r Wissenschaftler:in, und vice versa, kann sich per Mausklick den freien Platz schnappen. Sonst bliebe er wohl sowieso leer.

Falls das home office ausser Mode gerät oder Geschäftsreisen nur selten ins Haus stehen, kann man auch zu zusätzlichen Ermutigungsmassnahmen greifen: Zum Beispiel könnte man einen monatlichen Mingle Monday einführen, an denen die Türen besonders weit offen stehen, sich ein Fünftel der Schweizer Wissenschaftler-, Politiker- und Beamt:innen auf eine andere Arbeitsroute schwingt und ein Besuch der anderen Seite besonders gerne gesehen wird.

Und klar, es gibt Zutrittsbadges, Datensicherheit etc. zu bedenken. Doch wo ein Wille, da ein Weg: Mit schlauer Raumnutzungsplanung wird sich hier in jedem Gebäude eine Lösung finden lassen. Die Einführung von geteilten coworking spaces für Arbeit mit nicht-sensiblen Daten wäre ein Beispiel.

Die Rolle der Wissenschaften

Seid Menschen. Werdet nicht socially awkward, wenn plötzlich eine Beamtin oder ein Politiker am Schreibtisch neben euch sitzt. Sie mögen ihren Kaffee auch warm. Und vermittelt ihnen die Freude, die ihr an eurer Arbeit habt! Modellieren, rechnen, Resultate verstehen und mehr – ja, das macht Spass!

Wer muss mitziehen?

Vermutlich vor allem HR Abteilungen, damit praktische Aspekte vor Ort, wie die erwähnten Zutrittsrechte, geklärt werden können. Essentiell wäre, dass die Teilnahme möglichst unkompliziert bleibt und somit die Kernidee eines lockeren, informellen Austauschs im Zentrum steht. Falls aus juristischen oder bürokratischen Gründen nötig, lässt sich diese Idee auch abwandeln: Zum Beispiel könnten zwei Menschen aus Wissenschaft, Verwaltung und Politik nach Zufallsprinzip gepaart werden und sich zu einem Spaziergang verabreden. Der persönliche Kontakt ist das, was zählt.

Das waren schon meine two cents zu “Was regt mich auf und was kann ich ändern?”, implementiert in einem low-cost Format und mit Effizienzgewinn in der Raumbelegung obendrauf. Klar, eine Freundschaftsgarantie zwischen Wissenschaft und Verwaltung plus Politik kann ich mit diesem Vorschlag nicht geben. Aber zumindest in der Physik kommt man oft bei Flurgesprächen auf die besten Ideen ;)

Das Titelbild wurde mit Stable Diffusion XL Base 1.0 generiert. Der Prompt lautet: "a group of young female and male scientists and politicians collaborating"

Anmerkungen

[1]

Ja, wir wollen auch den Kontakt suchen zu Menschen, die nicht an Schreibtischen arbeiten. Aber das verdient seinen eigenen Essay.

[2]

Siehe hier für eine vollständige Liste aller Joint Initiatives: https://ethrat.ch/en/eth-domain/joint-initiatives/

[3]

“79% of the Swiss population ‘agree’ or ‘fully agree’ that scientists should inform the public about their work (Science Barometer Switzerland, 2019) [...] 49% ‘agree’ or ‘fully agree’ that scientists should listen more to what common people think (Science Barometer Switzerland, 2019)”. Source: The State of Science Communication and Public Engagement with Science in Switzerland, Swiss Academies of Art and Sciences, 2021.

[4]

Idealerweise auch Industrie, Medien sowie die breite Bevölkerung. Doch wie gesagt dafür einen eigenen Essay.

Autor*innen

Autor*in

Anna Knörr studierte Physik an der ETH Zürich sowie am Perimeter Institute for Theoretical Physics in Waterloo, Kanada. Im Anschluss arbeitete sie ein Jahr bei SPEED2ZERO an der ETH Zürich im Bereich Wissenschaftskommunikation zu Energie, Klima und Biodiversitätsthemen. Ab Herbst 2024 doktoriert sie an der Harvard Quantum Initiative. Sie ist Geförderte der Schweizer Studienstiftung.

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