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Gibt es eine ethische Pflicht zur Genmanipulation?

Das Genbearbeitungs-Werkzeug Crispr hat das Potential, Krankheiten auszurotten. Müssen wir von dieser Chance Gebrauch machen?

Das Genbearbeitungs-Werkzeug Crispr hat das Potential, Krankheiten auszurotten. Eine Chance, die genutzt werden muss, findet Science-Bloggerin Sandrine.

Es ist der 10. Dezember 2050, der Tag der Verleihung des Medizinnobelpreises. Auf der Bühne steht das Team, welches das Genbearbeitungs-Werkzeug mit dem Namen «Crispr/Cas9» entdeckt hat. Der Professor für Genetik liest gerade die Laudatio vor: «Ihre Pionierarbeit stellt eine eindrucksvolle Leistung dar, von der man wahrhaftig sagen kann, dass sie der Menschheit zum grössten Nutzen verholfen hat.»

Mit dem Tintenkiller ans Erbgut

Das Szenario ist erfunden, das Zitat stammt aus einer anderen Nobelpreisverleihung. Aber Crispr/Cas 9, die Technik mit dem knusprigen Namen, existiert tatsächlich. Bereits heute gilt das Team um Crispr/Cas 9 als nächster heisser Kandidat für den Medizinnobelpreis. Das Werkzeug wurde 2012 erstmals entdeckt und ist deswegen so revolutionär, weil man damit Gene gezielt überschreiben kann. Die NZZ verglich die Funktion des Tools vor Kurzem zur besseren Verständlichkeit mit der «Suchen und Ersetzen»-Funktion in einem Textdokument. Man steuert gezielt eine Stelle im Genom an und überschreibt diese.

Für Crispr/Cas 9, kurz Crispr, gibt es zwei Anwendungsarten. Man könnte sagen, eine weniger umstrittene und eine hochumstrittene. Nicht so umstritten ist die Anwendung in Körperzellen. Werden Gene in Körperzellen überschrieben, dann findet die Veränderung nur in der entsprechenden Zelle statt – an die Nachkommen kann sie nicht weitergegeben werden. Ändert man hingegen die Keimzellen, also Spermien und Eizellen, mutiert man den Teil des eigenen Erbguts, das an die nachfolgenden Generationen vererbt wird. Das ist, als würde man mit dem Tintenkiller über die eigene DNA fahren und die aller Nachkommen gleich mitverändern. Mit der Keimzellenmutation gibt es viel zu gewinnen und viel zu vermasseln. Kein Wunder also, dass Crispr polarisiert.

Krankheiten ausrotten

Crispr hat das Potential, die Menschheit zu verändern. Es gibt gewisse Krankheiten, die auf einige wenige Gene zurückzuführen sind. Verändert man diese Gene, dann verschwinden auch die Krankheiten. Forscher hoffen, dass zum Beispiel die Stoffwechselerkrankung Zystische Fibrose bald der Vergangenheit angehört. Diese Krankheiten werden nur durch wenige Gene ausgelöst; sie wären daher vergleichsweise einfach zu heilen. Anders ist das bei Erkrankungen wie Diabetes Typ 1 und Alzheimer, die von zahlreichen verschiedenen Genen verursacht werden. Crispr kann für solche Krankheiten erst erfolgreich genutzt werden, wenn wir deren Ursachen besser verstehen.

Dass Krankheiten schlecht sind, ist offensichtlich. Mit Impfungen hat man es 1979 geschafft, die Pocken auszurotten; bisher hat noch niemand sein Bedauern darüber geäussert. Auch mit Crispr könnte man im Idealfall in relativ absehbarer Zeit Krankheiten beseitigen. Wenn man die Möglichkeit hat, Krankheit und Leid zu verhindern, dann sollte man das baldmöglichst tun. Wer Therapien verzögert, verweigert sie, sagt der Wissenschaftsethiker John Harris. So lautet ein starkes Argument, das für die Anwendung von Crispr in Keimzellen spricht.

Aber natürlich sind die Zusammenhänge ungeheuer komplex. Gewisse Krankheiten haben nämlich tatsächlich einen Nutzen. Die Sichelzellenanämie (eine Form der Blutarmut) hat für die erkrankte Person zum Beispiel den positiven Nebeneffekt, dass sie gegenüber Malaria resistent ist. Die Sichelzellenanämie liesse sich mit Crispr zwar relativ leicht beheben, aber die Resistenz gegen Malaria opfert man damit auch. Das mag in Europa in Ordnung sein, in Afrika könnte das aber tragische Folgen haben.

Das Beispiel zeigt, welche heiklen Entscheidungen uns mit Crispr bevorstehen. Viele Variablen in der Rechnung sind noch unbekannt. Wie geht man mit diesen Unsicherheiten um? Zum Beispiel so: Man fordert ein Moratorium für Crispr. Das tat auch Paul Knoepfler, der sagt, Crispr sei eine verführerische Technik, aber zu riskant und unvorhersehbar. In seiner Beschreibung klingt Crispr wie die Büchse der Pandora.

Rehabilitierte In-Vitro-Fertilisation

Mit dem Moratorium, das sich Knoepfler wünscht, soll das drohende Unheil abgewendet werden. Damit wähnt sich der Zellbiologe auf der sicheren Seite. Aber die Frage, wie man das grösste Risiko verhindert, ist nicht vom Tisch, wenn man ganz auf Crispr verzichtet. Genau das Gegenteil könnte der Fall sein: Dass das kleinste Risiko darin besteht, dass man Crispr verantwortungsvoll anwendet und versucht, Krankheiten, welche keinen Nutzen haben, zu beseitigen.

Eine Risikoabwägung bedeutet eben, auch das Risiko ernst zu nehmen, welches entsteht, wenn man eine Technik nicht verwendet. Was, wenn wir mit Crispr tatsächlich einige schlimme Krankheiten ausrotten könnten und es nicht tun? Haben wir nicht auch eine Pflicht künftigen Generationen gegenüber, unser Erbgut zu verbessern? Neue Entdeckungen bringen immer Ängste mit sich, bei Crispr ist die Angst um den designten Menschen.

Der Nobelpreisträger James Watson, der Entdecker der Doppelhelixstruktur der DNA, hätte sich 1974 für die damals noch neue Technik der In-Vitro-Fertilisation bestimmt auch ein Moratorium gewünscht. Er war sich sicher, dass die Möglichkeit, künstliche Befruchtungen im Reagenzglas durchzuführen, nur Unheil bringt. Er sagte: «Die Hölle wird sich ausbreiten, politisch und moralisch, über die ganze Welt.»

Ein Moratorium schadet nur

Heute sagt man, Watson hatte Unrecht. Bis auf 4 Millionen Kinder, welche Dank der In-Vitro-Fertilisation (IVF) geboren wurden, hat sich kein Unheil auf der Welt verbreitet. Ganz im Gegenteil. Am 10. Dezember 2010 wurde Robert Edwards für seine Pionierarbeit in der künstlichen Befruchtung im Reagenzglas mit dem Medizin-Nobelpreis geehrt, in der Laudatio heisst es, die Technik habe der Menschheit einen unwahrscheinlich grossen Nutzen gebracht. IVF ist heute sowohl politisch als auch moralisch grösstenteils unumstritten. Gemessen an den riesigen Chancen, die Crispr bietet, könnte dem Genwerkzeug noch eine viel grössere Laudatio zu Teil werden.

Damit es so weit kommt, sollte man der grossen Entdeckung gerecht werden und herausfinden, wie man Chancen und Risiken dieser Technik am besten gegeneinander aufwiegt. Das ist eine riesige Aufgabe, aber wir kommen nicht daran vorbei: der Gewinn, den Crispr der Menschheit bringen könnte, ist schlicht zu gross, um die Erfindung zu ignorieren. Ein Moratorium wäre schädlich.

Dieser Artikel wurde ursprünglich am 6. Februar 2016 auf dem Science-Blog von NZZ Campus veröffentlicht.

Autor*innen

Sandrine Gehriger (24) studierte Philosophie und Rechtswissenschaften an der Universität Bern. In ihrer Masterabeit untersuchte sie die ethischen Implikationen der Leihmutterschaft.


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