Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Sommerakademie «Geschlecht, Geschlechtsrollenverhalten und gesellschaftliche Entwicklung» der Schweizerischen Studienstiftung und wurde redaktionell begleitet von Reatch.
2020 eine E-Mail zu schreiben, ist gar nicht so leicht. Dank automatischer Rechtschreib- und Grammatikprüfung müssen wir uns zwar über Tippfehler keine Sorgen mehr machen. Dafür stellen sich aber bei der Anrede einige Fragen: Kann man noch «Liebe Studenten» schreiben? Ist «Liebe Studentinnen und Studenten» nicht furchtbar lang? Soll man mit «Liebe Studentinnen» ein Statement setzen? Oder sich mit «Liebe Studierende» geschickt aus der Affäre ziehen?
Ganz schön verzwickt. Möchte man geschlechtergerecht formulieren, hat man viele Möglichkeiten [1]:
- Beide Geschlechter nennen: Zum Beispiel mit Paarformen wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (Vollform), Bürger/innen (Kurzform), SachbearbeiterIn (Kurzform mit Binnen-I) oder Forscher*innen (Kurzform mit Gender-Sternchen).
- Personen nennen ohne Hinweis auf das Geschlecht: Zum Beispiel mit geschlechterabstrakten Personenbezeichnungen wie die Person, der Gast, das Individuum, der Mensch, die Lehrkraft, mit substantivierten Adjektiven/Partizipien wie die Verantwortlichen, die Anwesenden, die Studierenden, die Mitarbeitenden, mit Kollektivbezeichnungen wie das Publikum, das Team, der Vorstand, die Geschäftsleitung oder mit geschlechtsunspezifischen Pronomen wie alle, einige, diejenigen, niemand.
- So formulieren, dass keine Personen genannt werden: Zum Beispiel mit direkter Anrede wie Bitte beachten Sie, Passivformen, Adjektiv-Umschreibungen wie ärztliche Hilfe oder die Verwendung von Partizipien wie herausgegeben von statt Herausgeber.
Die geschlechtergerechte Sprache stellt uns nicht nur vor Formulierungs-Herausforderungen, sondern hat auch eine lebhafte Debatte ausgelöst, die Vieles zusammenbringt: z.B. Fragen der Ästhetik, der Grammatik, der Moral, der Gleichberechtigung, der Diskriminierung. Diese bunte Mischung an Themengebieten hat bereits einige Expert*innen dazu verführt, über ihre Kompetenzen hinaus eine Meinung kundzutun. Höchste Zeit, die Argumente der Befürworter*innen und Gegner*innen näher zu betrachten.
Das nicht ganz so generische Maskulinum
Früher oder später taucht es in jeder Diskussion um geschlechtergerechte Sprache auf: das generische Maskulinum. Was heisst das überhaupt? Das generische Maskulinum bezeichnet die Verwendung der maskulinen Form unabhängig vom Geschlecht des Bezeichneten [1] und ist das am häufigsten vorgebrachte Argument der Gegner*innen geschlechtergerechter Formulierung. Bei Bäcker, Besucher, Präsidenten, Profisportler, wissenschaftlicher Mitarbeiter etc. seien Frauen immer mitgemeint. Die Vertreter*innen des generischen Maskulinums bezeichnen dieses als grammatische Regel, die schon immer gegolten habe [2]. Das grammatische Genus (Maskulinum, Femininum oder Neutrum) habe mit dem biologischen Geschlecht des Bezeichneten nichts zu tun, maskuline Formen können deshalb semantisch geschlechtsneutral verstanden werden [2].
Historisch ist das generische Maskulinum jedoch keineswegs mit dem Ziel der Gleichberechtigung beider Geschlechter entstanden. Zwar unterschieden Aristoteles und die lateinischen Grammatiker noch klar zwischen Genus und Sexus (also zwischen grammatischem und natürlichem Geschlecht). Und es finden sich in römischen Rechtstexten bereits Hinweise für eine generische Verwendung maskuliner Bezeichnungen. Gleichzeitig wird aber darauf verwiesen, dass die grössere Würde beim männlichen Geschlecht liege [3]. Ab dem Mittelalter werden Genus und Sexus dann immer mehr zusammengedacht. Es dominiert die Vorstellung, dass das grammatische Genus von bezeichneten Dingen mit deren Eigenschaften zusammenhängt. Alles, was sich durch Lebhaftigkeit, Stärke, Grösse und Aktivität auszeichne, sei deshalb grammatisch männlich. Alles, was sich durch Fruchtbarkeit, Empfänglichkeit, Sanftheit und Passivität auszeichne, sei grammatisch weiblich. Die Weiblichkeit und der Verstand seien deshalb z.B. unvereinbar. Das männliche Genus wird generisch gebraucht, Frauen können also bei der männlichen Form mitgemeint sein. Aber nicht, weil damit Frauen und Männer gleichermassen angesprochen werden sollen, sondern weil das Männliche das vollkommenere Geschlecht (Sexus) sei. Wird in bestimmten Rechtstexten die männliche Form gebraucht, sind Frauen meist nicht mitgemeint. So wird ein Abgeordneter aus der Frankfurter Nationalversammlung von 1849 folgendermassen zitiert: «Ebenso kommt in den Grundrechten die Bestimmung vor, daß Jeder, der fähig sei, ein Amt antreten könne, es wird aber niemand in der Versammlung einfallen, dieß Recht auch dem weiblichen Geschlecht einzuräumen. Das beweist, daß, wenn es sich um politisches Recht im Gesetz handelt, man es nicht nöthig hat, das weibliche Geschlecht einzuschließen.» [3]
Erst Ende des 20. Jahrhunderts überwiegt unter Grammatiker*innen wieder die Meinung, dass grammatisches und sexuelles Geschlecht nichts miteinander zu tun haben [3]. Das generische Maskulinum wird in den Grammatiken als geschlechtsneutral festgelegt [2] und wird neu auch auf alle Rechtstexte angewandt [3]. Es handelt sich also um eine Sprachkonvention, nicht eine grammatische Regel, gegen die geschlechtergerechte Formulierung verstossen könnte [2]. Das Argument einiger Gegner*innen, dass geschlechtergerechte Sprache keinen natürlichen Sprachwandel wiederspiegle, sondern ein von aussen auferlegtes Verbot sei [4], könnte also genauso auf das generische Maskulinum angewandt werden.
Befürworter*innen einer geschlechtergerechten Sprache verweisen auf verschiedene Studien [5]–[8], die nachgewiesen haben, dass das generische Maskulinum nicht als geschlechtsunabhängig, sondern als geschlechtsspezifisch interpretiert werde. Wird das generische Maskulinum verwendet, denken Menschen – zumindest im Englischen, Französischen und Deutschen – eher an Männer als an Frauen. Werden hingegen Formen der geschlechtergerechten Sprache verwendet, beeinflusst das den gedanklichen Einbezug von Frauen. Wenn da also bloss die Ärzte steht, denken viele von uns eher an Männer als an Frauen in weissen Kitteln – oder an deutschen Punkrock. Von semantischer Geschlechtsneutralität kann also keine Rede sein. Somit verliert auch das Argument, dass mit dem Nennen beider Geschlechter gerade die Selbstverständlichkeit der Geschlechtergleichberechtigung aufgehoben werde, an Bedeutung. Eine solche Verständlichkeit gibt es scheinbar sowieso nicht.
Vom sprachlichen zum gesellschaftlichen Wandel?
Diese fehlende Sichtbarkeit möchten Befürworter*innen einer geschlechtergerechten Sprache beseitigen. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau soll auch in der Sprache sichtbar werden, denn Sprache und gesellschaftliche Wirklichkeit seien nicht voneinander zu trennen. Diese Vorstellung prägte auch die feministische Linguistik der 1970er-Jahre (z.B. [9], [10]), die in der Sprache die Vormachtstellung der Männer wiederspiegelt sah. Eine geschlechtergerechte Formulierung könne diese Vormachtstellung sprachlich beseitigen und damit unsere Vorstellungen und Denkweisen verändern.
Ein Beispiel: Statt «Für dieses Rezept brauchen Sie ein Rezept Ihres Arztes» zu sagen «Für dieses Rezept brauchen Sie ein Rezept Ihrer Ärztin oder Ihres Arztes», kann vielleicht viel verändern. Wenn wir bei traditionell männerdominierten Berufen auch die weibliche Form berücksichtigen, gewöhnen wir uns immer mehr daran, dass auch Frauen besagte Jobs ausüben (können) [1], [11].
Anders als die Befürworter*innen halten es die Gegner*innen der geschlechtergerechten Sprache für unmöglich, dass ein Wandel auf sprachlicher Ebene eine gesellschaftliche Veränderung herbeiführen könne. So meint Walter Krämer, Initiator der Petition «Schluss mit dem Gender-Unfug!»: «Angela Merkel hätte keinen Tag früher Regierungschefin werden können, wenn im Grundgesetz das Wort Kanzlerin gestanden hätte» [12]. Und der Germanist Josef Bayer meint in der NZZ: «Man weiss, dass Umbenennungen noch nie etwas an den wirklichen Sachverhalten bewirkt haben. Ein Altenheim, das in Seniorenstift umbenannt worden ist, bleibt für die Insassen weiterhin ein reichlich tristes Ambiente [4]». Als Beweis wird auf Länder wie Ungarn oder die Türkei verwiesen, in denen es zwar gesellschaftliche aber keine sprachliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern gebe. Eine geschlechtergerechte Sprache postuliere nicht bloss ein Weltbild, dass es so nicht gebe, sondern untermauere auch die Einteilung in die zwei Geschlechter männlich und weiblich [12], [13]. Mit der Verwendung des generischen Maskulinums werde eine geschlechtliche Differenz absichtlich vermieden, die bei der Nennung beider Geschlechter wieder heraufbeschworen werde [14].
Lesefluss, Eindeutigkeit und Sprachschönheit
Obwohl bewiesen wurde, dass die geschlechtergerechte Formulierung keinen Einfluss auf die Verständlichkeit und Lesbarkeit von Texten nimmt [8], [15], ist dies noch immer ein weit verbreitetes Argument der Gegner*innen: Der Lesefluss werde gestört und die Ästhetik und Qualität von Texten leide unter geschlechtergerechten Sprache [12]. Viele der Formulierungsmöglichkeiten seien unbrauchbar für den mündlichen Gebrauch und lenkten durch ihre Sperrigkeit vom eigentlich Inhalt ab [12]. Ausserdem argumentieren viele Gegner*innen mit der Sprachökonomie [14]. Es braucht nun mal mehr Zeit und Zeichen, um Professorinnen und Professoren statt Professoren zu schreiben.
Befürworter*innen halten es für wahrscheinlicher, dass geschlechtergerechtes Formulieren Missverständnisse verhindert. Was damit gemeint ist, zeigt sich am Satz: «In der kommenden Ausgabe stellen wir Ihnen die neu gewählten Nationalräte des Kantons Zürich vor.» Sind alle neu gewählten Nationalräte Männer? Werden nur die gewählten Männer vorgestellt? Oder wird hier Nationalräte als generisches Maskulinum verwendet? Fragen, die sich gar nicht erst stellen würden, wenn konsequent die geschlechtergerechte Sprache gebraucht würde [1].
Fazit: Kreativität ist gefragt!
Frauen sollen mit der geschlechtergerechten Sprache nicht mehr nur implizit mitgemeint, sondern explizit angesprochen werden, so der Wunsch der Befürworter*innen einer geschlechtergerechten Sprache. Sie halten das generische Maskulinum nicht mehr für zeitgemäss und erhoffen sich mit einer Sichtbarmachung von Frauen in der Sprache eine positive Veränderung gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten.
Die Gegner*innen einer geschlechtergerechten Sprache halten einen solchen Einfluss für unwahrscheinlich und halten nach wie vor an der Geschlechtsneutralität des generischen Maskulinums fest. Sie stören sich an den aufgezwungenen Sprachregeln, die eine Realität herbeireden wollen, die es so nicht gebe. Sie beklagen die schwindende Ästhetik der Sprache und befürchten einen gestörten Lesefluss.
Eine geschlechtergerechte Sprache kann gesellschaftliche Veränderungen nicht allein herbeiführen, aber sie kann unterstützend wirken, indem sie gesellschaftliche Vielfalt auch sprachlich abbildet. Es gibt bestimmt Frauen, die sich beim generischen Maskulinum gleichermassen angesprochen fühlen. Es gibt aber auch viele, die das nicht tun - jetzt, wo geschlechtergerechte Formulierungen immer häufiger werden, noch weniger als zuvor. Es geht weder um die Verhunzung der deutschen Sprache noch um den Wunsch nach Zungenbrecher-Formulierungen wie Bürgermeister, Bürger*innenmeister und Bürgermeister*in und Bürger*innenmeister*in [12]. Geschlechtergerechte Sprache muss nicht sperrig, aufgezwungen und unökonomisch sein. Sie kann durchaus kreativ ausfallen und frischen Wind in verstaubte Formulierungsgewohnheiten bringen.
Den Originalbeitrag gibt es hier zu lesen.
Referenzen
B. BK, „Leitfaden zum geschlechtergerechten Formulieren“, 2009. https://www.bk.admin.ch/bk/de/home/dokumentation/sprachen/hilfsmittel-textredaktion/leitfaden-zum-geschlechtergerechten-formulieren.html (zugegriffen 29.05., 2020).
G. Diewald, „Zur Diskussion: Geschlechtergerechte Sprache als Thema der germanistischen Linguistik – exemplarisch exerziert am Streit um das sogenannte generische Maskulinum“, Z. Für Ger. Linguist., Bd. 46, Nr. 2, S. 283–299, Sep. 2018, doi: 10.1515/zgl-2018-0016.
L. Irmen und V. Steiger, „Zur Geschichte des Generischen Maskulinums: Sprachwissenschaftliche, sprachphilosophische und psychologische Aspekte im historischen Diskurs / On the history of the generic use of the masculine gender: Linguistic, philosophical, and psychological aspects in historical discourse.“, Z. Für Ger. Linguist., Bd. 33, Nr. 2–3, S. 212–235, Juni 2006, doi: 10.1515/zfgl.33.2-3.212.
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