Mit sogenannten «Genscheren» können Forschende das Erbgut von Pflanzen gezielt verändern und damit neue Züchtungen schaffen. Mit anderen Worten: Genscheren sind Methoden der modernen Gentechnik. So sieht das auch der Europäische Gerichtshof (EuGH).
In einem heiss diskutierten Urteil vom vergangenen Mittwoch hält der EuGH fest, dass «Genscheren» und andere Methoden zur gezielten Veränderung des Erbguts in die gleiche Kategorie fallen wie herkömmliche Formen der Gentechnik – zum Beispiel die Übertragung eines Gens von einer Pflanze in eine andere.
Auf den ersten Blick lässt sich der Entscheid gut nachvollziehen: Unter «Gentechnik» verstehen viele einfach einen Eingriff ins Erbgut von Organismen – egal mit welchen Methoden. Wenn also das gezielte Einfügen eines Gens in eine Pflanze als Gentechnik gilt, wieso sollte das gezielte Mutieren der Gene dieser Pflanze keine Gentechnik sein?
Es mag deshalb erstaunen, dass die heftigste Kritik am Urteil ausgerechnet aus der Forschungsgemeinschaft kam. Von einem «Kniefall [des EuGH] vor der Anti-Gentech-Lobby» und einem «Sieg der Angst» war unter anderem die Rede. Auslöser der Kritik war der Umstand, dass die Verwendung zielgerichteter Mutationsmethoden in der Landwirtschaft künftig strengen Auflagen unterliegt, obwohl ungerichtete Mutationsmethoden mittels radioaktiver Strahlung oder chemischen Substanzen vom EU-Gesetzgeber nicht reguliert werden. Ein Forscher meinte treffenderweise, das Urteil klinge so, «als wenn die Richter eine Schrotflinte erlauben, aber ein Skalpell verbieten wollen».
Radioaktive Strahlung - die Ausnahme von der Regel
In der Tat betrachtet die EU-Richtlinie zur grünen Gentechnik (und auch die entsprechende Gesetzgebung in der Schweiz) nur jene Methoden als Gentechnik, die zu Veränderungen führen, die nicht auf natürlichem Wege zustande kommen. Konkret:
«Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet: [...] ‹genetisch veränderter Organismus (GVO)›: ein Organismus mit Ausnahme des Menschen, dessen genetisches Material so verändert worden ist, wie es auf natürliche Weise durch Kreuzen und/oder natürliche Rekombination nicht möglich ist.»
(Art. 2 Abs. 2, 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt)
Nach dieser Definition gilt das Einsetzen von Genen genauso als Gentechnik wie die Verwendung von Genscheren. Aber auch die radioaktive Bestrahlung von Pflanzen führt zu «genetisch veränderten Organismen» im obigen Sinne. Dass die daraus entstehenden Züchtungen aber dennoch nicht zwingend reguliert werden, liegt an einer Ausnahme in der erwähnten EU-Richtlinie.
Diese Ausnahme schliesst die ungerichtete Veränderung des Erbguts mittels radioaktiver Strahlen oder chemischer Substanzen explizit von den EU-Regulierungen aus. Dies mit der Begründung, dass die entsprechenden Methoden schon seit Langem in der Landwirtschaft zum Einsatz kämen und allgemein als sicher gälten.
In der Tat werden radioaktive Strahlung und Chemikalien seit Jahrzehnten erfolgreich für Züchtungen in der Landwirtschaft eingesetzt. Zudem ist die ungerichtete Veränderung des Erbguts auch in der Natur allgegenwärtig, weil wir ständig Einflüssen ausgesetzt sind, die Mutationen verursachen – zum Beispiel Sonnenstrahlen.
Vor diesem Hintergrund scheint es jedoch unverständlich, die präziseren Methoden zur gerichteten Veränderung des Erbguts ausgesprochen streng zu regulieren, während unpräzisere Mutationen mittels Strahlen und Chemikalien nur dann eingeschränkt werden, wenn ein Mitgliedsstaat das für sich vorsieht.
Diese krasse Ungleichbehandlung der Züchtungsmethoden ist auch deshalb stossend, weil die erdrückende Mehrheit der wissenschaftlichen Untersuchungen zeigt, dass landwirtschaftliche Produkte, deren Erbgut gezielt verändert wurde, nicht gefährlicher sind für Mensch und Umwelt als Züchtungen, die radioaktiv bestrahlt wurden – es hängt vielmehr davon ab, wie die entsprechenden Methoden eingesetzt werden.
Produkt oder Prozess regulieren?
Dennoch ist der EuGH der falsche Prügelknabe. Denn die Richter sind nicht in erster Linie dazu da, biologisch schlüssige Kategorien zu schaffen, sondern die einschlägigen Rechtsquellen anzuwenden. Und im Falle der EU-Richtlinie über genetisch veränderte Organismen sind grundsätzlich zwei Lesarten möglich:
Man kann sich auf das Produkt konzentrieren und argumentieren, dass Punktmutationen in der Natur überall vorkommen und die Produkte der gerichteten Mutation von Genen nicht mehr von natürlichen Mutationen unterscheidbar seien. Daraus würde folgen, dass Genscheren nicht unter die entsprechende Richtlinie fallen würden. Das war u.a. die Position des Generalanwalts des EuGH.
Man kann sich aber auch auf den Prozess konzentrieren und argumentieren, dass die Punktmutationen in der Natur nie derart gerichtet, präzise und schnell hervorgerufen werden. Die Anwendung einer Genschere entspräche deswegen viel eher dem Einführen eines fremden Gens als einer natürlich vorkommenden Zufallsmutation. Das war dann die Position der Richter des EuGH:
«Insbesondere bei den mit den neuen Verfahren der gezielten Mutagenese erzielten Mutationen habe die damit verbundene unmittelbare Veränderung des Genoms die gleichen Wirkungen wie die der Transgenese eigene Einführung eines fremden Gens. Da die Entwicklung neuer Mutageneseverfahren eine Beschleunigung von Veränderungen des Erbguts ermögliche, die ausser Verhältnis zu den Veränderungen stehe, die auf natürlichem Weg oder zufällig auftreten könnten, vervielfache sich im Übrigen die Möglichkeit schädlicher Auswirkungen aufgrund unbeabsichtigter Genomveränderungen oder Eigenschaften der so gewonnenen Pflanze.»
Orientierung am Gesetzgeber
Ob sich eine bestimmte Regulierung am Produkt oder am Prozess orientieren soll, führt schon seit den Anfangszeiten der Gentechnik zu heftigen Streits. Überzeugende Argumente gibt es zwar für beide Ansätze, doch für das EuGH-Urteil war entscheidender, welche Lesart der Gesetzgeber im Sinn hatte. Und hier ist die Sache klar: Der Europäische Rat bzw. das Europäische Parlament wollte beim Erlass der entsprechenden Richtlinie bestimmte Prozesse bzw. Methoden regulieren.
Die Aufgabe der EuGH-Richter war es bloss, den Sachverhalt im Lichte der bestehenden Gesetzgebung zu beurteilen – und nicht im Sinne einer Gesetzgebung, die zwar aus einer bestimmten biotechnologischen Sicht konsistenter wäre, aber in dieser Form noch nicht existiert. Die Richter halten dann auch fest:
«Unter diesen Umständen kann [die Richtlinie] nicht dahin ausgelegt werden, dass [sie] mit neuen Verfahren/Methoden der Mutagenese [...] gewonnene Organismen von ihrem Anwendungsbereich ausschließt. Denn eine solche Auslegung würde der [...] Absicht des Unionsgesetzgebers zuwiderlaufen, von ihrem Anwendungsbereich nur Organismen auszunehmen, die mit herkömmlich bei einer Reihe von Anwendungen angewandten und seit langem als sicher geltenden Verfahren/Methoden gewonnen werden.»
Der Gesetzgeber hatte beim Erlass der EU-Richtlinie bewusst nur für jene Methoden eine Ausnahmeregelung vorgesehen, die zum Zeitpunkt des Erlasses breit akzeptiert waren. Da Genscheren aber erst nach Erlass dieser Richtlinie entwickelt wurden, stellten sich die Richter des EuGH auf den Standpunkt, dass die neuen Zuchtmethoden nicht unter die Ausnahmeregelungen fallen könnten, ohne den Willen des Gesetzgebers zu unterlaufen. Anders gesagt: Wenn die neuen Methoden eine Ausnahmeregelung erhalten sollen, muss das Europäische Parlament und der Europäische Rat tätig werden .
Das Problem der widersprüchlichen Kategorisierung gentechnischer Methoden ist nicht der Rechtsprechung anzulasten, sondern der Rechtsetzung. Wer Kritik am Urteil üben will, der soll diese an den Gesetzgeber richten. Dieser hat es nämlich verschlafen, für die neuen Methoden rechtzeitig eine eigene gesetzliche Grundlage zu schaffen.
Der Vorwurf, die EuGH-Richtern seien bloss «ominösen Bauchgefühlen gefolgt» oder hätten sich «von Fakten verabschiedet», ist hingegen nicht nur polemisch, sondern untergräbt auch das Vertrauen in die rechtlichen Institutionen. Damit begeben sich die Verteidiger der grünen Gentechnik auf die gleiche Ebene wie all jene Gentech-Kritiker, die Misstrauen in wissenschaftliche Institutionen schüren. Wer an einer sachlichen Debatte interessiert ist, darf weder das eine noch das andere akzeptieren.
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