In einigen Medien wurde im Frühling Alarm geschlagen: Immer mehr Menschen arbeiten Teilzeit und gefährden damit unseren Wohlstand, wurde behauptet. Das hat im Frühling 2023 zu einer heftigen öffentlichen Diskussion geführt.[1]
Doch der oft erhobene Vorwurf, die Schweizerinnen und Schweizer würden weniger arbeiten als früher, trifft auf viele Menschen nicht zu. Ja, die durchschnittliche Arbeitszeit pro Erwerbstätigen ist auf knapp 36 Stunden pro Woche gesunken.[2] Das liegt aber in erster Linie an der deutlich erhöhten Erwerbsbeteiligung von Frauen, die oft Teilzeit arbeiten. Die Arbeitszeit ist insgesamt nicht gesunken, sie verteilt sich lediglich auf mehr Köpfe. In Familien arbeiten heute zwei Elternteile zusammengerechnet oft mehr als der frühere vollzeitarbeitende Alleinernährer. Hinzu kommt die unbezahlte Arbeit für Haushalt und Betreuung. Das Arbeitsvolumen ist in der Schweiz im internationalen Vergleich hoch, was auch mit der hohen Erwerbsbeteiligung von Eltern, aber auch älteren Personen zusammenhängt. Unter gewissen Umständen - etwa bei einer besser organisierten Kinderbetreuung - wären zudem Eltern bereit, sogar noch mehr zu arbeiten. Auch die Unterbeschäftigten - also jene Personen, welche gerne mehr arbeiten würden und sofort verfügbar sind - bestehen zu einem grossen Teil aus Frauen mit Kindern.[3] Bessere Rahmenbedingungen insbesondere bei der Kinderbetreuung oder Schulzeiten könnten also Anreize setzen für höhere Arbeitspensen für jene Eltern, die dies wollen.
Manchmal wird in der Diskussion vergessen, dass es grundsätzlich ein Fortschritt ist, wenn die Menschen heute weniger arbeiten als früher. Zu Beginn der Industrialisierung waren 60- oder gar 70-Stundenwochen üblich. Noch in den 1950er Jahren waren Wochenarbeitszeiten von 48 Stunden normal. In Entwicklungs- oder Schwellenländern sind solche oder noch höhere Stundenwochen weiterhin Alltag. Und unsere Arbeitswelt wird sich angesichts des technologischen und gesellschaftlichen Wandels weiterhin verändern - Teilzeitarbeit ist zu wesentlichen Teilen eine Folge davon. Die Faktoren dieses Wandels sind bekannt: verschärfte globale Konkurrenz, ein weiterer Automatisierungsschub durch Digitalisierung, Roboterisierung und Künstliche Intelligenz, Klimawandel und Energiewende, eine alternde und gleichzeitig vielfältigere Gesellschaft, gewandelte Geschlechterverhältnisse und Mentalitäten. Doch was aus all diesen Entwicklungen entstehen wird, ist offen. Nur eines ist klar: es wird Verwerfungen geben.
Das Beste, was wir in dieser Situation tun können, ist unsere Institutionen flexibel zu gestalten, damit sie Verwerfungen abfedern können. Denn: Ein flexibles System ist ein resilientes System.
Flexibilisierung in Zeiten des Wandels ist wichtig
Teilzeitarbeit ist ein solches Mittel der Flexibilisierung in Zeiten des Wandels.
- Die Ehe als lebenslange Versorgungsinstitution für Frauen hat ausgedient. Für viele Menschen stellt die Ehe nur noch einen Abschnitt in ihrem Leben dar. Frauen müssen nach der Scheidung wieder selbst für sich aufkommen. Das bedeutet, dass es sich Frauen heute nicht mehr leisten können, dem Arbeitsmarkt fernzubleiben. Sie müssen auch in der Familienphase im Arbeitsmarkt bleiben und sich wie die Männer weiterbilden, um Schritt zu halten. Dazu kommt: Altersarmut ist oft weiblich.[4] Zusammen mit der Erwerbsarbeit werden auch die Renten gerechter verteilt.
- Es geht aber nicht nur um Geld. Die aufgelockerten Geschlechterrollen lassen Raum für neue Bedürfnisse: Mehr Männer als früher möchten Zeit haben für ihre Kinder und sich an deren Betreuung beteiligen. Teilzeitarbeit hilft Familien, flexibel und frei über die innerfamiliäre Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zu entscheiden, auch wenn die Teilzeitquote bei Männern immer noch deutlich niedriger ist als bei Frauen.[5]
- Verschärfter Wettbewerb und Spardruck bedeutet zu oft Intensivierung der Arbeit. Die Mitarbeitenden müssen in der Arbeitszeit mehr leisten. Folge: Der Stress bei der Arbeit nimmt zu. Gemäss Job-Stress-Index von Gesundheitsförderung Schweiz waren 2022 mehr als ein Viertel der Befragten bei der Arbeit permanent überfordert.[6] Teilzeitarbeit bietet denjenigen, denen die Belastung zu hoch ist, die Chance, im Rahmen ihrer Möglichkeiten am Arbeitsmarkt zu partizipieren.
- Versicherer melden, dass Fälle von Arbeitsunfähigkeit aus psychischen Gründen stark zugenommen haben. Gründe sind Termindruck, Stellenabbau, Schwächen in der Firmenkultur, sowie der rasche Wandel der Arbeitswelt. Viele psychisch Erkrankte kehren nicht an den früheren Arbeitsplatz zurück, unter anderem weil ein Teilzeitpensum keine Option ist.[7] Hohe Burnout-Ausfallraten bedeuten hohe Gesundheitskosten und langjährige Invalidenrenten. Das mindert unseren Wohlstand. Teilzeitarbeit kann ein Mittel sein, Menschen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
- Teilzeitarbeit kann ausserdem zur Finanzierung der Langlebigkeit beitragen. Sie wird auch bei älteren Beschäftigten und deren Arbeitgebern immer beliebter – etwa um den Übergang in den Ruhestand sanfter zu gestalten oder weiter nach hinten zu verlegen. Fachkräftemangel, Alterung der Bevölkerung und ein durchschnittlich immer besserer Gesundheitszustand der älteren Menschen sind strukturelle Veränderungen, die Teilzeitarbeit bei älteren Menschen wohl in Zukunft noch beliebter machen werden.
- Weiterbildung wird immer wichtiger. Teilzeitarbeit schafft Raum dafür. Die Statistik zeigt, dass teilzeitarbeitende Männer den Freiraum vor allem auch dazu nutzen, parallel zur Arbeit eine Weiterbildung oder Umschulung in Angriff zu nehmen. Es ist anzunehmen, dass sich auch dieser Trend verstärken wird. So werden wohl die Fortschritte etwa bei der künstlichen Intelligenz dazu führen, dass uns zwar die Arbeit nicht ausgehen wird, sich aber viele Jobprofile verändern werden. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass uns Teilzeitarbeit in der Zukunft helfen wird, mit solchen strukturellen Veränderungen am Arbeitsmarkt umzugehen. Menschen werden sich vermehrt umorientieren und weiterbilden. Teilzeitarbeit ist ideal, um mit solchen strukturellen Veränderungen umzugehen.
Es stimmt, dass die Organisation vieler Teilzeitmitarbeitender komplexer wird. Doch genau dabei hilft die Digitalisierung. Digitale Tools unterstützen uns dabei, komplexere Organisation gut zu managen.
Liberale Demokratie bedeutet Freiheit der individuellen Lebensgestaltung
In der Diskussion der vergangenen Monate wurde besonders kontrovers über Teilzeitarbeit von Menschen ohne Familie und sonstige Verpflichtungen diskutiert. Es wird kritisiert, dass junge Alleinstehende ihre Arbeitspensen reduzieren, obwohl sie problemlos mehr arbeiten könnten. Es wird auch darauf hingewiesen, dass diese Menschen oft studiert und dabei von den in der Schweiz niedrigen Studiengebühren profitiert haben. Aus dieser Perspektive folgt dann durchaus zu Recht die Feststellung, dass die Wirtschaft durch Teilzeitarbeit gebremst und die Steuereinnahmen gedämpft werden. Bei einigen mögen bei der Entscheidung, Teilzeit zu arbeiten, tatsächlich auch steuerliche Fehlanreize eine Rolle spielen, die etwa aufgrund der Progression in den Steuersätzen entstehen.[8] Grundsätzlich widerspiegeln solche Teilzeitpensen aber die freie Entscheidung von Menschen, anstelle von Lohn und Konsum etwas mehr Freizeit zu wählen oder sich ehrenamtlich zu engagieren. Das passt zu einer liberalen Demokratie, in der die Freiheit einzelner Menschen wichtig ist.
Staatliche Institutionen anpassen statt Teilzeit verteufeln
Gleichzeitig – das ist klar – müssen der Staat und die Sozialwerke finanziert werden. Doch statt Teilzeitarbeit zu verteufeln, sollten sich die Institutionen auf Teilzeitarbeit einstellen und sich an die flexibler werdenden Arbeitsbiografien anpassen. Schon lange sind die Individualbesteuerung im Gespräch, bessere Anreize für den beruflichen Einsatz von Rentner*innen sowie die Besserstellung der Teilzeitarbeitenden bei den Pensionskassen.[9] Doch alles dauert lange und die Änderungen kommen nach zähen Verhandlungen nur stückweise zustande.
Unsere staatlichen Institutionen sollten aus einer Gesamtperspektive entschlossen und konsequent flexibilisiert werden – natürlich ohne dass der soziale Gedanke auf der Strecke bleibt oder neue Ungerechtigkeiten entstehen. Gleichzeitig sind steuerliche und sozialstaatliche Fehlanreize zu beseitigen.
Fazit
Bei der Teilzeit-Diskussion ist deutlich geworden, dass es nicht nur um ökonomische Aspekte geht, sondern auch um unterschiedliche Ansichten, wie mit dem gesellschaftlichen und technologischen Wandel umgegangen werden soll.
Alles in allem ist davon auszugehen, dass sich der Trend hin zu mehr Teilzeitarbeit aufgrund der beschriebenen technologischen und gesellschaftlichen Trends eher noch verstärken dürfte. Der strukturelle und gesellschaftliche Wandel führt dazu, dass insgesamt nicht weniger gearbeitet wird. Vielmehr wird die Arbeit anders verteilt als früher. Teilzeiterwerbsarbeit schafft Raum für eine ausgeglichenere Verteilung der unbezahlten Arbeit zwischen den Geschlechtern sowie für lebenslanges Lernen und Arbeiten.
Sie sollte also nicht verteufelt, sondern begrüsst werden als flexibles und zentrales Mittel, mit den vielen strukturellen und gesellschaftlichen Herausforderungen umzugehen, die auf uns zukommen.
Fussnoten
Siehe insbesondere die folgenden Beiträge: Riklin, F. (2023): “Schweizer arbeiten nur noch 31 Stunden pro Woche”, Sonntagszeitung, 4. März 2023; Preisig, S. (2023): “Trotz Teilzeitarbeit wird mehr gearbeitet als früher”, Hauptstadt: Neuer Berner Journalismus, 11. März 2023; Föry, A. (2023): “Wir arbeiten pro Woche 2,5 Stunden weniger als vor dreissig Jahren. Gleichzeitig steigt das durchschnittliche Arbeitspensum. Wie kann das sein?”, Neue Zürcher Zeitung, 19. April 2023; Salvi, M. (2023): “Hat die Schweiz ein Teilzeit-Problem?”, Der Wochenkommentar, Avenir Suisse, 21. April 2023”; Luchetta, S., Aregger, A., und M. Brupbacher (2023): “Ist Teilzeitarbeit wirklich das Schmarotzertum der Privilegierten?”, Tages-Anzeiger, 1. Mai 2023. ; Wey, S. (2023): “Teilzeitarbeit: Fluch oder Segen?” Schweizerischer Arbeitgeberverband, 3. Mai 2023; Aregger, A. und A. Müller (2023): “Seco-Arbeitsmarkt-Chef im Interview «Ohne Teilzeit hätten wir eine noch höhere Zuwanderung»”, Tages-Anzeiger, 3. Mai 2023; Wegelin, Y. (2023): “Die Marktwirtschaft ist kein Wunschkonzert”, WOZ Die Wochenzeitung, 11. Mai 2023; Der Club “Wer will noch arbeiten?”, SRF 2. Mai 2023.
Damit liegt die Schweiz ziemlich nahe beim EU-Durchschnitt, der ebenfalls knapp unter 36 Stunden pro Woche liegt. Vgl. Bundesamt für Statistik (2023): «2022 wurden in der Schweiz mehr Arbeitsstunden geleistet», Medienmitteilung vom 22. Mai 2023.
Vgl. Bundesamt für Statistik (2022): “Mütter auf dem Arbeitsmarkt im Jahr 2021”, BFS Aktuell, Neuchâtel.
Vgl. Pro Senectute (2022): «Altersarmut in der Schweiz 2022», Teilbericht des Schweizer Altersmonitors: https://www.prosenectute.ch/de...
Vgl. Perrenoud (2022): “Trend zu Teilzeitarbeit hält an”, Die Volkswirtschaft, 22. August 2022.
Vgl. Gesundheitsförderung Schweiz (2022): Faktenblatt 72 «Job-Stress-Index 2022., Monitoring von Kennzahlen zum Stress bei Erwerbstätigen in der Schweiz»: https://gesundheitsfoerderung....
Vgl. Streck, A. (2020): «Burnout: Ausfälle auf Rekordhoch» NZZ am Sonntag, 12.01.2020.
Vgl. etwa Wey, S. (2023): “Teilzeitarbeit: Fluch oder Segen?” Schweizerischer Arbeitgeberverband, 3. Mai 2023.
Im März 2023 hat das Parlament eine Pensionskassenreform beschlossen, die eine leichte Verringerung des Koordinationsabzugs bei der Pensionskasse vorsieht. Damit sollen Teilzeit- und Mehrfachbeschäftigte besser gestellt werden. Gegen diese Reform wurde das Referendum ergriffen. Es ist davon auszugehen, dass es zu einer Volksabstimmung über diese Reform kommen wird.
Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.
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