«Die Universität ist kein politischer Ort», sagte Christian Leumann, damals Rektor der Universität Bern, diesen Frühling und machte dabei für alle ersichtlich, wie sehr dieser Anspruch von der Wirklichkeit entfernt war. Denn vor ihm standen Studierende, die soeben seine Universität besetzt hatten, um gegen den Krieg zwischen Israel und der Hamas zu protestieren. Politischer kann ein Ort kaum sein.
Die Universität Bern war freilich nicht die einzige Hochschule im Land, die indirekt in den Sog der Kampfhandlungen im Nahen Osten gezogen wurde. An fast allen Universitäten des Landes haben pro-palästinensische Proteste und Besetzungen stattgefunden und damit die alte Debatte über die politische Rolle von Wissenschaft neu entfacht.
Die Hochschulen sind dabei ganz unterschiedliche Wege gegangen, um mit der Situation umzugehen. Während die Universität Lausanne die Besetzung ihrer Räumlichkeiten über mehrere Wochen tolerierte und auf Verhandlungen mit den Protestierenden setzte, liessen ETH und Universität Zürich die Besetzungen innerhalb weniger Stunden von der Polizei räumen. Die Universität Bern hat einen Mittelweg gewählt: Zwar liess sie die Besetzung länger gewähren als die Zürcher, doch setzte sie ihr Hausrecht schneller durch als die Lausanner. Grund genug, um den Beteiligten die Frage zu stellen: Wie viel Politik kann sich eine Universität leisten, um ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu behalten? Und wie viel muss sie sich leisten, um ihren Prinzipien treu zu bleiben?
Die Universität - (k)eine neutrale Institution
Beginnen wir bei dem, was eint: Obwohl das Rektorat und das Protestkollektiv auf unterschiedlichen Seiten der Debatte stehen, vertreten beide die Ansicht, dass Universitäten eine gesellschaftliche Verantwortung tragen. Was konkret getragen werden soll, darüber scheint indes wenig Einigkeit zu herrschen.
Virginia Richter, die neue Rektorin der Universität Bern, sieht Universitäten in erster Linie in einer Vermittlerrolle: «Die Teilnahme am gesellschaftlichen Dialog und das Zurverfügungstellen von Wissen als Service für die Gesellschaft sind wichtige universitäre Aufgaben.» Insofern sei eine Universität natürlich kein politikfreier Raum, aber politische Neutralität sei eine zentrale Voraussetzung, um diese Vermittlerrolle einnehmen zu können. Nur: Was heisst es konkret, politisch neutral zu sein? Gemäss Richter sollte die Universität als Institution grundsätzlich keine Stellung beziehen in politischen Fragen und insbesondere auch parteipolitisch neutral sein. Da stellt sich freilich die Frage, wie das zusammenpasst mit der Unterstützung der Universität Bern für ein Statement von Swissuniversities, welches nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 eine Überprüfung der wissenschaftlichen Kooperationen mit Hochschulen in Russland im Hinblick auf potentielle Unterstützung der russischen Regierung empfahl. Richter, damals Vize-Rektorin, entgegnet: «Das war eine absolute Ausnahmesituation in Europa, mit klarem Aggressor und getragen von Swissuniversities.»
Dennoch hat man damit offenbar einen Präzedenzfall geschaffen zu haben, auf den sich auch die Protestierenden beziehen: «Anscheinend war eine solche Überprüfung bei Russland kein Problem in Bezug auf die Neutralität oder die Wissenschaftsfreiheit», sagt M.A., Geographie-Studentin im Master an der Uni Bern und Mitglied des Protestkollektivs. Doch im Gegensatz zum russischen Angriff auf die Ukraine fehlt es zurzeit an einem gesamtgesellschaftlichen Konsens, wie sich die Schweiz im Gaza-Krieg positionieren soll. Liegt es tatsächlich in der Verantwortung der Universität, in einer laufenden politischen Debatte Stellung zu beziehen?
Aus Sicht des Protestkollektivs findet eine Positionierung im Gaza-Krieg auch dann statt, wenn man nichts sagt: Die Universität ergreife auch dann Partei, wenn sie kein offizielles Statement mache, nämlich in Form ihrer Kooperationen mit israelischen Institutionen, die «aktiv zur Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der palästinensischen Bevölkerung und zur Unterdrückung der palästinensischen Wissensproduktion beitragen», so B.M., Masterstudent in Psychologie an der Universität Bern. Daher solle transparent gemacht werden, welche Projekte finanziert werden und welche Zusammenarbeit bestehen. «Uns hat gefehlt, dass darüber überhaupt mal geredet wird», sagt A.M. Die universitären Verbindungen zu reflektieren und transparent mit ihnen umzugehen, ist ein zentrales Anliegen des Protests. Wobei die Protestierenden offenbar schon wissen, was dabei rauskommen soll: In ihrem Forderungskatalog nehmen sie das Ergebnis nämlich vorweg und fordern keine unvoreingenommene Überprüfung, sondern den Boykott sämtlicher israelischer Institutionen. Eine Forderung, welche die Universität Bern mit Verweis auf die Wissenschaftsfreiheit klar ablehnt.
Bemerkenswert ist auch hier, dass sich beide Seiten auf den gleichen Wert berufen: Sowohl die Unileitung als auch das Protestkollektiv verweisen in ihrer Argumentation an verschiedenen Stellen auf die Wissenschaftsfreiheit, die geschützt werden soll. Die Protestierenden sehen die Wissenschaftsfreiheit in zweierlei Hinsicht eingeschränkt: Einerseits in Gaza, andererseits an der Universität Bern. «Palästinensische Wissensproduktion wird systematisch unterdrückt, unter anderem durch die Zerstörung von Universitäten in Gaza», argumentiert B.M. Zugleich sei auch an der Universität Bern die Wissenschaftsfreiheit in Bezug auf «palästinensische Theorien oder Themen» eingeschränkt. Diese etwas diffusere Behauptung begründet A.M. so: «Wenn Forschungsthemen, die medial in der Kritik stehen, wie beispielsweise Themen aus dem Bereich postkolonialer Studien, nicht frei wählbar sind, werden sie aus dem wissenschaftlichen Bereich gedrängt.» Dadurch werde die Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt. Vor dem Hintergrund dieser doppelten Einschränkung fordern die Protestierenden einen Boykott israelischer Forschungsinstitutionen, und zwar solange, wie sich die Situation in Gaza nicht grundlegend ändert. Damit stossen sie bei der Unileitung jedoch auf taube Ohren: «Wir sind nicht gesprächsbereit bezüglich Boykotten von akademischen Institutionen», stellt Richter klar. Sie verweist auf Aussagen ihres Vorgängers Leumann, der durch die Forderung die Wissenschaftsfreiheit von Angehörigen der Universität Bern beschnitten sieht und die Forderung deshalb als «No-go» und «Zensur» bezeichnet hat.
Das Protestkollektiv fordert den Boykott israelischer Forschungseinrichtungen, um die palästinensische Wissenschaftsfreiheit zu schützen. Die Berner Unileitung bezeichnet die Boykott-Forderung als inakzeptabel, ebenfalls mit Verweis auf die Wissenschaftsfreiheit. Doch was lässt sich eigentlich unter Wissenschaftsfreiheit verstehen? Und was bedeutet es, diese einzuschränken? In einem Communiqué schreibt die Universität Bern im März 2024: «Die verfassungsrechtlich verankerte Wissenschaftsfreiheit schützt Auswahl und Methode von Forschungsgegenständen, die Interpretation von erhaltenen Resultaten und deren Kommunikation». Diese beinhalte auch «die Freiheit, ganz unterschiedliche Gebiete zu beforschen, und das mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Methoden». Jedoch müsse jegliche akademische Tätigkeit wissenschaftlich geleitet sein. Weiter hält die Universität Bern fest, dass die «Freiheit von Forschung und Lehre an der Universität Bern jederzeit gewährleistet» sei, und weist damit die entsprechenden Vorwürfe der Protestierenden zurück.
Eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit würde also bedeuten, dass Forschende ihre Forschungsgegenstände oder Methoden nicht ungeachtet von Ideologie, Identität oder Autorität wählen können, oder dass die Interpretation oder Kommunikation der Resultate beeinträchtigt ist. Das ist eine relativ tiefe Hürde. Denn Wissenschaft entwickelt sich nicht im luftleeren Raum. Die Wahl von Forschungsthemen wird von politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Faktoren beeinflusst, und es braucht deshalb nicht nur den Schutz vor Einschränkungen, um Wissenschaft betreiben zu können, sondern auch die entsprechenden Ressourcen in Form von Geldern und Netzwerken.
Vor diesem Hintergrund scheint die Forderung des Protestkollektivs, eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit mit der Einschränkung derselben zu bekämpfen, erklärungsbedürftig. «Ein temporärer Boykott ist auf individueller Ebene keine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit, weil Forschende ja weiterhin in Bereichen mit israelischem Bezug bearbeiten dürfen», entgegnet A.M. Auf institutioneller Ebene, räumt sie ein, würde die Forderung allerdings eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit bedeuten.
Insofern ist unbestritten, dass ein akademischer Boykott gegenüber israelischen Institutionen eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit nach sich zieht. Doch laut dem Protestkollektiv ist das gerechtfertigt, weil diese Institutionen selbst die Wissenschaftsfreiheit einschränken. Es gebe verschiedene Hinweise darauf, dass israelische Universitäten in die Unterdrückung von Palästinenser*innen verstrickt seien. Gemäss der Anthropologin Maya Wind beteiligt sich etwa die Hebrew University an der Ausbildung von Geheimdienstsoldat*innen, und israelische Universitäten unterstützen Wind zufolge staatliche Propaganda-Arbeit. Zudem werde die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit an israelischen Universitäten eingeschränkt: Die Professorin Nadera Shalhoub-Kevorkian wurde festgenommen, weil sie Kritik am Gazakrieg geäussert hatte. Vor solchen Hintergründen ist das Protestkollektiv der Ansicht, dass eine unkritische Zusammenarbeit mit israelischen Forschungsinstitutionen Gefahr laufe, zu einer Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit beizutragen.
Protestierende und Universitätsleitung werfen sich also gegenseitig vor, die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken, und beide Seiten verweisen auf ebendiese Wissenschaftsfreiheit, um ihre Position zu untermauern. Ebenso sehen beide Seiten eine Gefahr darin, wenn Wissenschaft aus politischen Gründen eingeschränkt wird. Soweit die Einigkeit. Uneins ist man sich hingegen darin, in welcher Hinsicht diese Einschränkungen bestehen oder eben nicht bestehen.
Welche Verantwortung tragen Universitäten?
Als Bildungsinstitution besteht eine der Aufgaben der Universität darin, einen Ort für das Schaffen und Diskutieren von Wissen zu bieten, mit dem die Welt verstanden und erklärt werden kann. Da auch geopolitische Ereignisse Teil dieser Welt sind, folgt daraus, dass Universitäten auch dafür einen Raum für wissenschaftliche Debatten zu schaffen haben. Bei der russischen Ukraine-Invasion 2022 bot etwa das Historische Institut verschiedene Lehrveranstaltungen zum Thema an. Mit Blick auf den Gazakrieg besteht unter den Studierenden offenkundig ein Bedürfnis nach einer differenzierten Diskussion. Verschiedene Studierende haben die Studierendenvereinigung der Universität Bern (SUB) angesprochen und sich eine Podiumsdiskussion und ein breites Lehrveranstaltungsangebot zum Konflikt gewünscht. Rektorin Richter verweist diesbezüglich auf bestehende Lehrveranstaltungen zu Themen wie Imperialismus und Kolonialismus und auf zusätzliche Formate, die als Reaktion auf aktuelle Ereignisse im Konflikt zwischen Israel und Palästina geschaffen wurden: darunter ein Workshop zu Antisemitismus des Instituts für Anglistik sowie ein Roundtable der theologischen Fakultät zu den Ereignissen des 7. Oktobers 2023. Zudem sind an der Philosophisch-historischen Fakultät verschiedene Lehrveranstaltungen über den Nahostkonflikt und Antisemitismus in Planung.
Die Studierenden des Protestkollektivs begrüssen solche Massnahmen, fordern jedoch weitere Schritte. Imperialismus und Kolonialismus in geisteswissenschaftlichen Fächern zu behandeln, wie es aktuell der Fall sei, reiche nicht weit genug: «Die Universität und die Wissenschaft an sich sind in einem kolonialen Klima entstanden und ziehen daraus ihre Legitimation. Solche Strukturen sind bis heute an Universitäten vorhanden und prägen das wissenschaftliche Klima. Es ist wichtig, dass alle Studierenden darüber nachdenken, was Wissenschaft ist, wie sie sich legitimiert und welche Machtstrukturen sie aufrechterhalten oder verändern kann.» Dekoloniale Perspektiven müssten in sämtlichen Studiengängen gelehrt werden, findet das Protestkollektiv.
Zudem hätten verschiedene Personen die Erfahrung gemacht, in ihrem Sprechen über den Gazakrieg eingeschränkt worden zu sein. So habe ein Dozent einem Studenten verboten, in seiner Seminararbeit die israelische Präsenz im Westjordanland als Besatzung zu bezeichnen. Professor*innen und Angehörige des Mittelbaus würden sich nicht trauen, sich in ihrem Institut für das Recht zu protestieren auszusprechen. Und im vergangenen Jahr habe Judith Butler eine Einladung des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung (IZFG) zurückgewiesen. Butler wollte damit vermeiden, dem Institut durch Kontroversen zu schaden. Kurz zuvor hatte Butler den Essay “The Compass of Mourning” zum Konflikt zwischen Israel und Palästina veröffentlicht. Das IZFG wollte sich auf Anfrage von Reatch zum Hergang der Ereignisse nicht äussern. Solche und ähnliche Fälle vermitteln laut Protestkollektiv den Eindruck eines repressiven Klimas.
Diesen Vorwurf weist Richter vehement zurück: «Wir bieten viele Freiräume und haben auch vor, das im nächsten Semester zu verstärken.» Sie fordert, dass die Universität ein möglichst offener Diskussionsraum sein soll, in dem verschiedene politische Meinungen Platz haben. Klare Schranken würden durch den gesetzlichen Rahmen auferlegt, wie beispielsweise durch die Treuepflicht gegenüber dem Arbeitgeber oder durch das Verbot der Verbreitung von Hassbotschaften. Des Weiteren müssten sich Debatten an der Universität «an die Regeln des wissenschaftlichen Diskurses halten». Dazu gehöre, auf die Argumente des Gegenübers einzugehen, eigene Behauptungen mit wissenschaftlicher Evidenz zu stützen, kritisch mit Quellen umzugehen, Unsicherheiten, Interpretation und Interessen transparent zu kommunizieren und die Ergebnisoffenheit des Diskurses zu akzeptieren.
Das sollte eigentlich eine Binsenweisheit sein an Universitäten. Die Besetzung der Universität Bern, die Richter verständlicherweise als nicht-wissenschaftliche Handlung bezeichnet, zeigt jedoch, dass dem nicht so ist. Auch zeugen Anonymität und Sprechchöre gegenüber einem Universitätsrektor kaum von Respekt für die Regeln eines wissenschaftlichen Diskurses. Ebensowenig schafft jedoch die pauschale Darstellung des Gegenübers als gefährlich und furchteinflössend in der Medienmitteilung der Unileitung geeignete Grundlagen für eine unaufgeregte Debatte auf Augenhöhe.
Nun könnte man das einfach als die unerfreuliche, aber in ihrer Wirkung letztlich begrenzte Konsequenz eines Streits sehen, der vor dem Hintergrund eines aus vielen - geschichtlichen, geopolitischen, religiösen - Gründen einzigartigen Krieges stattfindet. Ein Sturm im Wasserglas, dessentwegen es sich nicht lohnt, sich grundsätzliche Gedanken über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik an Universitäten zu machen. Doch egal, wie man zu den Gaza-Protesten steht: Die Universitäten werden auch in Zukunft einen Weg finden müssen, um mit kontroversen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen umgehen zu können. Schliesslich sind ihre Forschenden bei vielen Themen im engen Austausch mit der Politik, betreiben Auftragsforschung, machen Politikberatung. Sie sind Teil von Kommissionen, erörtern Handlungsoptionen für die Verwaltung oder geben sogar Empfehlungen ab, womit sie wissentlich oder unwissentlich Teil der politischen Debatte werden und sich so selbst positionieren oder aber mit einer bestimmten Position verbunden werden.
Wo verlaufen also die Grenzen zwischen wissenschaftlichen und politischen Äusserungen und Aktivitäten? Die Universität Bern sieht es laut eigenen Angaben als Aufgabe der Wissenschaft und damit ihrer Mitglieder, die Grenze zwischen normativen Positionierungen und wissenschaftlicher Analyse öffentlich und wissenschaftlich fundiert zu debattieren. Geschehen soll dies «mit wissenschaftlich fundierten Argumenten» und «auf der Grundlage akademischer Standards und Erkenntnisse», jedoch nicht «aufgrund von moralischen Aspekten oder politischer Neigungen». Zu bemerken ist hierbei, dass damit gleich zwei Unterscheidungskritieren eingeführt werden: Die Motivation für das Eintreten in die Debatte dürfe weder moralisch noch politisch sein und die Art der Auseinandersetzung müsse akademischen Standards genügen. Letzteres dürfte wenig umstritten sein, doch in Bezug auf das erste Kriterium stellt sich die Frage, ob es einer genaueren Betrachtung standhält.
«Wissenschaft ist inhärent politisch und entsteht in einem sozialen Kontext. Dadurch reproduziert sie gesellschaftliche Hierarchien. Mit der Vorstellung von Universität als Raum für Wissensproduktion einher geht deshalb eine gesellschaftliche Verantwortung, welche die Universität Bern aktuell nicht übernimmt», erläutert M.A. die Sicht des Protestkollektivs. Ein Blick auf die historische Entwicklung von Universitäten zeige, dass die Forschung oft durch politische Überlegungen geprägt worden sei, etwa hinsichtlich Rassentheorien und Kolonialismus. Durch ihre historisch-gesellschaftliche Gebundenheit erwachse der Universität die Verantwortung, «mit diesem Kontext umzugehen und sich darin zu positionieren». Während Ersteres einleuchtet, ist es erklärungsbedürftig, weshalb daraus eine Pflicht zu einem (politischen) Positionsbezug folgen sollte. Es stellt sich die Frage, ob eine solche Forderung nicht das unterwandert, was die Universität auszeichnet: Die Möglichkeit, Räume für Debatten zu schaffen, die jenseits von Bekenntniszwang und Lagerdenken existieren. Räume, in denen es möglich ist, kontrovers zu streiten, ohne in ein Freund-Feind-Schema zu verfallen, und in denen man unterschiedliche, gar sich widersprechende Gedanken äussern kann, ohne in Relativismus zu verfallen.
Wen vertritt die Universität - und wer vertritt die Universität?
Jede Institution wird letztlich von Menschen gestaltet. Das gilt auch für die Universität. Die Studierenden, Forschenden und weiteren Mitarbeitenden der Universität sind kein homogener Block, sondern vertreten eine Vielzahl verschiedener Werte und Überzeugungen. Es scheint praktisch unmöglich, diesen unterschiedlichen Positionen völlig gerecht zu werden. Das zeigt sich auch bei den Gaza-Protesten: Während einige damit sympathisieren oder Teil davon sind, stehen ihm andere unentschlossen oder kritisch gegenüber. So wurde eine schweizweite Gegenpetition zum Gaza-Protest an der Universität Bern von einem dort eingeschriebenen Geschichtsstudenten initiiert. Die SUB hat indes eine Zwischenposition eingenommen: Zwar stimmt sie nicht mit den umfassenden Boykottforderungen des Protests überein, andererseits wünscht sie sich ebenfalls von der Universität eine «Verurteilung der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, egal von welcher Partei ausgehend, in Palästina und Israel» und kritisiert das Vorgehen der Unileitung im Rahmen der Räumung der ersten und zweiten Besetzung.
Als weitere zentrale Gruppe innerhalb der Universität kommen die Forschenden hinzu. Neben ihren wissenschaftlichen Tätigkeiten nehmen sie verschiedene zivilgesellschaftliche Rollen ein, haben bisweilen politische Mandate inne, engagieren sich für bestimmte Anliegen oder treten prominent im öffentlichen Diskurs auf. Richter sieht bei vielen Angehörigen der Universität Bern einen «legitimen Wunsch, die Welt zu verbessern», was jedoch Aktivismus befördere. Einige Forschende verstünden den Handlungsauftrag einer Universität deshalb viel politischer als die Unileitung, die sich allerdings auf derselben Linie wie die breite Mehrheit der Uni-Angehörigen sieht. Folglich bestehe, bis auf «eine kleine Gruppe», ein breiter Konsens darüber, wie viel Aktivismus an der Universität Platz hat (oder haben sollte). Die Leitung der Universität Bern legt deshalb Wert auf eine saubere Rollentrennung. «Natürlich dürfen sich Angehörige der Universität Bern als Bürger*innen politisch engagieren und dabei jegliche Positionen im Rahmen des Gesetzes vertreten. Aber als Angehörige der Universität sollen sie sich an die genannten Regeln halten», sagt Richter.
Diese zeigen sich unter anderem im Personalgesetz des Kantons Bern, das in Artikel 55 die Mitarbeitenden dazu verpflichtet, die Interessen der Institution zu wahren, bei der sie angestellt sind. Zum einen geniessen die Forschenden also Wissenschafts- und Meinungsäusserungsfreiheit, zum anderen repräsentieren sie die Universität als Institution und sind damit auch ans Personalgesetz gebunden. Das Protestkollektiv sieht dadurch jedoch die Prinzipien der Wissenschaftlichkeit verletzt, denn die Wahrheitssuche solle über dem Ruf der Institution stehen.
2021 verabschiedete die Universität Bern unter anderem wegen öffentlichen Äusserungen von ihren Forschenden «Leitlinien zu Information und Meinungsäusserungen». Diese halten fest, dass die Wissenschaftsfreiheit unter anderem die Verbreitung der eigenen Forschungsergebnisse schützt. Hingegen stünden Beiträge, die nicht in direktem Zusammenhang mit der eigenen Forschung stehen, unter dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Der damalige Rektor, Christian Leumann, erklärte, dass sich die Leitlinien
«auf die Abgrenzung zu Situationen, in denen Forschende sich nicht auf den Grundlagen der wissenschaftlichen Expertise im eigenen Fachgebiet äussern» beziehen. Sie gehen damit von einer strikten Trennung zwischen Meinungsäusserungs- und Wissenschaftsfreiheit aus. Folglich müsse Erstere - im Gegensatz zu Letzterer - mit der Treuepflicht der Mitarbeitenden gegenüber der Universität vereinbar sein.
Dass eine scharfe Trennung der Geltungsbereiche der beiden Grundrechte jedoch schwierig ist, führt die Juristin Odile Ammann in ihrer verfassungsrechtlichen Analyse der Berner Leitlinien aus. Wissenschaftlich fundierte Äusserungen seien, anders als Meinungen, von der Wissenschaftsfreiheit geschützt. Sie basierten auf einer «methodischen Gewinnung und Weitergabe von Erkenntnissen im Rahmen eines kommunikativ-kritischen Prozesses». Die Wissenschaftsfreiheit setze, im Gegensatz zur Meinungsfreiheit, eine inhaltliche Überprüfung bzw. Überprüfbarkeit und Begründbarkeit von Äusserungen voraus. Weil jedoch auch etabliertes Wissen falsifizierbar sei, sei es schwierig, eine Trennlinie zwischen wissenschaftlichen Äusserungen und Meinungen zu ziehen, sodass sich Wissenschafts- und Meinungsfreiheit überlappen würden.
Noch komplizierter wird es, wenn bereits die Forschung selbst eng verzahnt ist mit gesellschaftspolitischen Fragen und Akteuren. Gerade bei transdisziplinären Forschungsansätzen kann der Eindruck entstehen, dass die wissenschaftlichen und politischen Rollen verschwimmen. Transdisziplinäre Forschung ist ein Ansatz, bei dem gesellschaftliche Probleme durch Kooperation zwischen Forschenden und nicht-akademischen Akteuren wie Entscheidungsträgern oder Praktikern angegangen werden. Grundlegend ist die Idee, dass Wissen nicht nur aus einseitiger Perspektive entstehen kann. Generell beginnt in einem transdisziplinären Forschungsansatz die Kooperation mit nicht-akademischen Akteuren bereits im Stadium der Entwicklung der Forschungsfragen. Danach entsteht ein Forschungsprozess mit geteilter Verantwortung, der nahe an der Praxis verläuft. Diese Nähe hat transdisziplinärer Forschung den Vorwurf des Aktivismus eingebracht, insbesondere auch im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit unterrepräsentierten Gruppen. Doch ebensowenig, wie transdisziplinäre Forschung per se aktivistisch ist, ist eine Kritik an aktivistischer Wissenschaft eine Kritik an Transdisziplinarität. Aber der Grat ist schmal.
Heike Mayer, Vizerektorin Qualität und Nachhaltige Entwicklung an der Universität Bern, betont die Wissenschaftlichkeit dieser Ansätze und unterscheidet sie klar von politischem Aktivismus. Sie seien besonders geeignet für Bereiche, in denen die Gesellschaft besonders viel Handlungsbedarf sieht. Dennoch warnt sie, dass es vonseiten der Forschenden grosse Vorsicht brauche. Viel zu schnell könne es geschehen, dass man instrumentalisiert werde. Um das zu vermeiden, sei es zentral, dass Annahmen, Herangehensweise, Auswahl der Methoden und das wissenschaftliche Vorgehen allgemein erklärt und diskutiert würden. Denn letztlich handle man nicht aus politischen Motiven, sondern befolge wissenschaftliche Regeln.
Die Lücke, die Mayer diesbezüglich an ihrer Universität sieht, soll mit dem Projekt «Engaged UniBE» («Engagierte Universität Bern») gefüllt werden. Dieses habe zum Ziel, Transdisziplinarität im Bereich der nachhaltigen Entwicklung zu fördern, und beinhalte eine lösungsorientierte Ausrichtung von Forschung, um «einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen». Schliesslich sei die Uni auch ein Ort, um Lösungen umzusetzen. In Bezug auf die Nachhaltigkeit stelle das keine politische Positionierung dar, betont Mayer, denn Nachhaltigkeit sei «nicht mehr verhandelbar».
Ob das alle so sehen, wird sich weisen. Auf jeden Fall wird die Frage, in welchem Verhältnis Wissenschaft und Politik an der Universität Bern stehen, noch weiter beschäftigen. So betreibt die Universität Bern eine «Arbeitsgruppe Wissenschaftlichkeit» mit Vertreter*innen aus allen Disziplinen, um eine Grundlage für einen gesamtuniversitären Diskurs zu diesem Thema zu legen. Denn eines ist sicher: Die nächste politische Kontroverse, bei der die Universitäten im Auge des Sturms stehen werden, wird kommen.
Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.
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