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Die digitale Entwicklung des Rechts

Eine Beschwerde für einen verspäteten Flug per Mausklick einreichen? Rechtsberatung von einem Chatbot bekommen? Oder Dokumente online notariell beglaubigen lassen? «LegalTech» machts möglich! Über Chancen und Herausforderungen einer digitalisierten Rechtsbranche.

Wie in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft ist die Digitalisierung auch im Rechtswesen eingetroffen. Mit den neuen technologischen und digitalen Möglichkeiten und den immer grösseren Überschneidungen zwischen Technologie und Wirtschaft eröffnen sich neue Chancen und Herausforderungen für die Branche. Diese digitalen Entwicklungen werden mit dem Begriff LegalTech umschrieben, der zwei Bereiche des Rechtswesens abdeckt.

Zum einen beschreibt LegalTech die Digitalisierung von alltäglichen rechtlichen Arbeitsschritten. Die Arbeitsumgebung von Juristinnen und Juristen hat sich in den letzten dreissig Jahren stark verändert. Das Bild des älteren Herrn, der an seinem Schreibtisch sitzt und umgeben von hohen Aktenstapeln dicke, alte Bücher wälzt, gehört mittlerweile der Vergangenheit an. Insbesondere der Aufbau von Datenbanken und spezifischer Software hat für einen merklichen Wandel gesorgt. Online-Portale des Bundesgerichts, der Universitäten sowie privater Anbieter wie Weblaw und Swisslex vereinfachen die Recherche erheblich. Was früher stundenlanges Archivforschen bedeutete, kann heute mit wenigen Mausklicks zusammengestellt werden. Mit diesen technologischen Entwicklungen eröffnen sich neue Möglichkeiten für fortschrittliche Juristinnen und Juristen. Tools wie Lawdesk, DocEngine oder Abacus ermöglichen beispielsweise die Digitalisierung von alltäglichen Arbeiten wie der Dokumentenautomatisierung, Arbeitszeiterfassung oder dem Case-Management von Prozessen. Die Implementierung dieser neusten Generation von Tools und Prozessen wird den Anwaltsberuf noch einige Jahre prägen.

Die neusten Entwicklungen im LegalTech-Bereich betreffen aber auch die Schaffung von neuen rechtlichen Dienstleistungen und Produkten im digitalen Umfeld, welche es bis vor Kurzem noch nicht gab. Gewisse LegalTech-Produkte können aufgrund einer regelbasierten Vorgehensweise bestimmen, ob ein gewisser rechtlicher Sachverhalt gegeben ist oder eben nicht. Das Programm benutzt dafür ein Interface mit vordefinierten binären Antwortmöglichkeiten, welche ein Entscheidungsbaum bilden und eine qualitative Abschätzung der rechtlichen Möglichkeiten erlauben. Dies können etwa Programme sein, welche herkömmlichen Konsumenten die Möglichkeit bieten, sich besser und einfacher über ihre Rechte zu informieren. Ein Beispiel für ein solches regelbasiertes LegalTech-Produkt sind Websites, auf denen Flugpassagiere eine Entschädigung für ihren verspäteten oder ausgefallenen Flug einfordern können. Nachdem die Passagiere alle relevanten Daten eingegeben haben, übernimmt die Website das Verfassen, Begründen und Einreichen einer Beschwerde bei der entsprechenden Fluggesellschaft.

Die modernsten LegalTech-Produkte basieren auf Erkenntnissen der Daten- und Computerwissenschaft, um anhand von Daten bestimmte Muster erkennen und vorhersagen zu können. So gibt es Projekte, welche Algorithmen nutzen, um bevorstehende Gerichtsfälle automatisiert mit einer grossen Anzahl früherer Fälle zu vergleichen und so die Erfolgschancen zu errechnen. Ein anderes Beispiel sind Chatbots mit künstlicher Intelligenz, welche erste Rechtsberatungen und Abklärungen «selbständig» durchführen, oder Blockchain-Lösungen, um Dokumente digitalisiert notariell zu beglaubigen.

Diese LegalTech-Entwicklungen haben etwas gemeinsam: Sie nutzen digitale Möglichkeiten, um den Zugang zu Recht zu vereinfachen. Diese Prozesse werden nicht nur von Start-ups und Grosskonzernen vorangetrieben, sondern auch von Bildungs- und Forschungsinstitutionen vermehrt thematisiert. Um das Thema LegalTech Studierenden schmackhaft zu machen, organisierte das Projektteam Zukunft der Arbeit im November 2020 die Podiumsdiskussion «WorkingProgess - LegalTech Edition» an der Universität Bern.

Beispiele für das Rechtswesen der Zukunft

Die Podiumsteilnehmer haben sich der Digitalisierung nicht verschlossen, sondern sie sich mit innovativen Ideen zu eigen gemacht. So hat beispielsweise Anwalt und Notar Dominic Rogger gemeinsam mit einer Kollegin aus der Rechtsbranche und einem Informatiker die Plattform GetYourLawyer entwickelt. Während seiner Tätigkeit als Anwalt hat er erkannt, wie schwierig es für Klientinnen und Klienten ist, den geeigneten Anwalt bzw. die geeignete Anwältin zu finden und was für eine Intransparenz insbesondere bei der Kostenfrage herrscht. Bei GetYourLawyer kann ein Kunde oder eine Kundin deshalb sein/ihr Anliegen, welches anschliessend mittels eines Algorithmus überprüft und gefiltert wird, kostenlos schildern. Die Plattform vermittelt die Anfrage an eine/n Anwältin oder Anwalt aus einem geprüften Netzwerk. Diese/r stellt sich anschliessend dem Kunden oder der Kundin vor und unterbreitet ihm/ihr einen Vorschlag für das weitere Vorgehen sowie eine Kostenofferte.

Dominic Rogger ist Anwalt und Notar, sowie Gründer und Geschäftsführer von GetYourLawyer.ch. Die Online-Plattform ermöglicht eine einfache und transparente Kommunikation und Koordination zwischen Klientinnen und Klienten und Anwalt. (Bild: Annina Reusser)

Nebst der Vermittlungstätigkeit ist GetYourLawyer aber auch eine Kanzleisoftware, welche Anwältinnen und Anwälten ein digitales Büro bietet. Viele Routineaufgaben können mittels GetYourLawyer automatisiert werden, wie beispielsweise die Fakturierung, das Dokumentenmanagement oder die Zeiterfassung. Um ein solches Softwareprojekt auf die Beine zu stellen, muss man laut GetYourLawyer-CEO Dominic Rogger als Jurist bzw. Juristin nicht zwangsläufig selber programmieren können. Er selbst arbeitet mit Softwareentwicklern in Kiew, Istanbul und Lagos zusammen.

Marc Bloch Sommer war zehn Jahre lang Geschäftsführer von Swisslex und hat als Rechtsanwalt Erfahrung an der Schnittstelle von Softwareengineering, Data Management und Recht gesammelt. Seit ihrer Gründung bis Ende 2019 war er überdies Mitglied des Executive Boards der «Swiss LegalTech Association». (Bild: Annina Reusser)

Marc Bloch Sommer sagt von sich: «Ich kann selbst auch nicht programmieren!» Doch der Anwalt weiss, was es heisst, ein Softwareprojekt auf die Beine zu stellen und es so zu managen, dass die Software anpassbar und dadurch zukunftsfähig bleibt. Als er die Geschäftsleitung von Swisslex übernahm, wusste er, dass seine Mitarbeiter und er sich das nötige Wissen über Codes, Software und das Programmieren erst noch aneignen müssen. Marc Bloch Sommer meint: «Ich habe Glück gehabt, dass ich Leute getroffen habe, die verstanden haben, wo die Schnittstelle zwischen Recht und Technologie verläuft.» Heute ist Swisslex ein Softwareunternehmen und die Mehrheit der Mitarbeitenden sind Softwareingenieure. Gemäss Marc Bloch Sommer unterscheidet sich die Informatik gar nicht so stark von der Juristerei: «Der Subsumtionsprozess in der Rechtswissenschaft ist ein wichtiges Element. Dieser Prozess ist beim Bauen einer Software sehr ähnlich.» Jedoch komme es in diesem Prozess auch oft zu Missverständnissen, weshalb die Leitung eines Softwareprojekts im Wesentlichen eine Kommunikationsaufgabe sei.

Ein besonderes Anliegen von Marc Bloch Sommer ist die Erzielung einer demokratischen Wirkung von LegalTech: «Es darf nicht sein, dass Menschen wegen fehlender finanzieller Ressourcen oder wegen langwieriger Prozesse auf die Geltendmachung der eigenen Rechte verzichten müssen.» Durch die Digitalisierung von Abläufen und dank neuer Technologien kann ein einfacherer Zugang zu Informationen geschaffen und die Kosten für die Stellung von Rechtsbegehren bzw. die Geltendmachung von Ansprüchen könnten gesenkt werden.

An der Podiumsdiskussion vom November sollte jedoch nicht nur aktuelle Entwicklung in der Rechtsbranche diskutiert, sondern auch die Frage erörtert werden: «Welche Fähigkeiten werden in Zukunft von Juristinnen und Juristen erwartet?» Für Philipp Hanke, den Moderator des Podiums, gehört das Programmieren definitiv dazu. Selbst wenn die Coding-Skills nicht professionell sein müssten, so habe zumindest das Absolvieren eines Crash-Kurses im Programmieren einen Vorteil, weil dadurch ein besseres Verständnis für die Möglichkeiten und Herausforderung der Digitalisierung entsteht.

Dr. Philip Hanke, Verlagsleiter der Weblaw AG. Dr. Hanke verfügt über ein European Doctorate in Law and Economics und kennt als Seminarleiter im Bereich LegalTech an der Universität Bern und an der ZHAW die Herausforderungen für Studierende. (Bild: Annina Reusser)

Die Firma Weblaw, bei welcher Hanke als Verlagsleiter tätig ist, bietet deshalb unter dem Titel «Coding for Lawyers» Programmierkurse für Juristinnen und Juristen an. Allerdings beziehe sich dieses interdisziplinäre Grundverständnis gemäss Philipp Hanke nicht nur auf das Programmieren, sondern auch auf andere Bereiche. Um bei digitalen und technischen Entwicklungen mithalten zu können, sollte man als Jurist bzw. Juristin nicht nur das eigene Fachgebiet beherrschen, sondern sich auch in anderen Bereichen Wissen aneignen. So verfügt ein sogenannter «T-shaped lawyer» nicht nur über ein vertieftes Wissen in seinem Rechtsbereich (vertikale Linie), sondern hat auch solide Grundkenntnisse in anderen Gebieten (horizontale Linie), wie etwa in der Betriebswirtschaft, Psychologie, IT, Statistik oder in der Verhandlungsführung. So können Juristinnen und Juristen effektiv und effizient mit Personen aus unterschiedlichen Bereichen zusammenarbeiten. Diese Interdisziplinarität sei für angehende Juristen und Juristinnen in der heutigen Wirtschaft und insbesondere in einem Start-up unabdingbar. Aufgrund seiner Erfahrung in der Lehre und Forschung ist es Philipp Hanke ein Anliegen, dass die rechtswissenschaftlichen Fakultäten vermehrt mit anderen Studienrichtungen kooperieren, um das interdisziplinäre Denken und Handeln zu fördern.

Die Juristinnen und Juristen von morgen

Wie das Rechtswesen der Zukunft aussehen könnte, haben die Podiumsteilnehmer mit ihren Geschäftsmodellen gezeigt. Darüber hinaus wurden in der Diskussion verschiedene Punkte festgehalten, die (angehende) Juristinnen und Juristen beachten sollten:

  1. Der digitale Wandel wird am Anwaltsberuf nicht spurlos vorbeigehen. Die Veränderungen der Prozesse in Kanzleien, der Privatwirtschaft und an den Gerichten haben einen starken Einfluss auf die Arbeitstätigkeit von zukünftigen Juristinnen und Juristen.
  2. LegalTech und andere digitale Entwicklungen im Rechtsbereich führen idealerweise zu einer Demokratisierung der Information und des Zugangs zu Recht und somit zu mehr allgemeinem Rechtsschutz.
  3. Es ist ein grosser Vorteil für Studierende der Rechtswissenschaft, über Grundkenntnisse in anderen Bereichen zu verfügen. Mit der voranschreitenden Komplexität der Sachverhalte und den wandelnden Bedürfnissen der Gesellschaft und der Wirtschaft steigen auch die Anforderungen an Juristinnen und Juristen. Kompetente Rechtsberater begreifen, dass es essenziell ist, sich als angehende Juristinnen und Juristen für andere Gebiete zu interessieren und sich darin Grundkenntnisse anzueignen, um das Umfeld und die Gegebenheiten ihrer Klienten und Klientinnen besser zu verstehen.
  4. Programmieren wird auch in Zukunft keine Kernvoraussetzung für die Tätigkeit einer Juristin bzw. eines Juristen sein. Jedoch ist es wichtig, ein Grundverständnis dafür zu haben, welche Möglichkeiten und Gefahren im digitalen Umfeld der Gesellschaft und Wirtschaft bestehen, um sich als «T-shaped lawyer» zu etablieren.

Mitwirkende Organisation & Kontakt

Reatch, Arbeitsgruppe Zukunft der Arbeit & Working Progress – t.rabozzi@gmail.com

Dank an

  • Dr. Philip Hanke für die Moderation
  • Die Experten Marc Bloch Sommer und Dominic Rogger
  • Universität Bern
  • Reatch

Text und Organisation

  • Timothy Rabozzi
  • Christine Kienzle
  • Lucas Kyriacou
  • Tanja Mitric

Fotos

  • Annina Reusser

Autor*innen

Timothy Rabozzi studiert Rechtswissenschaften im Master mit Schwerpunkt öffentliches Recht. Er ist Mitglied der Projektgruppe Zukunft der Arbeit von Reatch und arbeitet auf dem Generalsekretariat der FDP.Die Liberalen.

Autor*in

Autor*in

Tanja Mitric verfügt über einen MLaw der Universität Bern und absolviert zurzeit ein Rechtspraktikum bei der KESB.

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