Der «Linkshirntyp» denkt logisch, analytisch, strukturiert. Er ist sprachbegabt, hat ein ausgeprägtes Zahlenverständnis und kann Beobachtungen detailliert wiedergeben.
Der «Rechtshirntyp» hingegen ist musisch veranlagt; kreativ und fantasievoll. Er löst Probleme intuitiv und erfasst Zusammenhänge «ganzheitlich».
Soweit die gängigen Klischees – pointiert in Szene gesetzt in der folgenden Persiflage:
Von Hirnhälften und Kleiderschränken
Rechts- und Linkshirntypen begegnen uns leider nicht nur in Form selbstironischer Youtube-Videos; sie unterwandern auch Weiterbildungsangebote für Schülerinnen, Schüler und Studierende, verstecken sich hinter pseudowissenschaftlichen «Neurolearning»-Plattformen oder geben ihre Behauptungen auf Unternehmensseiten zum besten. Die Erklärungen: allesamt an den Haaren herbeigezogen. Die Empfehlung: nutzlos bis schädlich.
So könne sich eine Person mit «dominanter» rechter Seite nie voll als Ingenieur entfalten, während Menschen mit einer «Linkshirndominanz» möglichst alleine arbeiten sollen – als ob die wahrgenommene Rotationsrichtung eines Bildes oder der die Anordnung der Kleider in unseren Kleiderschränken irgendetwas über unsere geistigen Fähigkeiten und Veranlagungen aussagen würden.
Doch damit nicht genug: Das Märchen des «kreativen» Rechts- und «organisierten» Linkshirns spielt auch in einem der meistgesehen TED-Talks aller Zeiten eine prominente Rolle – ergänzt durch weitere neuropsychologische Halbwahrheiten, Verzerrungen und Übertreibungen.
Energetische Wesen, menschliche Familien
«Unsere rechte Hemisphäre beschäftigt sich ganz mit dem gegenwärtigen Moment. Es dreht sich alles um das ‹hier und jetzt›. Unsere rechte Hemisphäre denkt in Bildern und lernt kinästhetisch durch die Bewegung unserer Körper. […] Wir sind energetische Wesen, die als menschliche Familie durch das Bewusstsein unserer rechten Hemisphären miteinander verbunden sind.»
«Unsere linke Hemisphäre denkt linear und methodisch. In unserer linken Hemisphäre dreht sich alles um die Vergangenheit und die Zukunft. […] Aber am wichtigsten ist es vielleicht, dass mir diese kleine Stimme sagt: ‹Ich bin. Ich bin.› Und sobald mir meine linke Hemisphäre sagt ‹Ich bin›, werde ich getrennt. Ich werde ein einzelnes Individuum, getrennt von dem Energiefluss um mich herum und getrennt von Ihnen.»
Falsche Prophetin
Um eines klarzustellen: Das sind nicht die Worte einer New-Age-Priesterin, die eine Predigt über den Weg zur spirituellen Erleuchtung hält. Bei der Rednerin handelt sich vielmehr um Dr. Jill Bolte Taylor – eine ehemalige Hirnforscherin aus Harvard, die es eigentlich besser wissen müsste.
Doch ihr TED-Talk war anscheinend nur der Auftakt:
«Prozesse, die wir zur Verbesserung unserer geistigen Gesundheit nutzen, können uns auch dabei helfen, als Gesellschaft bessere und verantwortungsvollere Entscheidungen zu treffen – indem wir auf das Mitgefühl und die Integrität unseres rechten Hirns achten, anstatt den Urteilen, Bestrafungen und Betrügereien des linken Gehirns zu folgen.»
Die rechte Seite des Gehirns als Schlüssel zum Weltfrieden? Da hat sich Dr. Taylors «kreative» Hirnhälfte wahrlich selbst übertroffen.
Ein kleiner Funken Wahrheit
Damit Logik und Fakten nicht ganz auf der Strecke bleiben, sollten wir für einen Moment «unsere linke Hirnhälfte aktivieren», uns «vom Energiefluss trennen» und auf den kalten, harten Boden der Realität zurückkehren.
Auch bei diesem Mythos gilt: Ein Fünkchen Wahrheit steckt drin. Es gibt zahlreiche anatomische Unterschiede zwischen den beiden Hirnhälften und auch in funktioneller Hinsicht unterscheiden sie sich – die rechte Hirnseite ist also nicht einfach ein Spiegelbild der linken.
So scheint die Sprachverarbeitung bei den meisten – aber eben nicht allen – Menschen linksdominant zu sein, das heisst dass viele – aber eben nicht alle – Sprachprozesse von der linken Hirnhälfte gesteuert werden. Die rechte Hirnhälfte ist jedoch ebenfalls von entscheidender Bedeutung, indem sie beispielsweise die Verarbeitung von Sprachmelodie, -rhythmus und -tempo steuert.
Ähnlich verhält es sich bei der Kontrolle von Körperbewegungen, beim Lösen mathematischer Probleme oder bei der Orientierung im Raum: Die beiden Hirnhälften übernehmen bei gewissen Aufgaben unterschiedliche Aufgaben.
Doch eine pauschale Einteilung in «links = logisch und analytisch» bzw. «rechts = kreativ und intuitiv» ist schlicht unhaltbar.
Ein eingespieltes Team
Grundsätzlich gilt: Beide Hirnhälften arbeiten eng zusammen, ergänzen sich und erfüllen die meisten Aufgaben gemeinsam.
Beim Schach kommen immer beide Seiten zum Zug; kein Pianist kommt ohne das Zusammenspiel von rechts und links aus; und wer ein anregendes Gespräch führt, darf keine der beiden Hälften zum Schweigen bringen.
Mit der Behauptung, dass die beiden Hirnhälften grundsätzlich verschiedene Aspekte der Persönlichkeit bestimmen würden, sollten wir deshalb genauso verfahren wie «Der Spiegel». Als die Zeitschrift nämlich über Jill Taylors Schaffen berichtete und dabei auch deren Buch «My Stroke of Insight» besprach, tat sie dies in der Rubrik «Esoterik».
Weitere Informationen: Das folgende Interview sowie dieser, dieser, dieser, dieser, dieser und dieser Artikel bieten neben den bereits verlinkten Quellen einen vertieften Einblick zum Thema.
Dieser Artikel ist am 31. August 2015 im Science-Blog von NZZ Campus erschienen.
Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.
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