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#10JahreReatch: «Auf einer brennenden Matratze einzuschlafen ist nicht lustig» - Ein Gespräch mit KlimaSeniorin Pia Hollenstein

Macht die Schweiz genug, um das 1.5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erfüllen und die Klimakatastrophe abzuwenden? Nein, findet die Gruppe KlimaSeniorinnen und verklagt den Schweizer Staat.

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Im März 2023 publizierte Reatch das folgende Interview mit KlimaSeniorin Pia Hollenstein. Am 9. April 2024 folgte das historische Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das den Klimaseniorinnen Recht gab: Klimaschutz ist eine Staatspflicht, und die Schweiz hat ihre Verpflichtungen im Bereich Klimawandel nicht erfüllt. Dieser erste Klimafall, der von einem internationalen Menschenrechtsgerichtshof entschieden wurde, dient als Vorbild für zukünftige Klimaklagen weltweit. In der Schweiz hat das Urteil eine hitzige politische Debatte ausgelöste. Reatch befasst sich seit einem Jahrzehnt mit wichtigen Debatten wie dieser und ist damit ein wertvoller Ort für wissenschaftlich fundierte, gesellschaftlich relevante Diskussionen.

Klima-Aktivist*innen der Gruppe Urgenda verklagten 2019 erfolgreich den niederländischen Staat. In seinem Urteil verpflichtete das niederländische Verfassungsgericht daraufhin die Regierung zu stärkeren klimaschützenden Massnahmen. Damit war ein Präzedenzfall geschaffen, der Nachahmer*innen auf der ganzen Welt gefunden hat.

In der Schweiz ist es der Verein KlimaSeniorinnen mit mehr als 2000 Mitgliedern, der gemeinsam mit Greenpeace ein Gesuch erarbeitet hat, um den Bund gerichtlich zu stärkeren Klimaschutz-Massnahmen zu zwingen. In ihrem Gesuch werfen die KlimaSeniorinnen dem Bund vor, durch zu geringe Klimaschutzmassnahmen seine Schutzpflicht ihnen gegenüber nicht zu erfüllen und damit die europäische Menschenrechtskonvention zu verletzen. Denn durch den Klimawandel werde es vermehrt intensivere Hitzewelle geben, die vor allem die Gesundheit von älteren Frauen stark beeinträchtige und zu mehr Todesfällen und schweren Erkrankungen führe.

Nachdem das Gesuch von den obersten Schweizer Gerichten abgelehnt wurde, zogen die KlimaSeniorinnen 2020 vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. Am 29. März findet dort die erste Anhörung statt und könnte ein Meilenstein im Kampf gegen die Klimakrise werden. Vor Ort wird auch Pia Hollenstein sein, Vorstands- sowie Gründungsmitglied der KlimaSeniorinnen und ehemaligen Nationalrätin (GPS) aus St. Gallen. Wir führen ein Gespräch über die KlimaSeniorinnen, die Ursachen des unzureichenden Klimaschutzes in der Schweiz und die Rolle von Politiker*innen und Wissenschaftler*innen.

Frau Hollenstein, der 29. März 2023 wird ein grosser Tag für die KlimaSeniorinnen und die Schweiz. Welche Chancen rechnen Sie sich aus, zu gewinnen?

Unsere Chancen zu gewinnen sind recht gross. Gewinnen heisst für uns schon, wenn wir zum grossen Teil Recht bekommen und der EGMR sagt: Ja, die Schweiz verletzt Menschenrechte durch ihr ungenügendes Handeln.

Sehen Sie ein Gerichtsurteil als die einzige Möglichkeit, um Politiker*innen zum Handeln zu bewegen?

Für mich gibt es beides: die Politik und das Rechtliche. Aber wenn die Politik ihre Pflicht nicht tut, dann kommt das Rechtliche zum Zug. Nebst dem Gerichtsfall meine ich, dass die ganze Klimafrage global angeschaut werden muss, daher ist es auch wichtig, dass wir mit anderen Ländern in Kontakt sind. Dazu gibt uns Greenpeace durch ihre internationale Vernetzung die Möglichkeit.

Werten Sie also den Umstand, dass Sie mit Ihrem Gesuch zur höchsten Instanz an den EGMR mussten, als positiv? So hat das Urteil auch Einfluss auf andere Staaten.

Für uns ist das natürlich ein glücklicher Zufall. Wenn das Bundesgericht uns z.B. zu 10% Recht gegeben hätte, hätten wir nicht weiterziehen können. Das hatten wir ursprünglich nicht geplant.

Das Urteil wird enorme Auswirkungen auf alle europäischen Staaten haben, weil die europäische Menschenrechtskonvention für alle europäischen Staaten gilt. Wenn es heisst: Ja, die Schweiz verletzt Menschenrechte in diesem oder jenen Bereich, dann müssen alle Europaratsstaaten das umsetzen. Da versprechen wir uns schon ziemlich viel.

Ist nach einem erfolgreichen Prozess die Arbeit der KlimaSeniorinnen getan?

Wir sind am obersten Gericht angekommen und haben damit unser Ziel erreicht. Danach werden wir unsere Statuten ändern. Das Hauptziel ist dann nicht mehr den Staat zu verklagen. Wie sie geändert werden müssen, wissen wir erst nach den Schlussfolgerungen vom Gericht. Wir werden den Verein daher nicht auflösen, aber wir müssen die Folgeaufgaben neu zuteilen.

Was für Aufgaben wären das?

Es ist wichtig, dass wir dem Bundesrat, der vom EGMR hört, was er tun müsste, auf die Finger schauen und Lobby machen für jene, die das umsetzen müssen. Wir werden nicht jammern “der Bundesrat hat es nicht gemacht", wir werden Druck machen. Das wird weiterhin Öffentlichkeit bekommen. Unser Vorteil dabei ist, dass wir keine Partei sind und die Medien nicht immer auch die Gegenpartei zu Wort kommen lassen müssen. Deshalb werden wir mit unseren klaren Positionen eher wahrgenommen. Ob das nützt, ist die nächste Frage.

Wie wird es für die KlimaSeniorinnen weitergehen, wenn der Prozess nicht gewonnen wird?

Dass wir “null” gewinnen, glaube ich nicht, denn wir haben drei Anhaltspunkte für ein positives Ergebnis: Zuerst einmal, dass die Klage aufgenommen wurde und damit als wichtig erklärt wurde. Zweitens gibt es öffentliche Anhörungen und drittens wird die Klage vor der grossen Kammer behandelt, dorthin kommen nur wichtige Themen. Deshalb sind wir sehr zuversichtlich. Die Situation ist so schlimm, dass es nicht sein kann, dass wir nicht Recht bekommen.

Der Unterschied zu anderen Forderungen ist, dass wir jetzt als Erste auf Menschenrecht geklagt haben, das ist wichtig. Die Klimakrise ist ein massives Menschenrechtsproblem. Im Unterschied zum politischen Prozess dürfen Menschenrechte nicht einer einfachen Mehrheit unterliegen, sie müssen universell gelten. Da kann nicht eine knappe Mehrheit sagen: Das gilt jetzt nicht.

Die Klage basiert auf wissenschaftlichen Studien zum Einfluss des Klimawandels auf die Gesundheit. Was würden Sie Wissenschaftler*innen raten, wie sie sich bei Politiker*innen Gehör verschaffen können?

Da kann ich wirklich aus meiner Vergangenheit sprechen. Als parlamentarische Gruppe Umwelt hatten wir vor ca. 20 Jahren Wissenschaftler eingeladen, uns ein Referat zu halten. Die Wissenschaftler*innen von früher haben nur die Studie und Zahlen, aber keine Schlussfolgerungen und ihre Bedeutung für die Schweiz vorgestellt. Wenn ich als einzige nachgefragt habe, was heisst denn das, dann sind sie nie präzise geworden. Am Schluss hatte niemand das Gefühl, dass wir handeln müssen. Das hat sich zum Glück geändert. Die Klimatolog*innen machen das jetzt, sie sagen, das ist schlimm. Die Wissenschaft müsste sich mehr Verhör verschaffen einerseits und – sehr wichtig – sie müssen ihre Erkenntnisse mit den nötigen Folgerungen nicht nur den Parlamentarier*innen, sondern auch der breiten Öffentlichkeit kommunizieren. Da die Wissenschaft bis vor 5 Jahren keine Medienkonferenzen abgehalten hat, ist das noch kein Alltag geworden. Sie müssten ausserdem Parlamentarier*innen finden, die einen Vorstoss machen und einbringen, was wissenschaftlich bewiesen ist. Vielleicht wird es beim ersten Mal abgewiesen, aber beim 5. Mal kommt es durch. Und sie könnten sich bei den parlamentarischen Gruppen melden und sich selbst offerieren. Wissenschaftler*innen sollten dazu stehen: Wir haben etwas zu sagen!

KlimaSeniorin Pia Hollenstein: “Die Klimakrise ist ein massives Menschenrechtsproblem.“ Bild: zVg

Braucht es also nun vor allem Druck von Wissenschaftler*innen und von Basis-Initiativen wie den KlimaSeniorinnen?

Beides: Bottom-up, also Basisbewegungen, und Parlamentarier*innen. Vorschläge von Massnahmen zum Klimaschutz sollten vom Bundesrat (Exekutive) vorgeschlagen und vom Parlament (Legislative) verabschiedet werden. Diese können von der Wissenschaft, von NGO's oder auch mittels Volksinitiativen vorgeschlagen werden. Druck von ausserhalb vom Nationalen Parlament ist einer Realisierung immer förderlich.

Seit den 80er Jahren ist das Problem des Klimawandels bereits bekannt. Sie waren von 1991-2006 Mitglied im Nationalrat. Warum erkennen Schweizer Politiker*innen das Problem immer noch nicht an?

Vor 40 Jahren war der Klimawandel noch nicht so gravierend und es waren auch noch nicht so viele Fakten dazu bekannt. Es war noch nicht klar, dass der Klimawandel tatsächlich durch CO2 verursacht und vom Menschen gemacht ist. Das erklärt ein Stück, weshalb früher viel zu wenig gemacht wurde. Aber dass heute ungenügend gehandelt wird, hat mit der Veränderung der politischen Landschaft zu tun. Nicht weil diese oder jene Parteien grösser geworden sind, sondern weil in der Mitte Partei und FDP die Leute fehlen, die für das Allgemeinwohl eintreten. Mir kommt es vor, dass die FDP heute eher für ihre persönlichen Eigeninteressen, für die Wirtschaft, entscheidet, egal was mit der Umwelt passiert. Es sind nicht mehr die Staatsmänner und -frauen, die es brauchen würde, die sagen: Wir sind der Staat, wir müssen so und so für die Allgemeinheit handeln. Ulrich Bremi ist ein gutes Beispiel, der hat als Staatsmann gesagt: Hier muss man sozial sein und hier etwas für die Umwelt tun.

Früher war klar, wenn Bundesrat und Parlament „ja“ sagen zu einem Gesetz und es gibt ein Referendum, dann haben die Mitte Partei und FDP erklärt, wieso es das braucht. Beim CO2-Gesetz haben sie geschlafen und die SVP-Argumente haben so die Mehrheit bekommen.

Solange die Mitteparteien da nicht fähig sind, Gegengewicht zu geben - was sie lange noch nicht grün oder sozialistisch macht - wird sich in Bezug auf den Klimawandel nichts ändern. Das finde ich die tragische Tatsache im Vergleich zu früher.

Denken Sie, in Ihrer Amtszeit hätten Sie persönlich und Ihre Partei die GRÜNEN etwas anders machen können?

Ich glaube wir haben gemacht, was damals möglich war. Aber weil die anderen bürgerlichen Parteien die Dringlichkeit noch nicht begreifen wollten oder konnten, haben sie uns mit unseren Anliegen ins Leere laufen lassen. Sie haben uns nicht gesagt, warum wir falsch liegen oder uns widersprochen. Dadurch ist es allzu selten zu einer echten Debatte gekommen.

Waren diese frustrierenden Erfahrungen aus Ihrer Amtszeit ein Grund dafür den KlimaSeniorinnen beizutreten und die Klage zu unterstützen?

Ich habe eine Anfrage von Greenpeace erhalten, ob ich mitmachen will. Greenpeace hatte mit der renommierten Umweltkanzlei von Ursula Brunner abgeklärt, wie man den Staat überhaupt verklagen kann, da wir in der Schweiz kein Verfassungsklagerecht haben im Gegensatz zu anderen Ländern. Das Resultat war, dass man es in der Form eines Gesuchs machen kann. Streng juristisch haben wir also keine Klage eingereicht. Es hat mir eingeleuchtet, dass das eine sinnvolle Idee ist, gerade weil ich wusste, dass man in der Politik gemacht hat, was man konnte, aber man keine Mehrheiten gefunden hat.

Ausserdem hatte ich Lust, wieder für die Sache aktiv zu werden. Ich bin und bleibe eine politische Person und hatte mich nach meiner Parlamentszeit immer wieder aufregen müssen. Für mich ist ein Aufregen das Erste und das Zweite ein Handeln. Das Engagement als Vorstandsmitglied bei den KlimaSeniorinnen ist für mich auch eine Massnahme gegen die eigene Hilflosigkeit und Ohnmacht.

Sicher hat auch meine Einsicht beigetragen, dass unsere Generation eine grosse Verantwortung hat über das, was kommt – wir haben ja den Schlamassel zugelassen und produziert. Wir können uns gar nicht leisten, nichts zu tun. Symbolisch gesprochen: Auf einer brennenden Matratze einzuschlafen ist nicht lustig.

Bildnachweis: Die KlimaSeniorinnen bei der Ankündigung der Klimaklage vor dem EGMR am 27.10.2020. © Emanuel Büchler

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