Roslingundignoranztest small

Unsere Intuition macht uns zum Affen

Der Mensch ist klüger als der Affe – trotzdem besiegen uns Schimpansen bei Hans Roslings «Ignoranz-Test». Der Medizinprofessor aus Schweden will uns damit zeigen, wie schief unsere Sicht auf die Welt ist. Und wie wir sie wieder gerade rücken können.

Ein Wissenstest, bei dem Schimpansen besser abschneiden als die meisten Menschen? Ja, den gibt es. Erstellt hat ihn Hans Rosling, schwedischer Medizinprofessor und Entwickler von «Gapminder», einer Online-Plattform, welche der einfachen und verständlichen Visualisierung statistischer Daten dient – mit dem Ziel, eine faktenbasierte Sicht auf die Welt zu fördern. Denn Rosling hat früh erkannt, dass es mit dieser faktenbasierten Weltsicht nicht weit her ist, auch nicht unter Medienschaffenden oder Universitätsabgängern.

Den eindrücklichen Beweis dafür liefert er mit seinem «Ignoranz-Projekt». Dieses besteht aus einer Reihe kurzer Multiple-Choice-Fragen zu Kernaspekten der globalen Entwicklung, wie beispielsweise:

«Was ist heute die durchschnittliche Lebenserwartung auf der Welt?»

A) 70 Jahre

B) 60 Jahre

C) 50 Jahre

«1965 brachte jede Frau im Durchschnitt 5 Kinder zur Welt. Wie hoch ist die weltweite Geburtenrate heute?»

A) 4.5 Kinder

B) 3.5 Kinder

C) 2.5 Kinder

«Wie viele der einjährigen Kinder sind weltweit gegen Masern geimpft?»

A) 20 Prozent

B) 50 Prozent

C) 80 Prozent

Fragen also, auf die wir meist eine intuitive Antwort haben, mit der wir dann aber oft daneben liegen. Schlimmer noch: Wir liegen derart stark daneben, dass sogar Schimpansen bei den meisten Fragen besser abschneiden als wir – einfach deshalb, weil sie nach dem Zufallsprinzip antworten, während wir uns von unserer fehlerhaften Intuition über den Zustand der Welt verleiten lassen.

Während bei jeder Frage immerhin ein Drittel der Schimpansen «weiss», dass eine Frau heute durchschnittlich 2.5 Kinder bekommt, dass deren Lebenserwartung bei über 70 Jahren liegt und dass über 80% dieser Kinder gegen Masern geimpft werden, tippen wir Menschen meist systematisch daneben.

[Slideshow Rosling]

«Das Elend der Welt besteht in Vorurteilen»

Wir basieren unsere Annahmen nicht auf Fakten, sondern auf Vorurteilen. Denn unser Wissen über die Welt speist sich hauptsächlich aus unserer Schulbildung, unseren Alltagserfahrungen und aus den Tagesmedien – und damit aus Quellen, welche uns ein verzerrtes Bild der Welt vermitteln. Das ist keine Anklage, sondern eine Feststellung.

Vieles aus unserer Schulzeit ist nämlich längst überholt; unsere alltäglichen Erlebnisse sind nur in wenigen Fällen repräsentativ für die Welt als Ganzes; und die Medien haben die unschöne Tendenz, sich bevorzugt auf spektakuläre, aber seltene Ereignisse zu stürzen und überausführlich darüber zu berichten. Aus diesem Grund war die Ebola-Epidemie im vergangenen Jahr monatelang in den Schlagzeilen, während Malaria, AIDS oder Tuberkulose, drei der schrecklichsten Killer auf unserem Planeten, kaum Aufmerksamkeit erhielten.

Unser schiefes Weltbild

Doch ist es wirklich wichtig zu wissen, ob 60 Prozent oder 80 Prozent der Einjährigen geimpft sind? Ist das nicht ebenso unnütz, wie die Anzahl der Schönheitsoperationen in den USA zu kennen?

Der Einwand ist berechtigt. Und die einzelnen Antworten sind in der Tat irrelevant. Nicht jedoch das, was der Test illustriert: Die scheinbar systematische Verzerrung unserer Wahrnehmung der Welt.

Wir haben die Tendenz, die globale Situation schlechter zu sehen als sie ist; wir sehen eine zweigeteilte Welt, wo eigentlich fliessende Übergänge bestehen; und wir tendieren dazu, Risiken falsch einzuschätzen. Seltene, aber spektakuläre Ereignisse werden überschätzt; alltägliche, aber in der Summe grössere Risiken werden vernachlässigt. Wir haben Angst vor Ebola, aber nicht vor der Grippe.

Kein Wunder, dass wir beim Ignoranz-Test von den Schimpansen geschlagen werden. Denn unsere tierischen Verwandten können aufgrund fehlender Kenntnisse über das Weltgeschehen keine falsche Intuition aufbauen – sie entscheiden rein zufällig. Wir hingegen verlassen uns beim Beantworten der Fragen auf unsere verzerrte Sicht von der Welt und tippen damit erfolgreich daneben. Oder in den Worten Roslings: «The chimp doesn't watch the evening news».

Fakten statt Vorurteile

Plattformen wie Gapminder können uns aber dabei helfen, unsere schiefen Vorstellungen ein Stück weit gerade zur rücken. Welche überraschenden Einsichten sich dabei ergeben können, zeigt der «praktische Possibilist» Rosling bereits seit Jahren im Rahmen seiner ausgesprochen unterhaltsamen Vorträge:

Hat Religion tatsächlich einen Einfluss auf die Geburtenrate? Kaum. Nimmt das Gefälle zwischen armen und reichen Ländern wirklich zu? Im Gegenteil. Eine der nützlichsten Erfindungen des vergangenen Jahrhunderts? Die Waschmaschine!

Und Rosling schreckt auch nicht vor vollem Körpereinsatz zurück. So betätigt er sich schon mal als Schwertschlucker, um zu beweisen, dass das scheinbar Unmögliche eben doch möglich ist. Oder er hält einem dänischen Journalisten die Füsse unter die Nase, um diesem vor Augen zu führen, wie verzerrt dessen Sicht auf die Welt ist.

Roslings wundervoller Abschlusssatz: «An diesen Fakten gibt es nichts zu diskutieren. Ich habe Recht, Sie liegen falsch.» Und er hat Recht: Mit seiner Medienschelte, seinen aufklärerischen Idealen und seinem Ruf nach Fakten statt Vorurteilen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 19. Januar 2016 auf dem Science Blog von NZZ Campus.

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Präsidium, Fundraising

Servan Grüninger ist Mitgründer und Präsident von Reatch. Er hat sein Studium mit Politikwissenschaften und Recht begonnen und mit Biostatistik und Computational Science abgeschlossen. Zurzeit doktoriert er am Institut für Mathematik der Universität Zürich in Biostatistik. Weitere Informationen: www.servangrueninger.ch.

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