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Die aktuelle Situation rund um die Coronavirus-Epidemie entwickelt sich rasant. Am 25. Februar berichtete das Bundesamt für Gesundheit vom ersten Schweizer Corona-Fall. Gut zwei Wochen später, am 13. März 2020, hatte die Schweiz bereits über 1000 bestätigte Fälle. Der Bundesrat reagierte noch am gleichen Tag mit einer Reihe verschäfter Präventionsmassnahmen, doch mit an Sicherheitheit grenzender Wahrscheinlichkeit werden die Infektionszahlen in den kommenden Tagen und Wochen massiv ansteigen.
Lange haben sich viele über die COVID-19-Epidemie lustig gemacht. Mit der zunehmenden Eskalation, insbesondere in Italien, ist der Ernst der Lage aber für viele greifbar geworden.
Warum ist es uns so schwer gefallen, die Situation früher zu erfassen? Und warum werden wir immer noch von der Geschwindigkeit, mit welcher sich die Epidemie entwickelt, überrascht?
Gerade in einer konfusen Situation wie dieser lohnt es sich, die gedanklichen Modelle, durch welche wir die aktuellen Ereignisse interpretieren, auf den Prüfstand zu stellen. So können wir uns vergewissern, dass wir so klar wie möglich über das Problem nachdenken. Hier kommt die Systemtheorie ins Spiel.
Die Systemtheorie versucht komplexe Vorgänge zu erklären. Im Folgenden klaube ich vier Erklärungsansätze aus dieser systemtheoretischen Werkzeugkiste im Versuch, die Dynamik der Coronavirus-Epidemie besser zu verstehen. Diese Erklärungsansätze helfen auch zu erklären, warum Epidemiologen und Public-Health-Experten die aktuellen Entwicklungen mit grosser Sorge betrachten.
Exponentielles Wachstum: Woher kommen plötzlich all diese Fälle?
In Italien ist die Zahl der diagnostizierten Fälle innerhalb von nur 34 Tagen von einem auf weit über 3’000 angestiegen. In den ersten 21 Tagen wurden drei Fälle diagnostiziert, die restlichen knapp 3’000 wurden innerhalb von weniger als zwei Wochen gezählt. Die meisten Italienerinnen und Italiener dürften nicht damit gerechnet haben, dass die Zahl der diagnostizierten Fälle so rasch ansteigt. Zuletzt verdoppelte sich die Zahl der bestätigten Fälle in Italien alle vier Tage.
Eine Verdoppelung alle vier Tage – ist das wirklich so dramatisch?
Die Fabel vom listigen Erfinder, welcher vom Kaiser eine kleine Entschädigung zu Gute hatte, hilft das Problem zu illustrieren. Er wollte lediglich ein Reiskorn auf dem ersten Feld eines Schachbretts, zwei Körner auf dem zweiten Feld, vier Körner auf dem dritten: jedes Feld erhielt die doppelte Anzahl des vorhergehenden Feldes, bis alle 64 Felder des Schachbretts gefüllt waren. Der Kaiser lachte angesichts dieses bescheidenen Vorschlags, willigte ein und realisierte zu spät, dass, was mit einem Reiskorn angefangen hatte, mit einem Reisberg von der Grösse des Mount Everest enden würde.
Der Autor Ray Kurzweil prägte mit Blick auf die Kraft von Exponentialfunktionen den Begriff der «zweiten Hälfte des Schachbretts». In der ersten Hälfte sind die Auswirkungen gross, aber überschaubar. In der zweiten Hälfte des Schachbretts geraten die Dinge so richtig ausser Kontrolle. Exponentielles Wachstum überrascht uns immer wieder, weil wir dafür schlicht keine gut kalibrierte Intuition zu haben scheinen.
Was heisst das nun im Zusammenhang mit der Coronavirus-Epidemie? Wir sind gut beraten alles erdenkliche zu tun, um nicht in die «zweite Hälfte des Schachbretts» zu geraten. Eine kleine Anzahl von COVID-19-Fällen ist bei exponentieller Zunahme kein kleines Problem. Ohne Massnahmen, die eine weitere exponentielle Zunahme verhindern, mutiert eine vermeintlich bescheidene Anzahl Fälle innert Kürze zu einem beträchtlichen Problem. Aber weil es uns so schwer fällt, uns exponentielles Wachstum vorzustellen, neigen wir dazu die Gefahr zu unterschätzen, die von einer anfänglich kleinen Anzahl von Fällen ausgeht (siehe hierzu auch die Erklärung des Schweizer Epidemiologen Marcel Salathé).
Das exponentielle Wachstum jeder Infektion kann zwar nicht ewig andauern, schlicht weil die Anzahl Wirte endlich ist. Exponentielles Wachstum ist aber der Grund, warum frühzeitiges und robustes Eingreifen gerechtfertigt sein kann.
Die Logik ist bei allen unerwünschten Entwicklungen mit exponentieller Wachstumsrate immer die gleiche: Man sollte sie frühzeitig im Keim ersticken. Frühes Handeln ist günstiger und einfacher zu bewerkstelligen als eine verspätete Reaktion, welche dann viel grössere Problem lösen muss.
Kipppunkte: Alles war doch gerade noch in bester Ordnung – und jetzt ist hier die Hölle los?
Komplexe Systeme haben in der Regel sogenannte «Kipppunkte». Bis zum Kipppunkt scheint ganz normal zu funktionieren und plötzlich schlägt alles um.
Nehmen wir Intensivstationen in Krankenhäusern als Beispiel. Eine Epidemie beginnt und die Intensivstationen füllen sich mit schwerkranken Patienten. Alles ist soweit unter Kontrolle. Wir können die Patienten versorgen und es besteht keine Notwendigkeit in Panik zu verfallen oder kostspielige Massnahmen zur Eindämmung der Epidemie einzuführen.
Alles ist in Ordnung — bis wir einen Kipppunkt erreichen und aufgrund der hohen Fallzahlen nicht mehr genügend Beatmungsgeräte haben. Oder der Vorrat an Schutzmasken aufgebraucht ist. Oder zu viele Ärztinnen und Pfleger selbst erkranken und nicht mehr arbeiten können.
Sobald das geschieht, ändert sich die Situation schlagartig: Patienten sterben, weil sie nicht mehr die notwendige Behandlung erfahren.
Stellen wir uns eine Badewanne vor, die sich langsam mit Wasser füllt. Alles ist in bester Ordnung, bis die Wanne plötzlich überläuft und das Bad überschwemmt wird. Wenn wir uns erst Sorgen machen, wenn die Wanne übergelaufen ist, dann ist es zu spät.
Die gleiche Logik gilt auch für Lieferketten. Viele Unternehmen halten einen gewissen Vorrat an den von ihnen benötigten Materialien, um bei einem Lieferunterbruch eine Zeit lang weiterarbeiten zu können. Die Tatsache, dass sie ohne Nachschub noch kurzfristig funktionieren können, sagt aber nur wenig darüber aus, wie belastbar das System mittelfristig ist. Denn zwangsläufig wird der Punkt kommen, wo gewisse Materialien knapp werden und Güter nicht mehr wie normal verarbeitet werden können – mindestens so lange, bis das ganze System Zeit hat, sich anzupassen. Alles kann eine Zeit lang gut funktionieren, bis die Dinge vermeintlich überraschend zusammenbrechen.
Verzögerungseffekte: Wir haben doch all diese Massnahmen eingeführt, warum wird es trotzdem immer noch schlimmer?
Verzögertes Feedback macht alles schwieriger. Köche ziehen aus diesem Grund Gas- den Elektroherden vor. Beim Elektroherd besteht eine Verzögerung zwischen dem Rauf- bzw. Runterregeln am Drehknopf und der Veränderung der Temperatur. Gasherde haben diese Verzögerung nicht, die Temperatur ändert sich sofort. Ohne Verzögerung lässt sich besser kochen. Auch bei der aktuellen Coronavirus-Epidemie haben wir mit mindestens zwei Verzögerungseffekten zu kämpfen.
Erstens hinkt die bekannte Fallzahl immer der tatsächlichen Zahl der aktuell mit dem Coronavirus infizierten Personen hinterher. Diagnostiziert werden kann nur wer infiziert wurde, die Inkubationszeit hinter sich gebracht hat, Symptome entwickelt und die Testresultate erhalten hat.
Die Menschen, die heute positiv auf das Coronavirus getestet werden, haben sich mehrheitlich vor einer Woche oder früher damit angesteckt. Die tagesaktuelle Zahl der identifizierten Coronavirus-Fälle gibt deswegen nur eine bereits vergangene Realität wieder, was die tatsächliche Anzahl an infizierten Personen anbelangt.
Es ist, wie wenn wir im Nachthimmel einen Stern betrachten: Das Licht braucht einige Zeit, bis es bei uns ankommt. Wir sehen deshalb immer ein bereits vergangenes Abbild des Sterns und nicht seinen gegenwärtigen Zustand.
Zweitens zeigt sich die Wirksamkeit von Massnahmen aus dem gleichen Grund auch erst mit einiger Verzögerung. Wie wirksam beispielsweise «Social Distancing» sein wird, d.h. bewusstes Abstandhalten, Verzicht auf Händeschütteln und Küsschen sowie die generelle Reduktion von sozialen Kontakten, werden wir nicht sofort erfahren. Wegen der mehrtägigen Inkubationszeit wird erst nach einigen Tagen bzw. Wochen sichtbar, ob und wie eine Intervention nützt. Italien hat am 4. März 2020 landesweite Schulschliessungen beschlossen. Ob diese wirksam sind, wird sich erst mit einer Verzögerung von einer Woche oder mehr zeigen.
Die wichtigste Implikation dieser Verzögerungseffekte – insbesondere in Kombination mit exponentiellem Wachstum – ist die Notwendigkeit des frühzeitigen Handelns. Zudem müssen die von uns heute ergriffenen Massnahmen dem Ausmass des Problems von morgen entsprechen.
Oder etwas überspitzt ausgedrückt: Um auf Covid-19 angemessen zu reagieren, braucht es Massnahmen, die wie eine Überreaktion wirken.
Hebelpunkte: (relativ) kleine Änderung, (relativ) grosse Wirkung
Ein weiteres Merkmal komplexer Systeme ist, dass es in der Regel «Hebelpunkte» gibt. Hebelpunkte sind Interventionen, welche eine überdimensionale Wirkung haben können. Diese Wirkung kann sich bei der Covid-19-Epidemie in zwei entgegengesetzte Richtungen entfalten.
Wenn wir die Verbreitung des Coronavirus schnell und kostengünstig befeuern wollten, wären wir gut beraten, Massenversammlungen zu fördern. Wenn wir das Gegenteil erreichen möchten, fördern wir hingegen «Social Distancing» und vermehrtes Händewaschen.
«Hebelpunkte» sind Massnahmen, welche die Dynamik eines ganzen Systems zu beeinflussen vermögen. Manchmal sind diese offensichtlich zu erkennen, oft braucht es aber die Augen von Experten, um zu erkennen, wo diese Hebelpunkte sind. Denn unsere Intuition ist in Bezug auf Hebelpunkte nicht immer gut kalibriert. Vermehrtes Händewaschen kann zum Beispiel eine viel grössere Wirkung entfalten, als wir vermutlich annehmen würden.
Weitere wahrscheinlich wirksame Hebelpunkte sind Reisebeschränkungen und die frühzeitige Isolierung von Verdachtsfällen. Reisebeschränkungen verhindern eine geografische Ausbreitung und ermöglichen es, dass die zur Bekämpfung eingesetzten Mittel auf ein bestimmtes Gebiet fokussiert werden können. Die frühe Isolierung von Verdachtsfällen verhindert weitere Ansteckungen. Diese Massnahmen können, besonders wenn sie frühzeitig eingesetzt werden, grosse Wirkung entfalten.
Diese vier Erklärungsansätze können uns helfen, die Coronavirus-Epidemie, in welcher wir sind, besser zu verstehen. Die vier Effekte sind der allgemeinen Systemtheorie entnommen und darum nicht nur für Epidemien gültig. Auch die Wirtschaft ist ein solches komplexes System und wir werden mit Ausnahme des exponentiellen Wachstums dort die gleichen Effekte beobachten. Auch das Ausmass der Auswirkungen auf die Wirtschaft wird erst mit einer Verzögerung zu erfassen sein. Die unmittelbare Abwendung von Gefahr an Leib und Leben geht aber ganz offensichtlich vor. Gerade in unübersichtlichen Lagen ist es besonders wichtig, den Charakter der Situation richtig zu erfassen. Die vier Erklärungsansätze können uns nicht nur helfen, klar über die Entwicklung der Coronavirus-Epidemie nachzudenken, sondern können auch unsere individuellen und kollektiven Antworten darauf leiten.
Drei weiterführende Lese-, Hör- und Spielempfehlungen:
- Für eine zugängliche Einführung in die Systemtheorie: das Buch «Thinking in Systems - A Primer» von Donella H. Meadows und der «The clock and the cat»-Podcast von Mark Foden
- Für eine visuelle und interaktive Erklärung der Dynamik von Epidemien: «Going Critical» von Kevin Simler
- Zwei Schweizer Epidemiologen, welchen Sie auf Twitter folgen sollten, sind Marcel Salathé und Christian Althaus
Ich bin allen zu Dank verpflichtet, welche sich die Zeit genommen haben, Entwürfe dieses Essays gegenzulesen. Mein besonderer Dank gilt Yaneer Bar-Yam für seine detaillierten Kommentare sowie Ivo Scherrer, Olivia Meier und Servan Grüninger für die Durchsicht der deutschen Fassung. Alle verbleibenden Fehler sind selbstverständlich meine Verantwortung.
Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.
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